16.01.1998

Der Supermac und das US-amerikanische Kastensystem

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Der Supermac und das US-amerikanische Kastensystem

In den Vereinigten Staaten verbreitet sich eine neue Art Kriminalität, die hate crimes, Verbrechen aus Haß. Mitglieder von Gemeinschaften – ethnischen, religiösen, sexuellen, nationalen, sozialen und so weiter – werden aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteteten Zugehörigkeit zu diesen Gemeinschaften angegriffen. Diese neue Form der Kriminalität zeigt das Ausmaß der Identitätskrise in einem Land, in dem der Staat sich dazu verstanden hat, die staatsbürgerliche Aufgabe des sozialen Zusammenhalts den „Kasten“ auf der einen und den multinationalen Firmen auf der anderen Seite zu überlassen.

Von unserem Korrespondenten DENIS DUCLOS *

SEIT Jahren sind die Vereinigten Staaten in Bewegung, ohne sich zu verändern. Im Norden von Faulkners Heimat, an der Atlantikküste im Herzen von New Jersey, versinkt die Natur, soweit noch vorhanden, allmählich in einem Meer von kleinen plastikartigen Fertighäusern, aus dem nur die wenigen steinernen Villen und die taghell erleuchteten Bankgebäude hervorragen. Das 21. Jahrhundert hat sich hier noch nicht eingefunden: Die öffentlichen Telefone akzeptieren keine Telefonkarten, und auf der Hafenmole lassen sich die Feriengäste von einer Evangelistentruppe auf Sommertour dazu begeistern, fromme Choräle anzustimmen.

Zwanzig Meilen westlich vom Talmi der Badeküste verlieren sich verfallende Bauernhäuser in der Weite mückenreicher Waldgebiete. Hagere Bauern verkaufen ihre Öko-Produkte an den seltenen Gast, um den sie mit den motorisierten Pizzaverkäufern konkurrieren. Durch einen Marktflecken von chassidischen Juden mit wehenden Bärten braust ein schwerer Chrysler in Richtung Pennsylvania, am Steuer eine Frau mit Haarknoten und der Haube der Amish People. Dann beginnt ein Konglomerat von Dörfern mit deutschen Namen. Das Städtchen Frederick beherbergt nicht weniger als zwölf Religionsgemeinschaften; die Main Street ist Fußgängerzone und fest in der Hand weißer Ladenbesitzer, in der Parallelstraße sitzen schwarze Familien auf ihren bescheidenen Veranden und üben sich in Geduld – wie eh und je seit dem 19. Jahrhundert?

In den nahen Appalachen trifft man auf Barrieren, die uns vertrauter vorkommen: Unten am Fluß oder an der Eisenbahnlinie stehen Wohnwagen aufgebockt, in denen die Armen leben. Die Cottages weiter oben liegen unter schönen Bäumen, aber die Krise ist auch ihnen anzusehen. Die Inhaberin des Bed & Breakfast, eine ehemalige Nackttänzerin, ertränkt ihre Verzweiflung in Whiskey-Cola und einem Whirlpool unter freiem Himmel. Der „Liquor Store“ liegt gleich rechter Hand, läßt sie uns wissen. Nein, kein Traum: Wir schreiben das Jahr 1997 und befinden uns weder in einem Museum noch in einem „reenacting park“, wo historische Lebensformen dokumentiert werden.

Das Ganze erinnert an das indische Kastenwesen, das sich räumlich manifestiert: Im Westen des Dorfes leben die Brahmanen, im Osten die kumarischen Töpfer, dazwischen eine Unzahl sauber abgegrenzter Gruppen. In Columbia dagegen, einem schicken Vorort von Baltimore, tarnen sich die alleeartigen Straßen mit begrünten Joggingpisten. Hier leben reiche Schwarze Tür an Tür mit wohlhabenden Weißen. Enten mit glänzendem Gefieder (weiß und schwarz) kreuzen auf dem künstlichen Weiher, davor ist für die reizende „United Colors of Benetton“-Kinderschar eine Gratisvorführung von Disneyfilmen arrangiert. Ist dies die Keimzelle jener „overclass“ von Führungskräften der multinationalen Konzerne und Anwaltsfirmen, von der Michael Lind behauptet, sie allein sei schlechthin multikulturell?1

Ausländer? Die werden geheiratet

MAN wohnt in „middle class“-Vorortvillen, mit gemeinschaftlichen Swimmingpools und Rasenflächen. Der Nachbar hat seinen Führungsposten verloren. Er spielt mit dem Gedanken, den jugendlichen Zeitungsausträgern Konkurrenz zu machen: Die 150 Dollar pro Woche für die tägliche Runde im Morgengrauen, um 150 Türschwellen abzuklappern, sind nicht zu verachten; und tagsüber bleibt Zeit, um einen Job zu suchen. Die Nachbarin hat auch während ihrer mehrfachen chemotherapeutischen Behandlung durchgearbeitet (ohne Sozialversicherung), ihre drei Gören ließ sie währenddessen glücklich vor drei Fernseh- oder Computerbildschirmen zurück.

Der befreundete Informatiker ist froh, daß sein New Yorker Arbeitgeber ein Europäer ist: Seine Chefs haben noch nicht die heimische Sitte übernommen, ihre leitenden Angestellten zum fünfzigsten Geburtstag zu „füsilieren“ (zu entlassen). „Die Amerikaner“, sagt er, „haben die Beziehungen zum Fremden besser als andere geregelt. Seit Jahrhunderten laden wir uns das Fremde auf. Wir respektieren Ausländer mehr als andere. Und schließlich heiraten wir sie“, lacht er. Seine Kinder sind ein köstlicher Mendelscher Cocktail aus russischen Juden, Griechen, Iren und Kubanern, die einmal ebenso gut englisch wie französisch, griechisch oder spanisch sprechen werden. Was hält er von diesen sogenannten hate crimes, den haßgeleiteten Verbrechen, die landesweit immer mehr zunehmen? „Ich bin skeptisch. Der Begriff bauscht das Phänomen auf. Das ist ein zwiespältiges politisches Manöver. Was nützt es, Öl ins Feuer zu gießen?“ Wird dem Haß denn nicht Einhalt geboten, wenn man ihn unter Strafe stellt? Zweifelndes Kopfschütteln.

„Hate crime“ – ein merkwürdiger Begriff, über den ich mehr zufällig im Internet unter dem Eintrag „FBI, Uniform Crime Reports“ stolperte (1996 wurden 7900 Fälle registriert, die Hälfte davon gegen Schwarze, tausend gegen Juden und etwa genauso viele gegen männliche Schwule). Der Begriff besagt mehr als bloße „Anstiftung zum Rassenhaß“. Unter Mithilfe von Juristen und Pressure-groups ist ein Schneeballbegriff entstanden, der das ganze Feld von haßmotivierter Gewalt gegen die Rasse, die ethnische Zugehörigkeit, die Religion oder das Geschlecht anderer Menschen erschließt.

Ab und zu verfolgt man unter diesem Begriff das aggressive Verhalten gegen die sexuelle Orientierung (Homosexualität), das Alter und sogar den Gesundheitszustand (vor allem die geistige Behinderung) einer Person. Wird bald auch Haß gegen die Armen strafbar? „Im Grunde“, erläutert ein Soziologieprofessor von der New York University, „soll der Begriff das ,totale Opfer‘ verteidigen, wie es die nationalsozialistische Eugenik im Auge hatte: Alte, Geistesgestörte, Juden, Nichtseßhafte und sexuell andersgeartete Menschen. Es ist vielleicht gar nicht schlecht, daß der Haß als globales Phänomen juristisch zur Kenntnis genommen wird.“

Er denkt auch an den Haß, den gewisse junge Leute auf die Altachtundsechziger mit sich herumtragen, die als „papyboomers“ vernunglimpft und bezichtigt werden, die besten Jobs abgesahnt zu haben: „Dieser Kreislauf des Hasses! Er sucht einen Vorwand, findet ihn, wechselt die Richtung, greift auf alte Klischees zurück. Er ist ein Symptom für gesellschaftlichen Dissens: Man sucht einen Sündenbock zur Abfuhr der eigenen Verbitterung. Das kann ein Jude sein, ein Schwarzer oder ein Weißer, Soziologe oder Kernphysiker, ein sexuell aktiver Militär, ein Anhänger der Cultural Studies oder ein glühender Verfechter des klassischen Elitedenkens, jemand für oder gegen political correctness, pro-AA (affirmative action) oder anti-AA, und so weiter.“2

Spiegeln sich darin nicht die Konfrontationslinien des letzten Präsidentschaftswahlkampfes wider? „Sicher. Aber die Politik ist ein Spiegel der verhärteten Positionen in allen Bereichen der Gesellschaft. Ein geradezu chronisches Phänomen, das auf die Ära Bush zurückgeht und auch nach Clintons Wiederwahl 1996 anhält.“ Die Kategorie hate crime wäre dann also die juristische Übersetzung dieser anhaltenden Verhärtung? Der Wunsch, der Ausbreitung von Gewalt als normaler Form politischer Konfliktaustragung entgegenzutreten? „Ja. Aber ist das die Lösung? In der systematischen Verschärfung der Strafen schon für bloße Äußerungen könnte man einen Angriff auf die Meinungsfreiheit sehen. Ich denke an Christopher Laschs schöne Formulierung vom ,Verlust der Streitkultur‘, jener Form der Auseinandersetzung unter mündigen Bürgern, die für die Anfänge der Vereinigten Staaten von zentraler Bedeutung war.“3

Mit seinem wehmütigen Blick zurück in eine mythische Vergangenheit bezweifelt auch dieser Arbeitskollege, daß die Erfindung des hate crime segensreich sein könnte. Für diese Zweifel finden sich reichlich Gründe in den vermischten Nachrichten jenseits der Bühne der großen Medien, die das Publikum mit der Jagd auf Cunanan langweilen (den mutmaßlichen Mörder des Modeschöpfers Gianni Versace).4

Gründe zuallererst für das Eingeständnis, daß es lachhaft ist, den Haß in Zahlen zu erfassen, wie es der Hate Crime Statistics Act von 19905 vorschreibt, denn festgehalten werden nur die Anschuldigungen von Zeugen beziehungsweise die Protokolle von Polizeibeamten, die nicht selten die Wertvorstellungen der Aggressoren teilen, während täglich unzählige haßerfüllte Äußerungen mit oder ohne konkrete Angriffsabsichten fallen. Zwar ist „der Haß an sich noch kein Verbrechen; er muß auch aktiviert werden“, erklärt ein Verantwortlicher des FBI. Aber auch hier stellt sich die Frage, inwieweit wir das Recht haben zu hassen. Der französische Soziologe Jean Baudrillard bemerkt: „Es gibt im Haß gleichwohl eine Art Gegenüber; man kann darüber immer noch auf die eine oder andere Weise verhandeln.“6

Außerdem gibt es Grund zu der Annahme, daß der Begriff „hate crime“ zur Feindschaft unter Amerikanern beiträgt. Der Haßvorwurf durch eine Gruppe, die sich damit als kollektives Opfer darstellt, vertieft die gesellschaftlichen Gräben. Er führt zur Kategorisierung von Differenzen: Schwarze gegen koreanische Kleinhändler, junge Gangstas der raza („hispanics“) gegen schwule Intellektuelle. Weiße Suprematisten gegen Homosexuelle, Schwarze und Juden. Jüdische Hausbesitzer gegen Mieter aus dem afroamerikanischen Rapper-Milieu, Männer gegen lesbische Frauen, Erwachsenengewalt gegen Kinder und Jugendliche, Alte, die über all den jugendlichen Opfern vergessen werden, und so weiter. Wie soll bei diesem Austausch von Etikettierungen, die Widersacher zu Kategorien kollektivieren, gegenseitige Achtung gefördert werden?

Schließlich gibt es guten Grund für die Annahme, daß die Kategorie „hate crime“ dazu dient, das Strafmaß zu erhöhen und damit – wie mit allen anderen verfügbaren repressiven Mitteln – jeden Störfaktor durch längeres „Wegschließen“ aus der Welt zu schaffen. Einige Beispiele. Ein junger Schwarzer hetzt seine Kumpels zum Verprügeln eines Weißen auf: Er muß zwei Jahre mehr absitzen, als für den Angriff als solchen vorgesehen ist. Ein Skinhead attackiert zwei junge Schwarze mit einer Machete. Wegen seiner Parolen und des Nazigrußes muß er sich für „Repressalien“ gegen Schwarze verantworten: Auch sein Strafmaß erhöht sich um zwei Jahre. Kann man beweisen, daß jemand „queer“ (Schwuler) oder „dyke“ (Lesbe) gebrüllt hat, bevor er einen Aktivisten der Schwulenbewegung zu Boden gestoßen oder eine Frau an den Haaren hinter sich hergezogen hat? Dann ist mit einer deutlich höheren Strafe zu rechnen.

Man mag das gerecht finden, sollte aber den Hintergrund einer grassierenden „Bestrafungswut“ (so der Jurist Lois Forer) im Auge behalten: So drohen fünf Jahre Gefängnis ohne Haftminderung für den Besitz von fünf Gramm Crack, oder Lebenslänglich nach dem dritten schweren Gewaltverbrechen („serious violent crime“), seit Präsident Clinton 1994 das Verbrechensbekämpfungsgesetz (Crime Bill) eingebracht hat.

Man weiß, daß diese Politik („gegen die sich die Richter allmählich auflehnen“, erklärt ein schwarzer Anwalt, der die ständigen Pflichtverteidigungen am Jugendgericht leid ist) die jungen Schwarzen und Hispanics von der Straße – und vor allem von der Schule – geholt hat; aber die Kriminalität oder der Drogenkonsum haben sich keineswegs im gleichen Ausmaß verringert (letzterer ist vor allem unter wohlhabenden Weißen verbreitet). Wie Charles Ramsey vom Drogendezernat der Chicagoer Polizei sich ausdrückt: „Es gibt mehr Kokain an der Börse oder im Sears Tower als unter der schwarzen Bevölkerung. Aber diese Typen sind viel schwerer zu erwischen.“

Trotz vieler guter Gründe, von einer Kriminalisierung des Hasses abzusehen, die nur ein Lückenbüßer für politisches Versagen ist, kann man sich nicht entschließen, das Grundproblem anzupacken, das man angeblich bekämpfen will: Die Ermutigung junger Leute zu ethnisch motivierter Gewalt seitens der reaktionärsten Stimmen der öffentlichen Meinung.

Eine Epidemie schrecklicher Morde

VON Bernard Goetz, der zum gefeierten Helden des „weißen Widerstands“ avancierte, nachdem er 1984 in der New Yorker Metro vier junge schwarze Angreifer erschossen hatte, über den Polizeiskandal in Los Angeles 1992, als Rodney King von Beamten brutal zusammengeschlagen wurde, bis hin zu den Folterungen von Immigranten und Tatverdächtigen durch die New Yorker Polizei 19977 reicht die eine Linie rassistischer Gewalt. Aber es gibt auch eine andere, die sehr deutlich hervortritt: angefangen bei den Rufen „Tötet die Juden“, die 1991 bei den Unruhen in Brooklyn laut wurden, bis hin zur Schändung Hunderter Gräber auf drei jüdischen Friedhöfen in Chicago 1996. Die Saat des Stolzes der „arischen Nationen“ oder des immer wieder auflebenden Ku-Klux-Klan geht zunehmend auf: Die epidemische Ausbreitung von Hakenkreuzen und brennenden Kreuzen mündet in eine wachsende Brutalisierung, in gezielte Morde, die seit drei Jahren in zahlreichen Staaten mutmaßlich von Skinheads verübt werden, in Hunderte Fälle von Vandalismus, Brandanschlägen auf Synagogen, Gemeindezentren und Kirchen Orthodoxer oder protestantischer Schwarzer. Ganz zu schweigen von den grauenvollen Morden an Schwulen, körperlich und geistig Behinderten oder Alten (man denke an die Exekution von fünf Homosexuellen durch Genickschuß in einem Sexshop in North Carolina oder das bestialische Ausweiden eines alten Hobo durch zwei reiche Jugendliche im Central Park im Juni 1997).

Kurz: Seit Dennis Hoppers berühmtem Film „Easy Rider“ (1968), in dem zwei Motorrad-Hippies aus dem Norden (Peter Fonda und Jack Nicholson) von Südstaatenfarmern als mutmaßliche Schwule totgeprügelt werden, tut sich etwas im Reich des Hasses der USA, ganz unabhängig von den sinkenden Kriminalitätsstatistiken der letzten sechs Jahre.

In lichten Momenten ahnen wir, daß uns die gegenwärtige Situation weltweit und tagtäglich vor die Forderung stellt, angesichts der drohenden Verarmung des überwiegenden Teils der Menschheit Entscheidungen zu treffen, wie es mit unserer kulturellen Vielfalt weitergehen soll. Paradoxerweise führen seit Beginn der pax americana die US-amerikanischen Ideologen und Politiker aller Fraktionen das Wort „Krieg“ im Munde: Nach dem Ende des kalten Krieges – und seiner strahlendsten Reinkarnation als Krieg der Sterne – werden nun Kriege gegen Kriminalität und Drogen geführt, die bald als Kriege gegen die Armen oder illegal Eingewanderten ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Die Linke reagiert mit einem Krieg gegen polizeiliche Übergriffe, die Rechte mit wüsten Ausfällen gegen die Bundesregierung, an denen sich die Waffenfetischisten der militia beteiligen, sofern sie nicht das Südstaatenbanner schwenken und mit einer erneuten Konfrontation zwischen Neokonföderierten und Yankees drohen.

Zwar halten einige Jugendgangs ostentativ Frieden, doch der Bandenkrieg ist längst über die Grenzen der Großstadtguerilla in die bislang verschont gebliebenen Kleinstädte vorgedrungen. Zu Dutzenden brennen Kirchen, ein fröhliches Bombenfeuerwerk zerstört die Geschäfte und Gemeinschaftszentren der Gegenseite. Hier und da werden Leute auf der Straße angegriffen, weil sie eine weniger tolerierte Andersartigkeit repräsentieren. Die allgemeine Mobilmachung spart auch die Stätten der geistigen Besinnung nicht aus: An den Universitäten ist der Krieg zwischen Wertkonservativen und Postmodernen ausgebrochen. Und dann gibt es noch den wiederaufflackernden Konflikt zwischen Großkonzernen und Gewerkschaften, den die Regierung mit mehr oder weniger Erfolg zu schlichten sucht.

Grenzenloses Patchwork von Identitätskonflikten

AUCH die aktivistische Linke wird in den Strudel der aggressiv artikulierten Gemeinschaftszugehörigkeit hineingezogen: Der Rückzug auf die Gruppe wird mit großer Leidenschaft praktiziert, in den unzähligen Subkulturen der raza wie in den unterschiedlichen protestantischen oder islamischen Gemeinschaften des schwarzen Amerika, von den schwulen oder lesbischen Splittergruppen, den Fraktionen innerhalb des Feminismus, den Verteidigern der Familie, oder von den vielen Ablegern der New-Age-Gemeinde oder der Pazifisten.

Gewiß sind gemeinsame Aktionen möglich, kommt es zu Aussöhnungen (wie zwischen „Crisps“ und „Bloods“, den beiden großen Jugendgangs in Los Angeles), sammeln sich Protestbewegungen im Umfeld der Schule – gegen die skandalöse Situation der Obdachlosen oder die Brutalität der Polizei, allerdings immer ohne das Problem des starken Gruppenbewußtseins in Frage zu stellen. Ob man sich die antiasiatischen Ausschreitungen von 1992 anschaut, die vom Schwarzenführer Louis Farrakhan mobilisierten Männer-Protestmärsche, die polizeilichen Anzeigen wegen ethnischer oder sexueller Diskriminierung oder die gezielten Angriffe auf den Lebenswandel bestimmter Persönlichkeiten: stets spürt der Beobachter die erbitterte Bestätigung der Zugehörigkeit zur eigenen Gruppen (die sich vom Haß aller anderen Gruppen verfolgt wähnt). Angesichts eines permanenten sozialen Bürgerkriegs muß er stets damit rechnen, daß die so nette Gruppensolidarität, die der multiethnischen Schule und der Hilfe für Notleidende gilt, über Nacht in einen Steuerstreik umschlägt, weil die öffentliche Schule „asiatische Kinder bevorteilt“8 . Oder daß man die Jagd auf „satanistische“ Sexbesessene eröffnet oder Wachen mit Hunden anheuert, um jugendliche Passanten auf das „gangs' profile“ hin zu überprüfen.

Die Kriegsmetapher beschreibt die Ära Clinton recht gut; ein Absurdum, wenn man bedenkt, daß sich der Präsident von den Rechten ständig seine pazifistische Vergangenheit während des Vietnamkrieges vorwerfen lassen mußte, wobei diese nie begriffen haben, daß Clinton ein machiavellistischer Stratege (das griechische Wort für General) ist, dessen Siege auf der Kunst beruhen, seine Gegner gegeneinander auszuspielen.

Man könnte sogar auf die Frage verfallen, ob der Antagonismus der Identitäten in den USA nicht eine manipulierte Sache ist. Ist nicht vielleicht die strafrechtliche Verfolgung des „hate crime“ eine Miniaturausgabe der Verfolgung von ethnischen Verbrechen, wie sie amerikanische Diplomaten im Daytoner Abkommen fixiert haben, um den Haß in Bosnien zu befrieden? Geht es hier nicht um ein umfassendes polizeiliches Gewaltmanagement, das zugleich auf globaler Ebene wie am amerikanischen Testfall erprobt wird?

Auf den zweiten Blick allerdings sprechen der wechselseitige Argwohn und die Abgrenzung, die Clintons zweite Amtszeit auszeichnen, eher gegen irgendwelche finsteren Beweggründe. Hier liegt eher ein Zustand der Ohnmacht vor, ein Konsens der Kapitulation, als Resultat der vergeblichen Konfrontation zwischen zwei politischen Konzepten, das postmoderne Zeitalter in den Griff zu bekommen. Das erste Konzept ist ein fremdenfeindlicher und libertärer Populismus, der den unmöglichen Traum von einem weißen, hochmoralischen Amerika verwirklichen möchte, in dem sich autonome Individuen und Gemeinschaften im öffentlichen Raum begegnen, während sich der Staat auf die Aufrechterhaltung der Macht außerhalb seiner unantastbaren Grenzen beschränken kann. Das zweite Konzept läuft auf einen voluntaristischen Demokratismus hinaus, der mit Hilfe des Staates die ethnische, soziale und ökonomische Integration einer großen Gesellschaft beschleunigen will, die in ihrer Offenheit für globale Veränderungen ein Modell zeitgenössischer Modernität darstellt.

Diese beiden Konzepte haben sich hoffnungslos in dem politisch-verfassungsrechtlichen Instrumentarium verkeilt, das von Anfang an jedes Mehrheitsdiktat unterbinden sollte, das weder Sieg noch offenen Kompromiß gestattet und damit beide Fraktionen in den Abgrund einer sektiererischen Zersplitterung treiben läßt. Dieses Instrumentarium läßt gerade keine Entscheidung zu zwischen den einen, die aus den USA wieder eine europäische, christliche, an akademischen Werten ausgerichtete Familie machen wollen, und den anderen, die eine breite „Autobahn der Integration“ schaffen wollen, um eine breite, ethnisch unspezifische Mittelschicht zu festigen. Bleibt man dagegen in dem unendlich aufgesplitterten Mosaik von Identitätskonflikten befangen, reproduziert man nur eine bürgerliche Chimäre.

An diesem bizarren politischen Ungetüm ist nichts am rechten Platz, verwandelt sich alles in sein Gegenteil. Die traditionell von den Bürgerrechtlern erhobene Diskriminierungsklage wird zur Waffe fremdenfeindlicher und rassistischer Kreise im Namen der Verteidigung der bedrohten Weißen. Der egalitäre und „farbenblinde“ republikanische Modernismus verwandelt sich zum Lieblingsargument der Rechten gegen die „positive Diskriminierung“. Auf demokratischer Seite gilt das gesellschaftspolitische Engagement nicht etwa dem Bau der „Autobahn der Integration“, sondern einer selbstmörderischen Kahlschlagpolitik der Privatisierung von Schule, Polizei und öffentlichen Dienstleistungen. Im übrigen beschränkt man sich darauf, Obdachlose zu vertreiben, gegen Streikende vorzugehen, die Armen am Eingang ihrer Wohnsilos zu durchsuchen, um sie wegen ein paar Gramm Drogen festzunehmen. Die Begegnung mit Gesetzeshütern ist für die einfachen Leute kaum weniger gefährlich als die mit einem Straßenräuber.

Die permanente Blockierung einer politischen Entscheidung zwischen Populismus und Demokratismus erklärt diese seltsame Verkehrung, wonach der öffentliche Raum, nachdem sich seine integrativen Kapazitäten verflüchtigt haben, von repressiver Gewalt besetzt wird, während immer mehr private Räume von allen möglichen Gruppen – von rechts bis links – zur religiösen, ethnischen und sexuellen „Heimat“ umdefiniert werden und die amerikanische Zivilgesellschaft in eine Ansammlung isolierter Habitate zurückverwandeln.

Kasten und multinationale Unternehmen

BEOBACHTER der USA sprechen von einer Tendenz zu „Dritte-Welt-Verhältnissen“ (was den Fortbestand sklavenähnlicher Arbeitsverhältnisse betrifft) beziehungsweise von einer „Kreolisierung“ oder „Brasilianisierung“ (wegen der nach Hautfarben strukturierten sozialen Pyramiden). Ist das zu gewagt? Müßte man, wo doch die Statistiken eine erfreuliche Zunahme von Mischehen belegen, nicht vielmehr innerhalb der einzelnen (weltanschaulichen, beruflichen, altersbezogenen, geschlechtlichen) „Kasten“9 das Zerbrechen – oder gar die Pulverisierung – der amerikanischen Gesellschaft konstatieren?

Wer profitiert von einer sich unaufhörlich fortsetzenden sozialen Entmischung? Sind es die Großkonzerne, denen die auf ihre kulturellen Ghettos verteilte Mehrheit billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellt? Gewiß, und zudem gilt, daß die zunehmende „Kastenbildung“ nützlich ist: Zum einen können Kasten nicht die Monopolstellung der Wirtschaft im politischen Bereich gefährden, zum anderen verlangen sie nach einer immer stärkeren Kommerzialisierung, und zwar als Ausgleich für die furchtbare Verödung des sozialen Raums: Je größer meine Angst, meine isolierte Gemeinschaft zu verlassen, desto stärker mein Verlangen, an jeder Ecke die Pseudo-Vertrautheit von Markenzeichen, universalen Genußmitteln (Cola, McDonald's- Hamburger) wiederzufinden. Je „sektiererischer“ die Amerikaner sind, desto stärker ist ihr Bedürfnis, sich einem technokratischen Konformismus zu unterwerfen. Je mehr sich Amerika in immer raffinierteren Differenzen, in stets erneuertem, aus kriminellen oder identifikatorischen Motiven gespeistem Haß verliert, desto stärker reproduziert es sich ideell über renommierte Markennamen, simplifizierende Medien und einige wenige „Superstars“. Die abgeschotteten Identitätsprofile und die anonyme Akzeptanz der internationalen Firmen ergänzen sich gegenseitig. Im Extremfall führt dieser Dualismus auf globaler Ebene erweitert zu so unwahrscheinlichen Affinitäten wie der von Dschihad und McDonald's.10 Die Fusion von Kommerz und Sicherheit, als Gegenstück zur Verödung des öffentlichen Lebens, schreitet unaufhaltsam voran.

Von Rechten wie von Linken hört man immer noch die Überzeugung: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt Individuen, Männer und Frauen, und es gibt Familien.“11 Diese Gewißheit läßt jedes Gesellschaftsprojekt gefährlich nach Bevormundung aussehen und führt zu einer Ablehnung jedes gesamtgesellschaftlichen Programms. Viele Amerikaner sind nach wie vor der Ansicht, daß der Staat nur eine kulturelle Gruppierung unter anderen ist12 und nicht ein Kollektiv völlig anderer Qualität: die logische Bedingung für den Übergang von bloßen Gruppen zum universellen Austausch unter Individuen.

Man sieht, daß es für die Demokratische Partei nicht leicht ist, offensiv für die Idee eines positiv besetzten öffentlichen Raums einzutreten (und für die sich daraus ergebende soziale, antirassistische, laizistische oder ökologische freiwillige Beteiligung), wenn sie in einem politischen Umfeld bestehen will, das von den Idealen individueller, sich selbst genügender Gemeinwesen geprägt ist. Und nur mit einer defensiven Strategie konnte Clinton (indem er die ultrakonservative Koalition aufbrach, die sich an der Spitze der Republikanischen Partei um Newt Gingrich oder Robert Dole und um graue Eminenzen wie den Prediger Pat Robertson gebildet hatte) das Meisterstück fertigbringen, Ende 1996 zum zweiten Mal die Präsidentschaft zu erringen.

Überdies profitierte Clinton von der Verbindung der beiden Aspekte, insofern die Hetzreden der republikanischen Primadonnen eine diffuse Toleranz gegenüber dem Haß durchblicken ließen, die kriminelle Gewaltbereitschaft begünstigt: Man denke an das furchtbare Massaker, das der ehemalige Soldat Timothy McVeigh durch das Bombenattentat auf die FBI-Zentrale in Oklahoma City anrichtete, oder (als intellektuellere Variante) an die Briefbombenerpressung durch den berühmtesten „antiindustriellen“ Anarchisten der neunziger Jahre, den Una-Bomber.

Solche Vorfälle haben einigen Wählern die Augen geöffnet; die religiöse und antistaatliche Rechte war allem Anschein nach imstande, das Rachebedürfnis der Öffentlichkeit in gefährlicher Weise zu verdichten. Ihr war ohne weiteres zuzutrauen, die Verbrechen verantwortungsloser Rambos, den konspirativen Fanatismus fundamentalistischer Farmer oder das plötzliche Auftauchen brennender Kreuze in den Vorgärten schwarzer Pastoren indirekt zu steuern oder aus purer Gedankenlosigkeit auszulösen. Seither kommt die Furcht vor einer reaktionären Kriminalität denen zugute, die ihr Einhalt zu gebieten scheinen.

Wer aber hat gesiegt? Nicht die moderne Option für eine ethnische Integration, die Förderung eines laizistischen Staates und die Verteidigung des Lebensstandards einer in die Unsicherheit gestoßenen Arbeiterschaft. Clintons Sieg war vielmehr der Sieg in einem Spiel, das ganz an der Oberfläche unendlich abgestufter Gegensätze verblieb. Ein Spiel, das – von der Crime Bill von 1994 bis zum Antigang and Youth Violance Act von 1997 – auf die zweifelhaften Verlockungen von Law and order setzte.

Dies Konzept ging das Risiko ein, das Anwachsen anderer kollektiver Formen der Abwehr außer acht zu lassen; etwa das Aufbegehren gegen die Arroganz der Arbeitgeber. In dieser Hinsicht verraten die Solidaritätsbekundungen des Großteils der US-Amerikaner13 mit den streikenden Teilzeitbeschäftigten von UPS (und ihre wahrscheinliche Auswirkung auf die Kursrückgänge an der Wall Street, die nur wenige Kommentatoren beachtet haben) eine verbreitete Verzweiflung angesichts eines Kapitalismus, der unbehelligt und auf eigene Faust – sieht man von Miliz und Polizei ab – den von den Staatsbürgern verlassenen öffentlichen Bereich durchdrungen hat.

dt. Christian Hansen

* Soziologe, Forschungsleiter am staatlichen Wissenschaftszentrum CNRS in Paris, Autor insbesondere von „Nature et démocratie des passions“, Paris (PUF) 1996.

Fußnoten: 1 Michael Lind, „The Next American Nation: The New Nationalism and the Fourth American Revolution“, New York (Free Press Paperbacks, Simon & Schuster) 1996. 2 Gesetzliche Regelungen, die Arbeitgebern bestimmte Quoten für die Einstellung oder Beförderung von Frauen und Angehörigen ethnischer Minderheiten vorschreiben, besonders bei Jobs, die traditionell männlichen Weißen vorbehalten sind. Während die republikanische Rechte gegen diese Pläne Sturm lief (und sie in Kalifornien schon wieder zurückgenommen werden), wurden sie von der Linken als unverzichtbarer Bestandteil jedweder integrativen Politik vertreten. 3 Christopher Lasch, „Die blinde Elite“, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1995. 4 Zu Verfolgung und Tod von Andrew Cunanan vgl. Daniel Schneidermann, „L'origine du monde“ in der Beilage „Télévision“ von Le Monde, 17./18. August 1997. 5 Dieses Gesetz wurde dem Repräsentantenhaus von der demokratischen Abgeordneten Nancy Pelosi aus Kalifornien vorgeschlagen; es reagiert auf die Forderungen verschiedener Organisationen, darunter die mächtige jüdische Anti Defamation League of B'nai Brith sowie die National Gay and Lesbian Task Force, und gründet sich auf einen Bericht von Peter Finn und Taylor McNeil, „The Response of the Criminal Justice System to Bias Crime: An Exploratory Review“, US Department of Justice (DOJ), 7. Oktober 1987. 6 „La Haine“, von François Ewald niedergeschriebene Äußerungen, Magazine littéraire, Paris, Juli/August 1994, Nr. 323, S. 20. 7 Vgl. Sylvie Kaufmann, „Une bavure relance le débat sur les méthodes de la police new-yorkaise“, Le Monde, 19. August 1997. 8 Äußerung von linken Akademikern in einem Vorort von Los Angeles. 9 „Kaste“ ist zutreffender als der schwache, sehr in Mode gekommene Begriff „Stamm“. 10 Benjamin R. Barber, „Coca-Cola und Heiliger Krieg: wie Kapitalismus und Fundamentalismus Demokratie und Freiheit abschaffen“, Bern, München, Wien (Scherz) 1996. 11 Intervierw mit Margaret Thatcher, Woman's Own, London, 31. Oktober 1987. 12 Die Verwechslung von Gruppe und Gesellschaft führt Thobie Nathans Artikel „Pas de psychiatrie hors les cultures“ in der Libération vom 30. Juli 1997 klar vor Augen. 13 Eine von CNN/USA Today durchgeführte Meinungsumfrage vom 15. August 1997 ergab, daß 55 Prozent der Amerikaner den Streik befürworteten.

Le Monde diplomatique vom 16.01.1998, von DENIS DUCLOS