16.01.1998

Machtspiele zweier Konfessionen

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Machtspiele zweier Konfessionen

Von ANDRÉ LINARD *

DIE Kirche ist voll an diesem Sonntag, und die Türen bleiben offen. „In meiner Kirche sage ich, was ich will“, versichert der Pfarrer. „Ich weiß aber, daß alles überwacht wird.“ Den Informanten müssen die Ohren klingen, wenn sie die Gläubigen singen hören: „Am glücklichsten ist nicht, wer die Macht besitzt, noch der, der von ihr besessen ist.“ Wissen die Kirchgänger denn, was sie hier singen? Zur Antwort lächelt der Priester nur. Katholiken und Kommunisten tolerieren sich in Kuba, doch sie trauen sich nicht über den Weg: Es herrscht keine Begeisterung, sondern das strategische Kalkül der beiden Institutionen Kirche und Staat, die sich vom Dialog beiderseitige Vorteile erhoffen.

Die kubanische Revolution hat den Atheismus nie eindeutig zum Prinzip erhoben, sondern eher auf die situationsbedingten politischen Gründe ihrer Feindschaft gegenüber der katholischen Kirche verwiesen, die den Gegnern der Revolution nahestand. Die kubanische Kommunistische Partei verstand sich zum Zeitpunkt der Revolution 1959 als atheistisch und erklärte, es gebe keinen Gott. „Wir erwarteten nicht, daß jedes Parteimitglied unbedingt Atheist sein müsse“, erklärte Fidel Castro in einem Interview, das er 1985 Frei Betto gewährte.1 „Es ging nicht gegen die Religion an sich. Doch wir forderten ein umfassendes, klares Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus (...) in all seinen Aspekten: nicht nur politisch und programmatisch, sondern auch in philosophischer Hinsicht.“ Zwar wurde niemand verfolgt oder „zum Schweigen gebracht“ wie anderswo. Doch die katholische Kirche war zweifellos geschwächt, sie verlor einen Teil ihres Klerus und ihre Schulen, es herrschte eine Atmosphäre der Feindseligkeit, und es kam zu Auseinandersetzungen. Die Gläubigen gingen unauffällig zur Messe, doch als Christen blieben sie verdächtig. Kinder, die am Religionsunterricht teilnahmen, mußten in der Schule mit Strafen rechnen. Die meisten praktizierenden Katholiken waren Gegner des Kommunismus und wurden folglich als „Konterrevolutionäre“ angesehen. Die Regierung weigerte sich, die Kirche als Gesprächspartnerin anzuerkennen und ihr einen Status als autonome Einrichtung zuzugestehen. Einzig mit den Vertretern des Heiligen Stuhls unterhielt man Beziehungen.

Ereignisse wie das Zweite Vatikanische Konzil, das zu einer stärkeren Öffnung der Kirche gegenüber einer pluralistischen Welt führte, oder die Konferenz im kolumbianischen Medellin 1968, bei der die Kirche sich auf den sozialen Wandel verpflichtete, wirkten sich nach und nach auch in der kubanischen Kirche aus: 1969 erschien ein Hirtenbrief, in dem sich der Episkopat von den Exilkubanern distanzierte.

Die kommunistische Führung verstand die Botschaft. Fidel Castro erklärte öffentlich, er sehe keinen Widerspruch zwischen einer Beteiligung an der Revolution und dem religiösen Bekenntnis. Er gab dem brasilianischen Befreiungstheologen Frei Betto ein langes Interview, das in dem Buch „Fidel y la religión“ wiedergegeben wurde, massive Verbreitung fand und für die Zukunft wegweisend war. Zum Teil war diese Wendung auf die Einsicht zurückzuführen, daß die Religion in der Gesellschaft nach wie vor verankert war und daß es hätte gefährlich werden können, sie zu bekämpfen. Indirekt spielte aber auch die Beteiligung von Christen an der sandinistischen Revolution in Nicaragua und später am revolutionären Kampf in Salvador eine Rolle. Dennoch sollte es bis zum 4. Kongreß der Kubanischen Kommunistischen Partei (PCC) 1991 dauern, bis die Überzeugung des Staatschefs zur Basis durchdrang und jede Form von Diskriminierung aus religiösen Motiven bei der Parteimitgliedschaft abgeschafft wurde.

Die katholische Kirche hatte ihrerseits 1986 das Nationale Kubanische Kirchentreffen (ENEC) organisiert, auf dem zwar betont wurde, Kuba sei ein christlicher Staat, gleichzeitig aber auch dem realen Zustand der kubanischen Gesellschaft und nicht nur dem Wunschbild der Kirche Rechnung getragen wurde. In der Schlußerklärung wurde sogar im einzelnen aufgeführt, welchen Beitrag „der Sozialismus zum Glauben leisten kann“: Er fördere das Bewußtsein für die soziale Dimension der Sünde, die Wertschätzung der Arbeit, die Einsicht, daß ein struktureller Wandel vonnöten sei, eine breitere Solidarität und anderes.2 Diese Sprache, die zwanzig Jahre zuvor noch unvorstellbar gewesen wäre, stieß bei den Exilkubanern auf wenig Verständnis.

Unabhängig von der klaren Zielsetzung der ENEC hatte schon die vorhergehende Entwicklung die Katholiken davon überzeugt, daß sie eine völlig neue gesellschaftliche Rolle spielen konnten. Die katholische Kirche wurde dadurch zu einer Institution, die nicht übergangen werden kann, die über eigene Strukturen im ganzen Land verfügt und als einzige in der Lage ist, mit dem Staat in Konkurrenz zu treten.

Nach dem 4. Kongreß der Kommunistischen Partei 1991 und den Verfassungsänderungen 1992 verbesserten sich die Beziehungen zwischen Kirche und Staat, und vor allem eroberten sich sowohl die katholische wie die protestantische Kirche wieder einen Platz in der Gesellschaft und entwickelten neue Stärke. Ihre öffentlichen, genehmigten religiösen Veranstaltungen sind rege besucht.

Doch Entspannung heißt noch nicht Einvernehmen. Insbesondere mit dem Hirtenbrief „El amor, todo lo espera“ („Die Liebe erwartet alles“)3 erregte die Kirche 1993 den Zorn der Behörden. Einerseits beschreiben die Bischöfe sehr offen „die Ausschließlichkeit und Allgegenwärtigkeit der offiziellen (...) zentralistischen, alles umfassenden Ideologie“, „die übermäßige Kontrolle durch die Organe der Staatssicherheit“, „die große Zahl Gefangener“, „den Verfall des moralischen Klimas“ und ähnliches. Gleichzeitig verurteilen sie das gegen Kuba verhängte Embargo, das „unter dem Vorwand, die Regierung zu bestrafen, nur dazu beiträgt, der Bevölkerung das Leben noch schwerer zu machen“. Die Bischöfe weigern sich jedoch, darin die Ursache allen Übels zu sehen. Schließlich rufen sie zum Dialog mit allen Teilen der kubanischen Gesellschaft einschließlich der Exilkubaner auf und empfehlen die Kirche als Ort und treibende Kraft der Wiederversöhnung.

Nach Ansicht des Religionssoziologen Aurelio Tejada beinhaltet der Hirtenbrief einen Aufruf „zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft mit Zielsetzungen, die sich von denen des politischen Systems unterscheiden“.4 Darin drücke sich eine Entwicklung aus: Während 1986 eine Anpassung an das sozialistische Projekt angestrebt worden sei, gehe es 1993 um die „Definition eines alternativen Projekts.“5

Insgesamt führen die neuen Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und der kubanischen Regierung zu einer Rivalität auf sozialem Gebiet. Jede Seite verfolgt ihre eigene Strategie, weiß aber auch, daß sie sich besser nicht offen mit der anderen anlegt.

Seit der Katholischen Sozialwoche im November 1994 ist die Kirche „nach der Partei die stärkste Einrichtung und verhält sich wie eine Macht gegenüber einer anderen. Mit der kürzlich erfolgten Ernennung von Mgr. Ortega zum Kardinal dürfte sich dieser Trend weiter verstärken“, erklärt ein Jesuit. Die Errichtung einer katholischen „Säule“ in der Gesellschaft, durch die Gründung eines eigenen Presseverbandes und einer Bewegung katholischer Akademiker sowie der Kommission „Gerechtigkeit und Frieden“, bestätigt die Einschätzung des Jesuiten.

Taktische Manöver auf beiden Seiten

DIESER institutionelle Ansatz geht einher mit sehr interessanten Überlegungen zum Begriff der Zivilgesellschaft und deren Beitrag zur Demokratie.6 Die Kirche betont die Notwendigkeit von Vermittlungsinstanzen, die die Belange der Bevölkerung vertreten, und verteidigt die Gleichwertigkeit von gesellschaftlichen und individuellen Rechten. Ihr geht es im Dialog mit dem Staat nicht um das Recht der Katholiken, in die Kommunistische Partei einzutreten, sondern um die Veränderung der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist der Besuch von Papst Johannes Paul II. im Januar 1998 zu sehen; er ist möglich geworden, weil sich sowohl der kubanische Episkopat und der Heilige Stuhl als auch die politische Führung in Havanna Vorteile davon versprechen.

Die kubanischen Bischöfe werden nicht müde, auf die rein seelsorgerischen Anliegen der Papstreise hinzuweisen. Sie betonen, Johannes Paul II. werde die „Einheit unter den Kubanern unabhängig von ihrer jeweiligen Einstellung“ fördern und einen Beitrag zur Wiederversöhnung leisten – unter der Ägide der Kirche, wie sie damit stillschweigend zu verstehen geben. Die kubanische Kirche hofft, sich durch die Mobilisierungen rund um den Papstbesuch endgültig als wichtiger Gesprächspartner gegenüber dem Staat und als Alternative zur Revolution zu profilieren.

Dem Papst seinerseits dürfte es gefallen, daß er Gelegenheit erhält, seinen Antikommunismus ins Zentrum des noch existierenden Kommunismus zu tragen und mit seinem Charisma gegen Fidel Castro auf dessen eigenem Terrain anzutreten.

Warum aber geht die kubanische Regierung dieses Risiko ein? Weil sich Castro mehr Vor- als Nachteile von der Papstreise erwartet. Er benötigt Unterstützung im eigenen Land und möchte sich mit der katholischen Welt aussöhnen. Die am 14. Dezember verkündete Entscheidung, Weihnachten wieder zum Feiertag zu machen – das Fest war 1969 abgeschafft worden –, bedeutet in dieser Hinsicht ein nicht zu unterschätzendes Entgegenkommen. Als Staatschef, und erst recht in seiner Situation internationaler Isolation, könnte ihm das Treffen mit dem Papst eine gewisse Anerkennung und ein höheres Maß an Legitimität verschaffen. Dies gilt um so mehr, als sich der Papst mittlerweile zu einem akzeptablen Gesprächspartner gewandelt hat. Sein Kreuzzug gegen den Kommunismus, der in den achtziger Jahren von heftigen Angriffen gegen die „Befreiungstheologie“ begleitet war, ist einer ausgewogeneren Haltung gewichen, die ihn häufig die Übeltaten des „ungezügelten Kapitalismus“, anprangern läßt.

Als jüngstes Beispiel dafür mag gelten, was er während seines Besuchs in Brasilien im Oktober 1997 gegenüber Präsident Fernando Henrique Cardoso erklärte: „Das soziale Ungleichgewicht, die ungleiche und ungerechte Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen, die in den Städten und auf dem Land zu Konflikten führt, die Notwendigkeit des weiteren Ausbaus gesundheitlicher und kultureller Grundeinrichtungen, das Problem der verwahrlosten Kinder in den Großstädten, um nur ein paar Punkte zu zitieren – all dies stellt eine gewaltige Aufgabe für die Regierung dar.“7 Darüber hinaus hat die katholische Kirche auf allen Ebenen Stellung gegen das von den USA über Kuba verhängte Embargo bezogen. Der máximo lider sammelt somit Punkte gegenüber den Gegnern seines Regimes.8 Doch das Spiel ist riskant, und der umstrittene Fidel Castro hat vielleicht nicht die besten Karten in der Hand. Das Gleichgewicht der Interessen führt nicht notwendig dazu, daß beide Seiten im gleichen Maße Vorteile gewinnen.

Eine Partei kann sich schon jetzt zu den Verlierern zählen: die großenteils im Exil lebende radikale Opposition, die eine völlige Isolation der Castro-Regierung befürwortet. Die politische Konjunktur steht auch deswegen ungünstig für sie, weil sie mit Mas Canosa, der am vergangenen 23. November in Miami gestorben ist, ihren unerbittlichsten Führer verloren haben. Da sie nicht verhindern können, daß Fidel Castro aus dem Papstbesuch neue Legitimität bezieht, werden sie ihre Enttäuschung durch Verweis auf die kritischen Worte bemänteln, die Johannes Paul II. sicherlich an die Regierung richten wird. Den kubanischen Bürgern und der internationalen Öffentlichkeit steht also ein Schaukampf bevor, in dem sich zwei Institutionen, zwei politische Projekte und zwei starke Persönlichkeiten miteinander konfrontieren: ein echter Zweikampf der Häuptlinge.

dt. Birgit Althaler

* Journalist der Agentur InfoSud, Brüssel.

Fußnoten: 1 Frei Betto, „Nachtgespräche mit Fidel“, Berlin (Union-Verlag) 1988. 2 Conferencia episcopal cubana: ENEC, Documento final, 1987 (ohne Herausgeber). 3 La Documentation catholique, Nr. 2082, S. 975-983. 4 Aurelio Alonso Tejada, „Iglesia católica y politica en Cuba en los noventa“, Eigenvervielfältigung, 30. Mai 1994, S. 7. 5 A. a. O. S. 11. 6 Dagoberto Valdés Hernández und Luis Enrique Estrella Márquez, „Reconstruir la sociedad civil: un proyecto para Cuba“, II Semana Social católica, Pinar del Rio (Vitral), Dezember 1994. 7 Michel Bôle-Richard, „A Rio de Janeiro, le pape appelle à la défense des valeurs familiales“, Le Monde, 5./6. Oktober 1997. 8 Vgl. den Artikel von Jeanette Habel, „Mit dem Heiligen Vater die kubanische Revolution retten“, Le Monde diplomatique, Februar 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.01.1998, von ANDRÉ LINARD