Die Welt als Wille und Zwangsvorstellung
Von JEAN-LOUP MOTCHANE *
NUR zu leicht verfällt man beim Thema Medien in Gemeinplätze und Klischees; zwischen der Verherrlichung der neuen Kommunikationstechnologien und ihrer abschließenden Verurteilung liegt nur ein schmaler Grat. Schwieriger allerdings ist eine Analyse ihrer sozialen und politischen Implikationen, sind doch die Medien eine regelrechte Blackbox, der Phantasmen aller Art entspringen. Allen voran das Phantasma ihrer „Allmacht“. Wenn es diese aber wirklich gibt, wie funktioniert sie, und wie kann man ihre Wirkung abschätzen?
Angesichts des massiven Einsatzes von Propaganda und Werbung, mit dem autoritäre Regime und selbst demokratische Staaten arbeiten, und des erstaunlich geringen Effekts, den sie damit erzielen1 , ist die Vorstellung von der Allmacht der Medien weitgehend unhaltbar. Auch hat bis heute noch keine seriöse Studie nachweisen können, daß die zunehmende Gewalt in unseren Gesellschaften auf vermehrte Gewaltdarstellung im Fernsehen zurückgeht. Das will natürlich nicht besagen, daß die Medien keinen Einfluß auf die öffentliche Meinung hätten. Es fragt sich nur, wie man den Einfluß messen kann.
Manche meinen, die Medien seien nur ein mehr oder weniger getreues und manipuliertes Abbild der globalisierten Gesellschaft. In der Regel würden sie nur ein Bild zurückspiegeln, das dem gängigen Modell entspricht, der herrschenden Lehre von den gesellschaftlichen Beziehungen und all den immanenten, narkotisierenden Klischeevorstellungen. Dieses Bild der Öffentlichkeit wirke auf ebendiese wiederum zurück, in welchem Ausmaß auch immer. Kritischere Stimmen meinen, die Medien sanktionierten die Unterordnung von Kultur, Information und Politik unter die Funktionslogik von Wirtschaft und Werbung.
Die schöne neue als einzig mögliche Welt
NACH wie vor ist die Einflußnahme der Medien auf die Gesellschaft unklar, unvorhersehbar und schwer zu kontrollieren. Das dürfte den politischen Manipulateuren und den Werbefachleuten Kopfzerbrechen bereiten, während es all jene beruhigt, denen nicht daran gelegen ist, daß Politik, Wirtschaft und Finanzwelt über ein solches Machtinstrument verfügen.
Seit langem weiß man allerdings, mit welchen Mitteln sich die negativen Auswirkungen des medialen Systems begrenzen lassen: Es bedarf dazu eines Mindestmaßes an politischer Unabhängigkeit, vor allem aber eines Teilbereichs von Öffentlichkeit, der von Werbeeinnahmen gänzlich unabhängig ist.2 Leider ist die Unabhängigkeit der Medien zwar eine notwendige Voraussetzung, jedoch keineswegs eine Gewähr für ihre Unschädlichkeit.
Das stark vereinfachte, aus der Linguistik stammende Kommunikationsschema vom „Sender“ und „Empfänger“, demzufolge der Empfänger lediglich eine vom Sender verschlüsselte Botschaft entschlüsselt, ist schon seit langem überholt. Allem Anschein zum Trotz besitzen die Menschen, zumindest die Erwachsenen, gewisse relativ gut funktionierende Schutzmechanismen gegen mediale Manipulation. Das erübrigt aber weder eine Erziehung zum adäquaten Umgang mit Fernsehbildern noch die Kritik an Gewaltdarstellungen oder an politischer und wirtschaftlicher Instrumentalisierung der Medien.
Wir sind heute so sehr von Bildern und Tönen überschwemmt, daß die Faszination des Fernsehens – jener weichen Droge mit den Nebenwirkungen Abhängigkeit, Angst, Frustration, Schuldgefühl – schon bald einer gewissen Abgeklärtheit weichen könnte. Multimedia und die neuen Kommunikationstechniken sind zwar immer noch keine neutralen Erfindungen, erscheinen aber letztlich als weit weniger gefährlich als das Gerede über sie.
Die Illusionen, die sich um die Kommunikationsgesellschaft und ihre Folgen ranken, sind weit beunruhigender als der tatsächliche Einfluß der Medien auf die Menschen oder auf den Zustand der Demokratie. Allenthalben kann man heute hören, wie Wissen und Information mit dem multimedialen Angebot verwechselt werden – etwa mit der CD-ROM, die durch die Vereinigung von Schrift, Bild und Ton angeblich „das Ausbildungsproblem grundlegend umgestalten [kann]. Angesichts der unendlichen Speicherkapazität für alle Formen des Wissens hat unser Bildungssystem heute die Aufgabe, die Schüler mit der Kunst vertraut zu machen, sich innerhalb dieser Wissensbestände zurechtzufinden.“3
Nach dem Traum von der Abschaffung der Lehrer beziehungsweise ihrer Umwandlung in „Lotsen im Informationsdschungel“, nach der phantastischen Vorstellung vom voll vernetzten Leben und von virtuellen Welten, zeichnet sich nun das Bild einer kollektiven Intelligenz ab, deren untereinander vernetzte Individuen „eigenständig organisierte beziehungsweise ,molekulare‘ Gruppen [bilden], die das Ideal der direkten Demokratie“ als verwirklicht erscheinen lassen.4 Dahinter verbirgt sich Norbert Wieners5 Entwurf einer transparenten Gesellschaft, die aus „kommunizierenden Maschinen besteht und Teil eines kollektiven Systems der Informationsverarbeitung“6 ist. Es handelt sich hier um einen weiteren Mythos, um den der künstlichen Intelligenz, der glauben machen will: Wenn es möglich ist, dem Menschen ebenbürtige Maschinen zu bauen, so weil Menschen strukturiert sind wie Maschinen.
Ein neuer Individualismus ist im Entstehen begriffen, meint der Essayist Philippe Breton, in einer „Gesellschaft, in der man immer mehr kommuniziert und sich immer weniger begegnet“. Je mehr die Privatheit zugunsten einer Ausweitung des öffentlichen Raums zurücktritt – dies zeigt sich etwa an den sogenannten Reality Shows, in denen die Zuschauer selbst ihre Intimsphäre preisgeben –, desto stärker macht sich eine gewisse Xenophobie bemerkbar, sprich: die Forderung, gegen das Eindringen alles Fremden geschützt zu werden. Indem alles ans Licht gezerrt wird, lösen die nunmehr transparenten Individuen bei Ihresgleichen keine Gefühle mehr aus.
Hinter der Vorstellung, daß die Kommunikation, sofern man ihre Techniken kennt und beherrscht, die Menschen befreit, zeichnen sich die Konturen einer harmonischen Gesellschaft ab, in der individuelle und soziale Konflikte über adäquate Kommunikation lösbar werden. Im Austausch der Meinungen über das Netz sucht man Klärung und findet Konsens. Dann bräuchte es keinen Staat mehr, der für das Gemeinwohl zuständig ist; keine Gesetze, die allgemeinverbindliche Verhaltensregeln aufstellen (da sich diese ja im Austausch herstellen); keine Politik und keine Vermittlungsinstanzen, die Sender und Empfänger vernetzen; keine Nationalstaaten, da das Global Village Wirklichkeit ist; und last not least keine Geschichte mehr, weil es keine Zukunft mehr gibt. Die Vertreter der Kommunikationsindustrie und des Neoliberalismus stützen sich dabei auf eine Vorstellung von Moderne, die nur eine Welt gelten läßt: Die Welt der technischen Neuerungen, die gänzlich dem Dienst an den Marktgesetzen verpflichtet ist.
Der Erfolg der Kommunikationsutopien setzt die Existenz einer großen Leerstelle voraus: Es fehlt an jeglicher politischer Perspektive, es ist fast unmöglich, auf die global angelegten (von den USA initiierten und von Europa derzeit mitgetragenen) Spielregeln Einfluß zu nehmen, und die perfekte Kohärenz der neoliberalen Ideologie kann aller Welt ihr Einheitsmodell aufzwingen.
Für diese Ziele werden die neuen Kommunikationstechnologien instrumentell wie konzeptionell eingesetzt. Sie erlauben es häufig, die physischen Zwänge (von seiten des Staates wie der Wirtschaft) durch symbolische Gewalt zu ersetzen. Die Auflösung des Politischen in der Utopie der vernetzten Gesellschaft ist ein Symptom für den Niedergang des Staatsbürgergedankens und für das Verschwinden der großen Perspektiven. Angst und Einsamkeit breiten sich aus. Und verschwinden nicht, wenn man nur auf die Medien und Kommunikationstechnologien setzt.
dt. Christian Hansen
* Professor an der Universität Denis-Diderot (Paris- VII).