16.01.1998

Auf der Suche nach den gemäßigten Islamisten

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Auf der Suche nach den gemäßigten Islamisten

AUF den blutigen Anschlag von Luxor hat die Staatsmacht in Ägypten mit verschärften Polizeimaßnahmen reagiert. Sie ist nicht bereit, zu differenzieren, und bekämpft gleichermaßen diejenigen Muslimbrüder, die für friedliche Veränderung eintreten, wie die bewaffneten Gruppen. Zugleich zeigt sich das Regime unfähig, die soziale Ungleichheit abzubauen und das Land auf den Weg der Demokratie zu führen. Elend und autoritäre Herrschaft sind noch immer die schlimmsten Übel, unter denen das Land leidet – und der Boden für die Saat der Gewalt.

Von ÉRIC ROULEAU *

Für die Ägypter bedeutete das Massaker am 17. November in Luxor, bei dem über sechzig Touristen ums Leben kamen, in mehrfacher Hinsicht einen Schock. Die grauenhafte Tat, die dem Wesen und den Traditionen der Bevölkerung ganz und gar widerspricht, und ihre katastrophalen wirtschaftlichen Folgen (vom Tourismus leben Millionen Menschen) haben schlagartig bewußt gemacht, daß ein Problem, das als weitgehend gelöst galt, nach wie vor besteht: der Islamismus.

Kurz vor dem Massaker konnte man sich in Kairo als Ausländer nur wundern über die Sorglosigkeit, die in den „gefährdeten“ Stadtteilen herrschte. In den Museen, an den historischen Denkmälern in den Armenvierteln, in den großen Hotels, wo das reiche Bürgertum prächtige Hochzeits- und Geburtstagsfeiern abhält – überall reges Treiben. Offenbar war man allgemein der Ansicht, die Sicherheitskräfte hätten die Lage gut im Griff. Kaum jemand zweifelte an den allmonatlich wiederholten Versicherungen, daß es vom Terrorismus nur noch kleine Relikte gebe, die bald verschwinden würden.

Für diese Überzeugung sprach einiges: Bis auf wenige Ausnahmen war es seit längerem nur in zwei oberägyptischen Provinzen (in Minya und Assiut) zu Anschlägen gekommen, und dort ist seit eh und je die Blutrache üblich; außerdem werden dort die sozialen Konflikte durch die Armut verschärft, wie man in den letzten Monaten wieder an den Bauernaufständen sehen konnte, die über vierzig Todesopfer forderten. Das Blutbad vom April 1996 unter griechischen Touristen am Eingang eines Hotels in Kairo und der Anschlag auf deutsche Touristen vor dem Ägyptischen Museum im September 1997 wurden offiziell als die Taten von „Geistesgestörten“ bezeichnet. Diese Version war insofern glaubwürdig, als die Führung der Dschamaa Islamija, die seit mindestens fünf Jahren für fast alle Attentate verantwortlich zeichnet, erklärt hat, Angriffe auf Unbeteiligte, also auf ausländische Touristen ebenso wie auf Kopten (die ägyptischen Christen, die in Oberägypten immer wieder überfallen werden), seien „antiislamische“ Taten. Aber zwei Monate später brachte ein sechsköpfiges Selbstmordkommando der Dschamaa Islamija mit Maschinengewehren und Messern die Touristen in Luxor um.

Daß die staatlichen Stellen in diesem Fall nichts ahnten, lag an einer doppelten Fehleinschätzung. Zum einen glaubten sie, daß die Kämpfer der islamistischen Organisation sich an die Weisungen ihrer in Ägypten inhaftierten Führer halten würden, und nicht an die der Exilführung, die für die Fortsetzung des „bewaffneten Kampfes“ eintritt. Zum anderen hatten sie das formelle Angebot eines Waffenstillstands nicht ernst genommen, das am 5. Juli 1997 von sechs „historischen“ Führungspersönlichkeiten der Bewegung ausgesprochen wurde, unter ihnen die Verantwortlichen für den Anschlag auf den Präsidenten Anwar al-Sadat im Jahre 1981. Die sechs Führer, die zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden waren, hatten eingestanden, daß der Weg der Gewalt in eine Sackgasse geführt habe, und ihre Anhänger aufgerufen, den Kampf mit legalen Mitteln weiterzuführen.

Diese Erklärung traf die Regierung völlig unvorbereitet, und sie reagierte, nach einigen Ausflüchten, indem sie ihre Position bekräftigte, „keinen Dialog mit Terroristen“ führen zu wollen. Die Gegenseite stellte allerdings keine Bedingungen für die Beendigung der Feindseligkeiten, sondern erklärte sie ausdrücklich für „unilateral“. Zweifellos erwarteten die Islamistenführer aber eine symbolische Geste der Regierung, die ihrer Initiative bei den Anhängern der Bewegung Glaubwürdigkeit verschaffen konnte. Es war bekannt, daß sie dabei an die Freilassung zumindest eines Teils jener Islamisten dachten, die zu Tausenden in den Gefängnissen einsitzen, zumeist ohne rechtskräftig verurteilt zu sein, oder zumindest an eine Verbesserung der Haftbedingungen.

Jede Art von Gnadenakt hätte also diesen Versuch der inhaftierten Führer gestützt und ihnen geholfen, sich gegen jene anderen sechs Führungspersönlichkeiten durchzusetzen, die im Exil leben und dem Vorstoß zurückhaltend bis ablehnend gegenüberstehen. Wie sich in der Folge zeigte, konnte auch der Aufruf zum Waffenstillstand durch Scheich Omar Abderrahman, den in den USA inhaftierten geistlichen Führer der Dschamaa, die Stimmung nicht zugunsten der um Versöhnung bemühten Fraktion wenden, obwohl sie mit seiner Stimme im Führungsrat die Mehrheit hatte.

Allerdings haben die Vertreter des ägyptischen Staates unfreiwillig zur Diskreditierung der gemäßigten Führer beigetragen, indem sie diese als „Verlierer“ darstellten, denen gar keine andere Wahl bleibe, als zu kapitulieren – ein Grund mehr, nicht mit ihnen zu verhandeln. Innenminister Hassan al-Alfi (der direkt nach dem Blutbad von Luxor abgesetzt wurde) hat nicht vergessen, daß der Versuch, über ein Ende der Feindseligkeiten zu verhandeln, seinen Vorgänger 1993 das Amt gekostet hatte. Also erklärte al-Alfi triumphierend, nun sei der Beweis erbracht, daß „der Terrorismus in Ägypten ausgerottet“ sei.

Daß die terroristische Bewegung an Stärke eingebüßt hat, war sicherlich vor allem zwei Faktoren zu verdanken: zum einen dem selbst in proislamistischen Kreisen wachsenden Unmut über ihre Verbrechen, zum anderen der Härte der Repression. Unter dem Notstandsrecht, das praktisch seit dreißig Jahren in Kraft ist, kann die Regierung Ausgangssperren verhängen, Viertel oder Örtlichkeiten, die als „islamistisch“ gelten, abriegeln und durchsuchen sowie Häuser abreißen, in denen sich angebliche Mitglieder terroristischer Organisationen aufgehalten hatten. Nach den Bestimmungen eines „Antiterror“-Ausnahmegesetzes ist es möglich, Personen bis zu sechs Monate in Polizeigewahrsam zu halten und diesen Haftzeitraum nach Belieben zu verlängern. Für den Besitz von Schriften oder Flugblättern verbotener Organisationen sind schwere Gefängnisstrafen vorgesehen.

Straftaten oder Verbrechen, die als terroristisch gelten (damit ist in Wahrheit jeder erfaßt, der sich zur islamistischen Ideologie bekennt) fallen ausschließlich in die Zuständigkeit von Militärgerichten, gegen deren Urteil keine Berufung möglich ist. Der Staatspräsident hat es in solchen Fällen niemals für angebracht gehalten, von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen – soweit er eingriff, handelte es sich zumeist darum, das Strafmaß zu erhöhen. So hat er sich erst kürzlich geweigert, den Freispruch eines jungen Angeklagten zu ratifizieren, der daraufhin erneut vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt wurde. In den letzten fünf Jahren wurde neunzig Mal die Todesstrafe verhängt, und die etwa sechzig Verurteilten, die sich in Justizgewahrsam befanden, wurden alle gehenkt.

Die Zahl der Inhaftierten wechselt mit dem Lauf der Ereignisse, genaue Angaben sind nicht verfügbar. Nach Angaben der Behörden sind es etwa zehntausend Personen; die islamistische Opposition spricht von über dreißigtausend. Ebenso wie humanitäre Organisationen beklagt sich auch diese Opposition selbst über schwere Menschenrechtsverletzungen: über systematische Folterungen als gängige Praxis, rätselhafte Todesfälle und unaufgeklärtes Verschwinden von inhaftierten Personen, sogar von Schnellexekutionen bei Auseinandersetzungen zwischen verdächtigen Personen und Sicherheitskräften ist die Rede. Die staatlichen Stellen weisen diese Anschuldigungen nachdrücklich zurück, haben jedoch in einzelnen Fällen Untersuchungen eingeleitet, deren Ergebnisse freilich nicht bekanntgegeben wurden.

Dem terroristischen Flügel der Islamisten hat die brutale Repression sicherlich den Elan geraubt, aber konnte sie auch die Ausbreitung des politischen Islam aufhalten, der in Ägypten eine lange Geschichte und solide soziale Grundlagen hat und in der Bevölkerung tief verwurzelt ist? Die größte und einflußreichste Gruppierung unter diesen höchst unterschiedlichen, wenn nicht gar unvereinbaren Bewegungen ist die Organisation der Muslimbrüder, die zugleich konservativ und reformerisch orientiert ist. Diese 1928 von Hassan al-Banna gegründete Bruderschaft hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich, in der sie ihre Ziele zeitweise mit gewaltsamen und zeitweise mit streng legalen Mitteln verfolgte; sie bekämpfte das Regime, um sich dann wieder mit ihm gegen den jeweiligen gemeinsamen Feind zu verbünden: zur Zeit der Monarchie gegen die Kommunisten, unter Sadat gegen die nasseristische Linke oder unter Mubarak gegen die Sowjetmacht in Afghanistan. Die Bruderschaft wurde mal verfolgt, dann wieder geduldet, aber immer war sie verboten – seit nunmehr einem halben Jahrhundert.

Zur Zeit ist die Situation der Muslimbrüder besonders eigenartig. Sie arbeiten in der Illegalität, aber ihre Führer verstecken sich nicht – man kann sich mit ihnen verabreden. Das Büro der Organisation befindet sich in einem der baufälligen und staubverkrusteten Mietshäuser in der Altstadt von Kairo, durch kein Schild und keinen Briefkasten kenntlich gemacht. Die Händler im Viertel und der Hausmeister des Gebäudes wissen nichts von der Bruderschaft, oder sie wollen nichts wissen. Der Besucher muß also auf jeder Etage an die Türen klopfen und sich durchfragen, um am Ende ans Ziel zu gelangen. Scheich Maamun al-Hodeibi, Stellvertreter des höchsten Führers und Sprecher der Bewegung, ist um die siebzig; sein pausbäckiges Gesicht ist von einem weißen Bart umrahmt. Der frühere Staatsbeamte zeigt sich äußerst wortgewandt.

Terrorismus? Die Bruderschaft verurteilt die Gewalt, jede Art von Gewalt. Der Aufruf der sechs Dschamaa-Führer zum Waffenstillstand? Interessant, aber man muß abwarten, ob sie es langfristig wirklich ehrlich meinen. Algerien? Dort trifft das Militärregime genau soviel Schuld wie seine Gegner, die sich auf den Islam berufen. „Die einen wie die anderen sind keine wahren Muslime, beide schlachten sie Unschuldige ab...“ Die islamistische Regierung im Sudan? In Wahrheit handelt es sich um eine Militärdiktatur, die noch dazu korrupt ist, das Volk unterdrückt. Iran? Man begrüßt die zunehmende Liberalisierung des Regimes und hofft, daß es irgendwann ein pluralistisches System einführen wird, in dem sich alle Parteien frei betätigen können.

Alles klar: Die Muslimbrüder verstehen sich als „konsequent demokratisch“. Da sie offiziell verboten sind, können sie natürlich kein Programm vorlegen, aber ihre Prinzipien lassen sich auch aus den Kommuniqués ablesen, die sie, oft vergeblich, zu verbreiten versuchen. Scheich Hodeibi bedauert, daß er nicht alle Texte zur Hand hat: Zum einen verfügt die Bruderschaft seit 1982 nicht mehr über ein eigenes Presseorgan, zum anderen wurden bei einer Polizeirazzia fast alle Veröffentlichungen (und das gesamte Archiv) beschlagnahmt. Aber es finden sich doch noch drei „Manifeste“ jüngeren Datums, eines zum Thema „Unverzichtbarkeit der Demokratie“, ein weiteres über die Rechte der Minderheiten, vor allem „unserer koptischen Brüder und Mitbürger“, und das dritte zur „Stellung der Frau“.

Was Maamun al-Hodeibi nicht erwähnt, ist der Umstand, daß diese Stellungnahmen – die ohne Zweifel einen Fortschritt gegenüber früheren Positionen der Muslimbrüder bedeuten – von jungen Mitgliedern der Bewegung verfaßt und eingebracht wurden; die Vertreter der alten Führungsriege, meist über siebzig Jahre alt, haben sie dem Vernehmen nach ohne große Begeisterung abgesegnet. Der Protest der „Vierzigjährigen“ gegen die konservative Politik der Älteren hat sich inzwischen zu regelrechter Dissidenz entwickelt: Am 10. Januar 1996 stellten 17 Mitglieder der Bruderschaft bei den Behörden einen Antrag auf Gründung einer neuen politischen Partei namens al-Wasat („Die Mitte“).

Ein Spaltprodukt der Muslimbrüder

DIE Gründer dieser neuen Gruppierung präsentieren ein sehr ähnliches Profil: sie sind 35 bis 45 Jahre alt und überwiegend Angehörige der freien Berufe (Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Apotheker). In den siebziger und achtziger Jahren hatten sie sich in der Studentenbewegung und später in den Gewerkschaften engagiert, sie waren, je nach den Umständen, gegen die Nasseristen, die Kommunisten und die Liberalen angetreten oder hatten taktische Bündnisse mit ihnen geschlossen. Meist war es ihnen dann gelungen, trotz aller Belästigungen durch die Sicherheitsdienste führende Wahlpositionen bei den Einzelgewerkschaften zu erobern. Sie sind häufig zu Konferenzen oder Tagungen im Ausland gewesen und haben dabei etwas von den weltweiten Entwicklungen mitbekommen. Diese Erfahrungen brachten sie zunehmend auf Distanz zur älteren Generation der Bewegung, die ihnen wiederum den Zugang zu den Führungspositionen versperrte.

Der neununddreißigjährige Abu al-'Ala Madi, Sprecher und treibende Kraft der neuen Gruppierung, ist seit mehr als zehn Jahren Stellvertretender Generalsekretär der Gewerkschaft der Ingenieure, er hat bei den letzten Wahlen erfolglos für einen Sitz im Parlament kandidiert, und er engagiert sich in mehreren Menschenrechtsorganisationen, darunter amnesty international. Seine Mitstreiter und er wollten einer Organisation nicht mehr angehören, die weder ein Programm noch ein Statut, noch gewählte Führungskräfte besitzt, erklärt er. Nach seiner Ansicht fürchten die Führer der Muslimbrüder die Legalisierung, die sie offiziell fordern, denn dann müßte die Bewegung demokratische Strukturen entwickeln, und dann wäre es mit der absoluten Macht der Führung vorbei. Ein Schlüsselbegriff ist bei Abu al-'Ala Madi die Demokratie und noch mehr die „Moderne“. Im Prinzip wirft er der Bruderschaft vor, „überholte Vorstellungen“ zu vertreten, die auf Hassan al-Banna, den Gründer der Bewegung, zurückgehen. Er plädiert statt dessen für „ein modernes Konzept, das sich auf die Errungenschaften der Vergangenheit stützt, sich aber zugleich an den Aufgaben orientiert, die das 21. Jahrhundert stellt“.

Die Generation der „Vierzigjährigen“ ist also angetreten, um eine echte Erneuerung der islamistischen Bewegung zu versuchen. Die Leitideen sind im Vorwort zum Parteiprogramm niedergelegt, und daß die Partei „al-Wasat“ (die Mitte) heißt, soll einige ihrer wichtigsten Vorstellungen verdeutlichen. Demnach steht der Islam, nach dem Gebot des Koran, zwischen „der Strenge des Judentums und der Nachgiebigkeit des Christentums“. Er empfiehlt Mäßigung, in den Zielen wie in den (legalen und friedlichen) Mitteln zu ihrer Erlangung, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, Kompromisse zu schließen („um zu verhindern, daß in Ägypten algerische oder libanesische Zustände eintreten“). Allein die Grundwerte des Islam sind unantastbar, alles andere unterliegt der Veränderung. So kann sich die Wasat- Partei mit einem System verbünden, das als westlich gilt und zu dessen Grundlagen die Achtung individueller und kollektiver Freiheitsrechte ebenso gehört wie das Prinzip freier Wahlen, des Regierungswechsels und der strikten Einhaltung von Recht und Gesetz.

Was den zuletzt genannten Punkt angeht, bezieht sich die Partei auf den Artikel 2 der ägyptischen Verfassung, in dem die Scharia als die „hauptsächliche“, aber nicht als die „einzige“ Quelle der Gesetzgebung bezeichnet wird, wie es der radikale Flügel der Islamisten fordert. Die Begründung dieser Position, wie Abu al-'Ala Madi sie vorträgt, würde sicherlich von vielen, auch gemäßigten, Islamisten als Verstoß gegen die Glaubensgrundsätze angesehen werden. „Die Scharia ist im Grunde nur eine Sammlung von Richtlinien, die dem Prinzip des idschtihad, der freien Auslegung, unterliegen müssen, um sie an eine Welt anzupassen, die sich im Umbruch befindet.“ Die Partei al-Wasat bekennt sich also in ihrem Programm ausdrücklich zur ägyptischen Verfassung. Und als weitere Garantie ihrer republikanischen Gesinnung (vor allem in Hinblick auf das Parteiengesetz von 1977, das Parteien mit religiöser Grundlage verbietet) erklärt sie sich für konfessionell ungebunden – nach ihren Grundsätzen ist der Islam nicht nur eine Religion, sondern ebenso eine Kultur mit universellem Geltungsanspruch. Überdies gehört ihrem Gründungskomitee ein koptischer Christ an, der Arzt Rafiq Habib, Sohn des Oberhaupts der anglikanischen Gemeinde in Ägypten.

Alles vergebens: Am 13. Mai 1996 lehnen die Behörden den vier Monate zuvor gestellten Antrag auf Zulassung der Partei ab. Zwei Tage nach dieser Ablehnung werden drei der Gründungsmitglieder, unter ihnen auch Abu al-'Ala Madi, verhaftet und vor dem Obersten Militärgerichtshof angeklagt, eine „Verschwörung zum gewaltsamen Umsturz der Regierung“ unternommen zu haben. In diesem Verfahren schlossen sich zahlreiche Rechtsanwälte aus dem laizistischen Lager – Nasseristen, Liberale und Kommunisten – mit Islamisten zusammen, um ein Verteidigerkollektiv zu bilden. Sie gewannen den Fall, und die drei Wasat-Führer kamen knapp drei Monate nach ihrer Verhaftung wieder frei. Abu al-'Ala Madi bleibt zuversichtlich, daß al-Wasat in Kürze zugelassen wird, weil „die politische Klugheit sich schließlich gegen die Dummheit der Ausrottungspolitiker durchsetzen wird“.

Der letzte Begriff verdient eine differenziertere Betrachtung. Die blindwütige Repression der Regierung richtet sich im wesentlichen gegen jene Islamisten, die sich entschieden haben, mittels terroristischer Methoden an die Macht zu kommen. Von Übergriffen der Ordnungskräfte einmal abgesehen, ist diese Politik durchaus verständlich – schließlich hat die zunehmende Zahl von Anschlägen und Morden an hohen Regierungsvertretern (beginnend mit dem Attentat auf Anwar al-Sadat 1981) inzwischen 1251 Opfer gefordert. Alle diese Verbrechen sind jedoch der Dschamaa Islamija und anderen Splittergruppen wie dem Dschihad Islamij zuzuschreiben, die eine religiöse Richtung vertreten, für die das Regime „gottlos“ und darum dem Untergang geweiht ist. Dagegen erkennen die Muslimbrüder und vergleichbare Organisationen den islamischen Charakter der Republik an und wollen sie lediglich reformieren, indem sie Fehlentwicklungen des Systems korrigieren und seine Versäumnisse ausgleichen.

Von solchen Unterscheidungen wollen die staatlichen Stellen jedoch nichts wissen; sie unterstellen allen Organisationen, die sich auf den politischen Islam berufen, daß es in ihrer Natur und ihrer Absicht liege, gewaltsam die Macht an sich zu reißen. „Alle Terroranschläge sind unter dem Deckmantel der Muslimbrüder geplant worden“, erklärte im April 1997 der ägyptische Innenminister. „Sie stecken hinter allen Gewaltakten und allen subversiven Bestrebungen.“ Auf diese Weise will man rechtfertigen, daß Mitglieder der Bruderschaft ständig verfolgt und oft verhaftet und zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt werden, nur weil man ihnen unerlaubte politische Aktivitäten vorwirft.

Seit seiner Gründung im Jahre 1952 war das Regime unter Nasser nie willens oder fähig, des Problems Herr zu werden, das die Muslimbrüder darstellten. Nasser versuchte, die Bruderschaft zu liquidieren; zweimal brachte er ihre Führer an den Galgen, es war eine Zeit erbitterter Gegnerschaft. Nassers Nachfolger Anwar al- Sadat verfolgte eine Strategie der Tolerierung und der inoffiziellen Verständigung, in der Hoffnung, die Bruderschaft gegen die Linke einspannen zu können, die er damals für den gefährlicheren Feind hielt. Die zahlreichen Varianten der Eindämmungsstrategie, die Präsident Mubarak verfolgte, haben sich durchweg als wenig überzeugend erwiesen.1

Die erste Variante war geprägt durch den Krieg in Afghanistan: Man konnte die Bewegung nicht zu hart anfassen, weil sie damals in den Vereinigten Staaten große Wertschätzung genoß – schließlich leistete sie einen aktiven Beitrag zum Kampf gegen die sowjetische Besatzung. Also erlaubte die Regierung den Muslimbrüdern, zu den Parlamentswahlen anzutreten, in der Hoffnung, sie damit unschädlich zu machen. 1984 kandidierten sie auf den Listen der (liberalen) Wafd-Partei, 1987 dann unter dem Banner der Partei der Arbeit (der einzigen legalen islamistischen Gruppierung). Das Resultat wirkte wie ein Schock: Der Bruderschaft gelang es nicht nur, zur stärksten Gruppierung unter den Oppositionsparteien zu werden, dieser Erfolg trug auch dazu bei, daß zahlreiche ihrer Anhänger in die Gremien fast aller Berufsverbände gewählt wurden, wo sie seither eine bestimmende Rolle spielen. Damit war bewiesen, daß die Muslimbrüder, obwohl nicht legalisiert, in der Bevölkerung, und vor allem in der Zivilgesellschaft, große Anerkennung genossen.

Jetzt griff die Regierung wieder zu härteren Mitteln: Sie blockierte die Aktivitäten der Berufsverbände und Studentenorganisationen; sie sorgte dafür, daß die Bruderschaft nicht mehr im Parlament vertreten war, indem sie die Aktivisten verhaften ließ, die als Kandidaten für die Wahlen 1995 in Frage kamen – eine Politik also, die wieder ganz auf die Staatssicherheit setzte. Die derart Geächteten, die nun erst recht als Opfer des Staates angesehen wurden, hinderte das nicht daran, geduldig ihre Ziele weiterzuverfolgen. Längst hatten sie überall im Land eine Vielzahl verschiedenster Clubs und Vereinigungen gegründet, die kulturellen und wohltätigen Zwecken und der Förderung der Jugend dienten – und offiziell natürlich ganz „unpolitisch“ waren.

Ihr Konzept dürfte problemlos aufgehen angesichts der sozialen Folgelasten einer ungezügelten wirtschaftlichen Liberalisierung (deren volkswirtschaftliche Erfolge im übrigen unbestreitbar sind): hohe Arbeitslosenquoten, vor allem unter jungen Leuten mit fachlicher Qualifikation, eine wachsende soziale Kluft zwischen schamlos präsentiertem Reichtum, der aus zweifelhaften Quellen stammt, und dem wachsenden Elend der Bevölkerung in Stadt und Land, dazu die Ausbreitung der Korruption bis in die höchsten Ränge von Staat und Gesellschaft. Ägypten ist in dieser Hinsicht ein typisches Beispiel für die Länder, die den Übergang von einer angeblich sozialistischen Planwirtschaft zu einem kaum geregelten Neoliberalismus viel zu rasch und ohne strikte demokratische Kontrolle vollziehen.

Die Islamisten profitieren von solchen demokratischen Defiziten: Indem sie die soziale Gerechtigkeit und den Kampf gegen die Korruption auf ihre Fahne schreiben, können sie den legalen politischen Parteien das Terrain streitig machen. Diese haben ein doppeltes Handicap: Zum einen ist ihre Legitimität zweifelhaft, weil sie nur vom Wohlwollen der Herrschenden abhängt, zum anderen können sie ihre Rolle nicht richtig ausfüllen, weil die bürgerlichen Freiheiten zu eingeschränkt sind. Den Islamisten dagegen stehen zur Verbreitung ihrer (selbstredend völlig „unpolitischen“) Botschaft rund fünfzigtausend Moscheen zu Verfügung, von denen viele – ironischerweise – mit öffentlichen Mitteln gebaut worden sind.

Man muß in diesem Zusammenhang nur daran erinnern, daß im derzeitigen ägyptischen Parlament, das im Dezember 1995 gewählt wurde, die Nationaldemokratische Partei von Präsident Mubarak eine Mehrheit von 94 Prozent besitzt – alle anderen politischen Gruppierungen, Rechte, Mitte und Linke zusammengenommen, sind mit kaum 3 Prozent vertreten, der Rest geht an Unabhängige. Damit wird Ägypten praktisch von einer Einheitspartei regiert, die keinen Regierungswechsel zuläßt und Gegenkräften, die ihren selbstherrlichen Entscheidungen entgegentreten könnten, nicht einmal das Existenzrecht zugesteht. So kann es nicht überraschen, daß den Islamisten immer mehr die Rolle zugefallen ist, das Banner der Demokratie hochzuhalten – auch wenn es sich um eine Einrichtung des „Westens“ handelt, von dem sie bislang nichts wissen wollten.

Obwohl die meisten der zugelassenen Oppositionsparteien eine Legalisierung der Muslimbrüder ablehnen (weil sie ihnen als gefährliche politische Konkurrenz erscheinen), ist ihnen nach dem Attentat von Luxor doch klargeworden, daß in Ägypten das entscheidende Problem nicht der weltliche Charakter des Staates ist (der im Laufe der Jahre immer islamischer wurde, weil die Nasseristen damit die Islamisten in Schach halten wollten), sondern die Demokratie. Die Opposition hat sich daher zur Gründung einer Einheitsfront entschlossen, der die Muslimbrüder, die Kommunisten (die ebenfalls verboten, aber geduldet sind), die (linke) Vereinigung für den Fortschritt, die (rechts-liberale) Wafd-Partei und die (islamistisch orientierte) Sozialistische Partei der Arbeit angehören. In der gemeinsamen Plattform werden die „völlige Demokratisierung“ der Institutionen, die Aufhebung des Kriegsrechts und die Achtung der bürgerlichen Freiheiten gefordert.

Statt der Eindämmung durch Unterdrückung wird nun also eine andere Strategie verfolgt: die Integration der Islamisten, in der Hoffnung, auf diese Weise das Krebsgeschwür des Terrorismus zu stoppen und schließlich abzutöten. Ob das funktioniert, bleibt ungewiß, aber nachdem alle früheren Versuche gescheitert sind, mag es sich bei allen Zweifeln lohnen, den Versuch zu machen.

dt. Edgar Peinelt

* Nahost-Korrespondent von Le Monde.

Fußnote: 1 Vgl. „Les États arabes face à la contestation islamiste“, hrsg. von Bassma Kodmani-Darwish und May Chartouni-Dubarry, Paris (Armand Colin) 1997, sowie, in arabisch, Hala Mustapha, „Al Daula wa'l harakat al-Islamija al-Muarada, bain al-muhadena wa'l muwagha“ („Der Staat und die islamistischen Oppositionsbewegungen – zwischen Befriedung und Konfrontation“), Kairo (Al-Mahrussa) 1996.

Le Monde diplomatique vom 16.01.1998, von ÉRIC ROULEAU