Dr. Seltsam plant für das nächste Jahrhundert
EINE Raumstation, bestehend aus einem Arsenal von Trägerwaffensystemen, aus Überschallbombern, Marschflugkörpern und anderen Raumfahrzeugen, mit deren Hilfe man Satelliten aussetzen und bergen, aber auch feindliche Raumstationen angreifen kann – Ist das Science-fiction? Keineswegs. All diese Projekte gehören zum neuen Rüstungsprogramm der Vereinigten Staaten. Dahinter steht das Ziel, die einzige Supermacht der Erde zu werden und ohne eigene Verluste gleichzeitig zwei bewaffnete Konflikte von der Dimension des Golfkriegs führen zu können. Es bedeutet aber auch die Vorbereitung auf Kriege, die keine klaren Grenzen mehr zwischen militärischer und ziviler Ebene oder zwischen Unruhen und Aufstand erkennen lassen.
Von MAURICE NAJMAN *
Die Weltordnung, die auf der Konfrontation der beiden Supermächte beruhte, welche die Bombe besaßen, ist nicht mehr. Die „neue Weltordnung“ ist Utopie geblieben; überall dominiert die Unordnung, und der Krieg scheint seine Rechte zurückzufordern.
Zu den blutigen Ausbrüchen ethnischer, religiöser oder nationalistischer Leidenschaften sind ganz neue Bedrohungen hinzugekommen. Damit sind „Grauzonen“ entstanden, in denen das Völkerrecht (und selbst das Staatsrecht) außer Kraft gesetzt ist; die Zusammenarbeit zwischen grenzüberschreitenden kriminellen Vereinigungen (Drogenmafia, Finanzkriminalität und andere mehr) wird immer enger; dazu kommen neue Gefahren wie der atomare Terrorismus, die Bedrohung durch biologische und chemische Waffen und so weiter.
Der wichtigste neue Sachverhalt, auf den sich die Militärs einzustellen haben, sei „die ständig zunehmende Unsicherheit“, schreibt Paul-Yvan de Saint-Germain, Leiter des Zentrums für strategische und technologische Forschung und Studien (Centre de recherches et d'études sur les stratégies et les technologies – Crest)1 . Diese Unsicherheit hat zunächst mit der technischen Entwicklung zu tun, denn es läßt sich sehr schwer absehen, welche mittel- und langfristigen Implikationen die Explosion der Informationstechnologien und die „Entstehung einer Infosphäre“ haben werden, die nach Einschätzung von de Saint-Germain „vom zivilen Markt gesteuert werden“ – ein Unsicherheitsfaktor, der noch zu den geopolitischen Unwägbarkeiten hinzukommt.
An die Stelle der herkömmlichen zwischenstaatlichen Konflikte treten innerstaatliche Streitigkeiten: Die ehemalige Sowjetunion erlebt eine Balkanisierung, Jugoslawien ist zerfallen, Ruanda, Burundi, Afghanistan, Somalia und Liberia sind implodiert. In Lateinamerika oder Asien sind ehemalige Guerillagebiete zu zentralen Umschlagplätzen für diverse heiße Waren geworden. Inzwischen gibt es viele Privatarmeen, die ebensogut organisiert und waffentechnisch ausgerüstet sind wie die staatlichen Armeen. Die plötzliche transnationale Mobilität der Kapital- wie der Informationsströme wirft neue schwerwiegende Sicherheitsprobleme auf.
Der Informationskrieg hat die Bereiche von Wirtschaft und Kultur erfaßt, tagtäglich werden die Computernetze von „Piraten“ angegriffen, die im Dienste großer Unternehmen oder des Staates stehen. Die Gefahr eines elektronischen Pearl Harbour wird vom Weißen Haus und vom Pentagon ernst genommen. „Die Szenarien sind ebenso unbekannt wie zahlreich“2 , sorgen sich die Militärs, die neuerdings lernen müssen, im Ungewissen zu arbeiten.
Angesichts dieser neuen Gefahren haben die für die Konflikte von gestern entwickelten Doktrinen weitgehend ihre Relevanz verloren. Jetzt geht es vor allem darum, den Gegner technisch zu neutralisieren, ihn taub und blind zu machen. Es ist wichtiger, die Lage zu diktieren, als Konflikte (mit angedrohter Waffengewalt) zu regeln oder gar wirklich Krieg zu führen. Kriege werden gewonnen, noch bevor die erste Rakete abgefeuert wird.
Der klassische Krieg, der tötet, weil er die Gegner wirklich miteinander konfrontiert, ist damit natürlich nicht aus der Welt. So orientiert sich das Pentagon inzwischen an einem Dokument mit dem Titel Bottom up Review, dem zufolge die amerikanische Militärmacht darauf eingestellt sein muß, zwei dem Golfkrieg vergleichbare regionale Konflikte gleichzeitig auszutragen3 . Zugleich behalten sich die USA immer noch die Möglichkeit vor, einen nuklearen Erstschlag auszulösen, auch wenn Präsident Bill Clinton Ende 1997 offiziell auf die Vorstellung verzichtet hat, einen größeren Atomkrieg gewinnen zu wollen. Entscheiden wird somit die Fähigkeit der US-amerikanischen Streitkräfte, diese „altmodischen“ Konflikte gleichzeitig zu führen. Allgemeiner ausgedrückt will Washington in der Lage sein, überall dort erfolgreich die Ordnung wiederherzustellen, wo durch deren Gefährdung US-amerikanische Interessen ernstlich bedroht sind.
„Nach dem Verschwinden der UdSSR“, heißt es in dem 1994 vorgelegten Verteidigungsweißbuch der französischen Regierung, „sind die Vereinigten Staaten nach Kräften bemüht, die inneren Grundlagen ihrer Sicherheit auszubauen, auch wenn die Verminderung des relativen Gewichts der Großmacht Amerika wohl weiter betrieben werden muß (...). Zwischen dem Traum von der leadership- Rolle in einer neuen Weltordnung und der Versuchung, sich auf sich selbst zurückzuziehen, gibt es offenbar die dritte Möglichkeit, eine Großmachtpolitik festzuschreiben, die ihre strategischen Interessen und entsprechend auch die strategischen Zonen bestimmt, in denen sie über die nötigen Mittel verfügt, um sie im Falle einer Bedrohung verteidigen zu können (...). Die Fähigkeit, das Problem der Geschwindigkeit zu meistern – vor allem in der Informationstechnik und den immateriellen Räumen – hat vorrangige Bedeutung gewonnen. Seitdem die nachrichtendienstlichen Mittel der Staaten erheblich raffinierter und auf neue Risiken orientiert sein müssen, haben die Vereinigten Staaten eine Art Führungsrolle unter den Industrieländern errungen. Diese Orientierung ist Teil einer Strategie, mit der sich gewaltsame Konfrontationen und Kampfhandlungen zwar nicht systematisch ausschließen lassen, die es aber leichter macht, den Ort der Auseinandersetzung zu bestimmen, Menschenleben zu schonen und Konflikte flexibler zu handhaben, die man vor einer immer besser informierten Öffentlichkeit und politischen Führung zu rechtfertigen hat.“4
Menschenleere Schlachtfelder
DER Vorsprung der Vereinigten Staaten ist offenkundig. Kaum war die Berliner Mauer gefallen, kaum waren die letzten Soldaten der Operation Wüstensturm zurückgekehrt, machten sich die Denkfabriken mit ihren Tausenden Forschern, die Universitäten, Labors und Verfassungsexperten des Pentagons an die Arbeit. In den Generalstäben entstand der Begriff Revolution in the Military Affairs (RMA). Der Begriff scheint nicht übertrieben; es handelt sich tatsächlich um eine umfassende Neubestimmung, die sich allmählich zu neuen strategischen und operativen Konzepten sowie zu höchst konkreten Organisationen und Forschungs- und Entwicklungsprogrammen (neue Waffen, neue Kommunikationstechniken und so weiter) vortastet. Diese Programme befinden sich bereits in der Erprobungsphase, denn jede der einzelnen Waffengattungen ist dabei, das neue Konzept für ihren jeweiligen Aufgabenbereich umzusetzen: das Heer mit dem Projekt „Force XXI“, die Luftwaffe mit „Nueva Vista“, die Marine mit „See Dragon“ und so weiter.
Im Hinblick auf die neuen Bedrohungen erhält sogar der Begriff „Sieg“ einen neuen Sinn. Es geht nicht mehr so sehr darum, den Gegner in einer Konfrontation „in die Knie zu zwingen“, als vielmehr, ihm „zuvorzukommen“, einen Schritt „voraus zu sein“, also seine Absichten und Möglichkeiten schon vorab zu erkennen. Die Revolution der Militärtechnologie ermöglicht es durch unglaubliche Fortschritte bei der Miniaturisierung der immer „intelligenteren“ elektronischen Ausstattung, die Mittel den geforderten Zwecken anzupassen.
Daraus ergeben sich die typischen Merkmale der künftigen Streitkräfte, die aus amtlichen US-amerikanischen Dokumenten deutlich werden, aber auch aus bestimmten französischen Texten wie der Studie von General Alain Baer: „Omnipräsenz der Nachrichtendienste, wachsende Anforderungen hinsichtlich Mobilität und schnellem Truppeneinsatz, vielseitige und flexible Bausätze von Ausrüstungsprogrammen und Waffensystemen, Technik, variabel kombinierbare, elastische und anpassungsfähige Einheiten, Fähigkeit zur übergreifenden Zusammenarbeit und wachsende Koordinierung aller Streitkräfte (Heer, Luftwaffe und Marine), qualitativ neue Bedeutung des ,Informationsschlachtfeldes‘ und des ,Medieneinsatzes‘, Verkoppelung von diplomatisch-politischen und militärischen Entscheidungen und Maßnahmen, die ständige Notwendigkeit von Simulation (...).“5
Um dieses Programm umzusetzen, sitzen die Generalstäbe an der Erarbeitung neuer Waffentypen, oder sagen wir lieber von Waffen-„Systemen“ und -„Bausätzen“. Da gibt es die „intelligenten“ (lasergesteuerten) Raketen, mit denen sich „lokalisierte“ Schläge von großer Intensität ausführen lassen, da gibt es Satelliten, die Ziele mit einer Auflösung von zwei Metern ausmachen können, und immer leistungsfähigere elektronische Informations- und Kommunikationssysteme, oder ganz hervorragende Apparate zur Digitalisierung und Simulierung des Gefechtsfeldes. Und vor allem gibt es die nichttödlichen Waffen, die andere Waffen ausschalten und Menschen lähmen, aber nicht töten sollen.
Der Krieg von morgen wird sich im wesentlichen darauf konzentrieren, den Menschen vom Gefechtsfeld fernzuhalten. Der Soldat wird – an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine festgebannt – vor allem einen Informationskrieg führen. Zur Zeit werden an der National Defense University in Washington die ersten „Informationskrieger“ (Information Warriors) ausgebildet.
Diese militärische Revolution wird vor allem von dem unglaublichen Tempo bestimmt, mit dem die Fähigkeit zunimmt, Informationen zu sammeln, aufzubereiten, einzuordnen und mit kaum vorstellbarer Geschwindigkeit auf immer mehr Ziele innerhalb eines immer größeren Radius zu verteilen. Zugleich entzieht man damit auch dem Gegner die nötigen Informationen. „Das für den Erfolg ausschlaggebende Element in künftigen Konflikten könnte also immer häufiger in der Fähigkeit bestehen, ein Informationsgefälle zwischen Freund und Feind herzustellen und auszubauen“, schreibt Andrew Krepinevich, der Leiter des Zentrums für strategische und haushaltspolitische Evaluierung des Pentagons und einer der Theoretiker der RMA6 . Aber auch im konventionellen Bereich wurden Munition und Waffen hinsichtlich Reichweite, Präzision und tödlicher Wirkung erheblich weiterentwickelt.
Bei den US-Amerikanern, schreibt Paul-Yvan de Saint-Germain, ist ganz allgemein „das gesamte Gefechtsfeld stets als einheitliches integriertes System aufzufassen, das von Informationsnetzen aller Art durchzogen ist, wozu auch kommerzielle Netze und öffentliche Telefonleitungen gehören können. Dieses System nimmt verschiedene Funktionen wahr (Beobachtung, Feuer, Logistik und so weiter), die zwar verschiedenartig, jedoch nicht mehr voneinander unabhängig sind und sich auch nicht mehr einzeln nacheinander wahrnehmen lassen.“7 Information ist also gleichzeitig ein „Mittel im Dienste aller Streitkräfte“, ein „Milieu“, ein „Umfeld“ (die Infosphäre, die viel größer ist als die militärische Sphäre) und ein „Aktivposten“. Daher wird der Krieg von morgen vor allem ein Krieg sein, der mittels und inmitten von Informationen um Informationen geführt wird.
Der zentrale Begriff der RMA, die Information Warfare – der Informationskrieg –, breitet sich also in alle Himmelsrichtungen aus. Es handelt sich um einen Krieg zur Erlangung, Analyse und Verbreitung von Informationen, vor allem aber um einen elektronischen offensiven und defensiven Krieg, besteht er doch darin, die elektronischen Schaltkreise des Gegners „anzugreifen“, um sie zu stören, zu zerstören oder ihren Inhalt mit Hilfe von „logischen Bomben“ und Viren aller Art zu verändern; und natürlich muß man dabei auch die eigene Software gegen feindliche Eindringlinge schützen. Die Informatikpiraten sind die neuen Söldner dieser Art von Krieg.
Informationskrieg heißt auch „Medientaktik“, also die programmierte Manipulation von Medien, zumal des Fernsehens. Wenn die US-amerikanischen Entscheidungsträger sehr rasch ein Bewußtsein für den CNN-Effekt entwickelt haben, so auch deshalb, weil die Amerikaner ihre Kinder nicht gerne auf fernen Schlachtfeldern sterben sehen und dabei nicht einmal verstehen, worum es geht. Daher die neue Kriegsphilosophie mit dem Titel „zero- death“ (Null-Tod).
Die Absicht, zu „siegen, ohne zu töten“, zeigt sich in einer Richtlinie des Pentagons über die Entwicklung der nichttödlichen Waffen. Elektronische Waffen sind von Natur aus nicht tödlich und werden inzwischen bei allen Waffensystemen eingesetzt (die heute verfügbaren Waffen bestehen zu mindestens 40 Prozent aus elektronischen Komponenten).
Aber die Qualität „nichttödlich“ gilt vor allem für Konflikte unterhalb des Krieges. Mit der Ausarbeitung der einschlägigen Richtlinie war denn auch die „Abteilung für Konflikte niedriger Intensität und besondere Maßnahmen“ beim US-amerikanischen Verteidigungsministerium betraut. In Konflikten, in denen man Soldaten und Zivilisten nicht auseinanderhalten kann und die Grenzen zwischen Unruhen und Aufständen zerfließen, geht es weniger darum, zu gewinnen, als verhindernd einzuschreiten; es geht um Krisenmanagement und den Versuch, ohne direkte, bewaffnete Kampfhandlungen auszukommen, also von vornherein die Deeskalation zu organisieren, kurz: um eine friedenserhaltende Maßnahme. Soll die äußerste Zuspitzung verhindert werden, muß das Arsenal der nichttödlichen Waffen – die zum Teil einem futuristischen Comic aus den fünfziger Jahren entsprungen sein könnten (elektrische Netze, Klebeschaum, unzerstörbare Tinte, Projektile, die krank machen) – die Lücke zwischen dem Schlagstock des Polizisten und dem Maschinengewehr des Soldaten füllen.
Diese kampfunfähig machenden, lähmenden Waffen machen sich sämtliche technischen Möglichkeiten zunutze: Lasertechnik, Schall- und elektromagnetische Wellen, neue Werkstoffe, die „kleben“ und Menschen und Materie „einfrieren“ und sie damit außer Gefecht setzen können.
Aber nicht nur Menschen, sondern auch militärisches Gerät (Panzer, Truppentransporter usw.) und Infrastrukturbauten (Straßen, Flughäfen usw.) sind als Ziele dieser nichttödlichen Waffen vorgesehen, zu deren Pionieren ein skurriler Haufen von militärischen New-Age-Fans gehört, wie etwa Oberst John Alexander, der ehemalige Kommandeur der Green Berets aus dem Vietnamkrieg. Diese Leute haben Neurolinguistik studiert, sind auf Parapsychologie abgefahren oder glauben, daß es außerirdisches Leben gibt.
Über Blitzschläge und Distanzkriege
MIT der Entwicklung dieser nichttödlichen Waffen bereiten sich die Streitkräfte der Vereinigten Staaten – vor allem die Marines – auf Operationen vor, die in gewisser Hinsicht eher polizeilicher als militärischer Natur sind. In der US- amerikanischen Doktrin scheinen der äußere und der innere Feind miteinander zu verschwimmen. In den Heeresakademien analysiert man sehr genau das Eingreifen der Nationalgarde und bestimmter Militäreinheiten bei Unruhen in den Ghettos von Los Angeles oder auch der brasilianischen Armee in den Favelas von Rio. Die Marines wurden vor ihrem Einsatz in Somalia vom Leiter des Lagezentrums beim Sheriff von Los Angeles mit dem Gebrauch nichttödlicher Waffen vertraut gemacht. Für Washington ist die Aufrechterhaltung der Ordnung inzwischen ein Begriff, der sich über die lokale, nationale und internationale Dimension erstreckt. Die Armee nimmt immer mehr „polizeilichen“ Charakter an. Bezeichnenderweise steht das Programm für nichttödliche Waffen unter der Aufsicht eines gemeinsamen Ausschusses von Justiz- und Verteidigungsministerium, doch es gibt eine Minderheitsgruppe im militärischen Establishment der USA und zudem eine Mehrheit der französischen Kollegen, die diesen Trend offen bekämpft.
Sogar der echte Krieg muß, wenn er einmal ausgebrochen ist, ein Distanzkrieg bleiben. Die tödlichen Schläge werden eine Art letztes Mittel darstellen und auf die empfindlichen Punkte des Gegners zielen. Kulminiert die Krise zu einem Konflikt, wird nach Ansicht der militärischen Zukunftsforscher bereits der präzise, wohldosierte Schlag gegen die entscheidenden Punkte des Feindes ausreichen, um diesen zur Vernunft zu bringen. Solche Schläge werden „blitzartig“ und „chirurgisch“ sein, aber was das bedeuten kann, hat man im Krieg gegen den Irak gesehen, der Zehntausende Todesopfer gekostet hat. Mit dem „zero-death“-Konzept sind natürlich in erster Linie „unsere“ Soldaten gemeint.
Die RMA wirft allerdings eine Reihe von Grundsatzfragen auf. Für ihre Planer ist der Krieg eine Art gigantische multidimensionale Angriffsoperation, und auf dem Schlachtfeld spielt sich vornehmlich eine allgemeine Geiselnahme ab. Die neuen Technologien, vor allem im Informationsbereich, sollen es ermöglichen, die Kampftruppen (vom Infanteristen bis zum Kommandanten) aus dem traditionellen „Pulverdampf des Gefechts“ herauszuholen, der sich heutzutage durch die Unübersichtlichkeit der kriegerischen Szenarien noch dichter ballt.
Die Front im klassischen Sinne existiert nicht mehr. Sie ist stets in Bewegung und nicht scharf umrissen. Sie macht es erforderlich, daß Einheiten wie Module eingesetzt werden, die sich mitten im gegnerischen Umfeld bewegen, um Kommandooperationen vorzubereiten und zu starten, und daher ständig in Echtzeit sämtliche vorhandenen Informationen benötigen, um sich zu verteidigen und anzugreifen. Aber droht nicht dieser ununterbrochene Informationsfluß die Entscheidungsfindung immer schwieriger zu machen und den „Nebel“ immer dichter werden zu lassen, anstatt die gewünschte Transparenz herzustellen? Redundante und inkohärente Informationen verstärken das Bedürfnis, sie abzugleichen und verbindlich auszuwerten. Es besteht die Gefahr, daß die „leisen“, aber wichtigen Signale in einem „anschwellenden Grundgeräusch“ untergehen. Dem Auswerter wird es selbst mit Hilfe künftiger intelligenter Informatikagenten immer schwerer fallen, ein ausuferndes Informationsvolumen möglichst in Echtzeit aufzubereiten. Dies jedenfalls war das Ergebnis der ersten „digitalen Arbeitstage“, die im Herbst 1997 in Fort Irwin stattfanden.
Manche Forscher kritisieren die „technologischen Heilserwartungen“, die dem RMA zugrunde liegen. Andere fragen sich, was ein solcher Hochtechnologiekrieg überhaupt soll, wo doch die Armeen vielerorts noch im „Agrarzeitalter“ stecken oder gerade einmal das „Industriezeitalter“ der Entwicklungsländer erreicht haben. Es gibt aber auch Militärs, die der Öffentlichkeit nichts vormachen wollen. Für sie ist der Krieg unvereinbar mit dem „zero-death“-Versprechen. Diese Illusion wirft sogar eine noch viel grundlegendere Frage auf: Was wäre das für ein Land, das es nicht wert wäre, den Einsatz des eigenen Lebens zu riskieren?
In Europa sind sich viele Offiziere darüber im klaren, daß die Vereinigten Staaten immer noch das Ziel der Beherrschung der Welt verfolgen und daß dies auch für die RMA zutrifft. Die amerikanischen Dokumente machen daraus auch keinen Hehl. Es geht in ihnen um Information dominance, um die „Vormachtstellung“ und die „Aufrechterhaltung strategischer Vorteile“.
Für Verbündete, die auch Konkurrenten sind, schafft das natürlich Probleme. Die Konflikte, die sich innerhalb der internationalen Streitkräfte in Bosnien am diskriminierenden Umgang der Vereinigten Staaten mit dem elektronischen Schutzschirm entzündet haben, sind ein Zeichen dafür, wie sich die Meinungsverschiedenheiten zugespitzt haben. Angesichts dessen haben manche Europäer bereits den Gedanken geäußert, der Krieg sei für die Vereinigten Staaten zu einem Distanzkrieg geworden, bei dem die eigentliche kämpfende Truppe – das „Fußvolk“ – von den Verbündeten gestellt würde.
dt. Sabine Scheidemann
* Journalist