Die Schweden haben sich entschieden
Von MYCLE SCHNEIDER *
NACH jahrelanger Unentschlossenheit hat die Regierung in Stockholm einen entscheidenden Schritt in Richtung Ausstieg aus der Atomenergie gemacht, der mit dem Jahr 2010 vollzogen sein soll. Diese Frist hatte das schwedische Parlament bereits nach dem Referendum von 1980 festgesetzt. Damals sprachen sich 58 Prozent der Bevölkerung, unter dem Schock des schweren Unfalls zwei Jahre zuvor im US-amerikanischen Atomkraftwerk von Three Miles Island, gegen jede Erweiterung des Atomkraftprogramms aus. Es wurde beschlossen, das Programm auf die zwölf in Betrieb oder in Bau befindlichen Kernkraftwerke zu beschränken und ihre Betriebsdauer auf fünfundzwanzig Jahre festzusetzen.1
Im Februar 1997 legte die Regierung das Stillegungsdatum der zwei Reaktorblöcke von Barsebäck für Mitte 1998 bzw. Mitte 2001 fest. Die beiden 1975 bzw. 1977 in Betrieb genommenen Kraftwerke zählen zu den ältesten und kleinsten (je 600 Megawatt Leistung), das Jahresbudget für Wartung, Inspektion und Modernisierung mußte von 50 Millionen schwedischen Kronen (ca. 11,5 Millionen Mark) auf 250 Millionen aufgestockt werden. Außerdem forderte Dänemark schon seit geraumer Zeit, dieses nur wenige Kilometer von Kopenhagen entfernte Kraftwerk stillzulegen. Nach jahrelangen Diskussionen um den Ausstieg aus der Atomenergie kam diese Entscheidung ziemlich überraschend: Seit dem stillschweigenden Verzicht Italiens auf Atomstrom (im Windschatten des fünfjährigen Moratoriums, das im Dezember 1987 vom Parlament beschlossen und danach nie wieder in Frage gestellt worden war) ist dies das erste Mal, daß ein Atomkraftwerk aufgrund einer politischen Entscheidung geschlossen wird.
Im September 1996 erklärte der schwedische Ministerpräsident Goran Persson: „Der Ausstieg aus der Atomenergie muß in dieser Legislaturperiode beginnen und in einem gleichmäßigen Tempo vorangetrieben werden.“ Am 14. März 1997 legte die Regierung dem Parlament einen Gesetzentwurf vor, der auf dem am 4. Februar 1997 zwischen der Sozialdemokratischen Partei, der Zentrumspartei (die ehemalige Bauernpartei) und der Partei der Linken (Exkommunisten) geschlossenen Vertrag basiert. Dieser Entwurf mit dem Titel „Für eine nachhaltige Energieversorgung“ wurde am 10. Juni 1997 verabschiedet. Aus seinem Wortlaut geht klar hervor, daß sich die Überlegungen und Maßnahmen nicht allein auf die Atomenergie oder die Elektrizität, sondern auf die Energieversorgung insgesamt beziehen.
Bis zum letzten Moment wehrten sich Industrie und Elektrizitätsgesellschaften. In einer großangelegten Werbekampagne argumentierten sie mit der Verschwendung öffentlicher Gelder, der drohenden Abhängigkeit von Importen und den zu erwartenden Strompreiserhöhungen. Obwohl die beiden Reaktoren im Jahre 1996 zusammen 7,9 Terrawattstunden (TWh)2 produzierten, verfügt das Land noch über eine beträchtliche Energiereserve bzw. Überkapazität. Deshalb kam es auch 1995, als mitten im Winter aus Sicherheitsgründen fünf der zwölf Reaktoren abgeschaltet werden mußten, zu keinerlei Engpässen in der Energieversorgung.
Das erklärt auch, warum der Elektrizitätsversorgungsmarkt durch die angekündigten Schließungen keinerlei Schaden erlitten hat. Und die Preise sind nicht etwa gestiegen, sondern trendgemäß sogar noch weiter gefallen, um schließlich nur vier Tage nach dem Regierungskommuniqué auf dem niedrigsten Niveau seit dreizehn Monaten anzukommen. Und auch die staatliche Elektrizitätsgesellschaft Vattenfall hat den Bau des Unterwasserkabels von Schweden nach Polen keineswegs eingestellt und geht davon aus, auf diesem Wege jährlich 2 bis 4 TWh zu exportieren – mit oder ohne Barsebäck.3
Der Widerstand der Elektrizitätswirtschaft wird durch Sydkraft, die Betreiberfirma des Kraftwerks von Barsebäck, organisiert, an der die deutschen Firmen PreussenElektra und HEW (die beide in Deutschland Atomkraftwerke betreiben) knapp 30 Prozent der stimmberechtigten Aktien besitzen. Sydkraft und PreussenElektra exportieren zudem gemeinsam Strom von Schweden nach Norddeutschland. Die zunehmende Internationalisierung des Stromsektors führt dazu, daß die Firmen sich in ihrem Geschäftsgebaren nicht ausschließlich an nationalen Interessen orientieren. So haben die Entscheidungsträger von Sydkraft der schwedischen Regierung gedroht, vor den Europäischen Gerichtshof zu gehen.4 Das Aktionsprogramm, das die Regierung anläßlich der angekündigten Stillegung von Barsebäck verabschiedet hat, reicht weit über bloße Maßnahmen zur Substitution von Energiequellen hinaus, durch die sich die Produktionskapazitäten auf dem gegenwärtigen Stand halten lassen. Vielmehr will sie „den Stromverbrauch für Heizzwecke verringern“, „das vorhandene Elektrizitätssystem effizienter nutzen“ und „den Anteil der Strom- und Wärmeversorgung aus erneuerbaren Energiequellen steigern.“
Erdgas statt Atomstrom
WÄHREND in Frankreich die elekrische Heizung als „Trojanisches Pferd für die Atomkraft“5 gilt, ist sie in Schweden eher die Gralshüterin der atomaren Energie. In Frankreich diente die elektrische Heizung dazu, die Schaffung von überdimensionierten Produktionskapazitäten zu rechtfertigen, die man anschließend zu Schleuderpreisen auf dem Markt anbieten oder exportieren mußte.6 In Schweden ist es unmöglich, auf Atomenergie zu verzichten, ohne die elektrische Heizung in Frage zu stellen (was in Frankreich auch der Fall wäre, würde man dort eines Tages den gleichen Weg einschlagen). Etwa 700000 Einzelhäuser und 15000 Wohnhauskomplexe verbrauchen mehr als 30 TWh, das heißt knapp die Hälfte der produzierten Atomenergie oder mehr als 20 Prozent der gesamten Stromerzeugung des Landes.
Die Hauptmaßnahmen des staatlichen Programms betreffen daher konsequenterweise auch die Heizsysteme. Innerhalb der nächsten fünf Jahre sind 1,65 Milliarden Kronen für die Anbindung von Privathaushalten an das Fernwärmenetz vorgesehen, was Einsparungen von etwa 1,5 TWh bringen soll. Das durch die Umstellung anfallende Sparpotential schätzt man in bezug auf die entfallende Elektroheizung auf 12 TWh, dazu kommen noch etwa 24 TWh durch Spareffekte bei Öl- und anderen Heizungssystemen. Es bleibt also noch viel zu tun. Die Koppelung von Kraft- und Wärmeerzeugung, die den Energienutzungsgrad verdoppeln kann, wird stark gefördert, und für die Nutzung von Biomasse stellt der Staatshaushalt 450 Millionen Kronen bereit.
Aus dieser Quelle werden in den nächsten fünf Jahren vermutlich zusätzliche 0,75 TWh zur Verfügung stehen. Am Ende dieses Zeitraums kämen noch 0,5 TWh/Jahr aus dem mit 300 Millionen Kronen geförderten Programm für Windkraftwerke hinzu sowie 0,25 TWh aus Mikro-Wasserkraftwerken, die mit 150 Millionen Kronen subventioniert werden. Für den Ankauf von Einrichtungen, die mit den modernsten Technologien auf dem Gebiet der erneuerbaren Ressourcen arbeiten, sind 100 Millionen Kronen vorgesehen. Neben der Angebotsseite wird auch die Nachfrageseite mit 800 Millionen Kronen gefördert, die für Verbraucherinformation und die Finanzierung von kommunalen Beratungsdiensten für Energiefragen ausgegeben werden. Der Ausbau der Grundlagen- wie der angewandten Forschung über Energiesysteme wird verstärkt und in den nächsten sieben Jahren mit über 5 Milliarden Kronen subventioniert.
Im Januar 1995 hatte die französische staatliche Stromgesellschaft EDF von der Stadt Halmstad 10 Prozent des Kapitals der Sydkraft, der Betreiberin von Barsebäck, gekauft. Im November 1996 verkaufte die EDF ihre Anteile allerdings an die norwegische Stromgesellschaft Statkraft weiter, wobei sie 1,1 Milliarden Kronen Gewinn machte. Um ein Haar wäre es also passiert, daß die Elektrizitätsgesellschaft mit dem höchsten Anteil nuklear erzeugter Energie in die Lage gekommen wäre, zwei ihrer Atommeiler im Zuge eines staatlich beschlossenen Programms zum Ausstieg aus der Atomenergie abzuschalten.
dt. Andrea Marenzeller
*Direktor des World Information Service on Energy (WISE), Paris.