Zerstörte Kindheit
Von IGNACIO RAMONET
MANCHE Zeichen sind untrüglich. Nach den Bettlern, der Arbeitslosigkeit, den Suppenküchen und den „bedrohlichen Klassen“ in den Vorstädten gibt es nun auch wieder Kinder-Arbeiter – ein weiterer Beweis für die Entmenschlichung, zu der die wirtschaftliche Globalisierung an dieser Jahrhundertwende führt.
Schon im 19. Jahrhundert war die massive Zunahme der Ausbeutung von Kindern durch Arbeit ein besonders krasses Zeichen für die Verschärfung der gesellschaftlichen Ungleichheit gewesen. 1840 beschrieb Louis Villermé in einem berühmten Bericht1 die Lebensbedingungen dieser Kinder-Arbeiter, die in Frankreich täglich 14 Stunden arbeiten mußten: „Diese Vielzahl an Kindern, manche noch nicht sieben Jahre alt, die mager, ausgezehrt und in Lumpen barfuß zu den Manufakturen gehen, durch Regen und Schlamm, und denen man all ihr Elend, ihr Leid und ihre Verzweiflung ansehen kann.“
Diese Situation, die Schriftsteller wie Charles Dickens, Victor Hugo, Hector Malot, Jules Vallès, Emile Zola und Edmondo de Amicis angeprangert hatten, betrachteten manche Liberale hingegen als „notwendiges Übel“: „Dieses Elend“, schrieb einer, „ist ein heilsames Schauspiel für den gesunden Teil der weniger gut gestellten Klassen; es soll sie mit Schrecken erfüllen und läßt sie nach den schwierigen Tugenden streben, die sie benötigen, um bessere Lebensbedingungen zu erlangen.“2
Bei einem derartigen Zynismus wird die Empörung nur zu verständlich, die etwa Karl Marx 1848 dazu veranlaßt hat, in seinem „Manifest der Kommunistischen Partei“ die Großindustrie anzuprangern, die „alle Familienbande für die Proletarier zerrissen und die Kinder in einfache Handelsartikel und Arbeitsinstrumente verwandelt“ hat, und der deshalb „die Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form“ forderte.3
Die Geschichte zeigt, daß die fortschreitende Abschaffung der Kinderarbeit und die Einführung der Schulpflicht in Europa und Nordamerika unabdingbare Voraussetzungen für die Entwicklung darstellten. Erst im Jahre 1990 ratifizierten jedoch die UNO-Mitgliedsländer – mit Ausnahme der USA – die Konvention über die Rechte der Kinder und legten gemäß dem seit 1973 wiederholt geäußerten Wunsch der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ein Mindestalter für den Eintritt in die Arbeitswelt fest.
Dennoch arbeiten etwa 250 Millionen Kinder, wobei die jüngsten unter ihnen nicht einmal fünf Jahre alt sind. Die Mehrzahl lebt in den armen Ländern des Südens, doch auch im Norden werden viele ausgebeutet. In der gesamten Europäischen Union sind es vermutlich mehr als zwei Millionen, wobei die Kinderarbeit in Regionen wie Großbritannien, die wirtschaftsliberale Umstrukturierungen hinter sich haben, besonders häufig auftritt. Aber selbst in Ländern, die als sozial fortschrittlich angesehen werden, wie Dänemark und die Niederlande, taucht das Phänomen der Kinderarbeit wieder auf. „Auch in Frankreich“, versichert ein Fachmann vom Weltkinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef), „gehen Zehntausende Kinder unter dem Deckmantel der Ausbildung einer Lohnarbeit nach. 59 Prozent der Lehrlinge arbeiten mehr als 40, manche bis zu 60 Stunden pro Woche.“4
WELTWEIT wächst die Zahl der Kinder-Arbeiter unaufhörlich; in manchen Ländern ist es eine Massenplage. Zu Dutzenden Millionen werden Kinder unter sechs Jahren ausgebeutet.5 In Lateinamerika arbeitet jedes fünfte Kind. In Afrika jedes dritte. In Asien jedes zweite. Der Sektor, in dem am meisten Kinder beschäftigt werden, ist die Landwirtschaft. Hier werden Schulden oft in Knechtschaftsverhältnissen „abgearbeitet“: Die Kinder müssen mit ihrer Arbeit die Schulden bezahlen, die ihre Eltern oder Großeltern gemacht haben. Diese Kinder sind de facto Sklaven und werden nie etwas anderes sein. Sie werden ihr Leben lang auf der Plantage bleiben, dort heiraten und neue Sklaven zur Welt bringen.
Viele Kinder werden in der Schattenökonomie beschäftigt, im Handwerk, im Kleinhandel oder beim Betteln. Zu den schlimmsten Bereichen gehört die Arbeit als Hausbedienstete (im Maghreb, im Nahen Osten, in Westafrika und Lateinamerika), da das Kind vielfacher Erniedrigung und Gewalt, zumal sexueller Art, ausgesetzt ist. Der Hauptgrund für diese Not ist die Armut, und diese verbreitet und vertieft sich durch die ökonomische Globalisierung.
Von 6 Millionen Erdenbewohnern sind 5 Millionen arm. Angesichts dieser Tatsache werden immer mehr Vereinigungen im Umfeld der ILO und der Unicef aktiv, um einen der empörendsten Skandale unserer Zeit zu beenden.
Mit dieser Zielsetzung beginnt in diesem Monat ein weltweiter Sternmarsch gegen die Kinderarbeit, dem sich mehr als 400 regierungsunabhängige Organisationen (Gewerkschaften eingeschlossen) aus 82 Ländern angeschlossen haben. Er wird am 4. Juni 1998 in Genf eintreffen, wo die Internationale Konferenz über die Arbeit im Rahmen der ILO ein Abkommen verabschieden soll, das die unerträglichsten Formen der Kinderarbeit ächtet.6 Ein Projekt, das für jedes Kind das heilige Recht auf ein würdiges Leben wiederherstellen will, verdient jede nur mögliche Unterstützung.