Weder Ausländer noch Staatsbürger
MITTE Februar haben die baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen einen Partnerschaftsvertrag mit den Vereinigten Staaten unterzeichnet, in dem Washington die Zusage macht, den Nato-Beitritt dieser Länder zu unterstützen. Und Estland verhandelt über seinen Beitritt zur Europäischen Union. Diese Perspektive liegt nicht auf der Linie russischer Interessen. Doch Moskau hat mehrfach die Bereitschaft bekundet, seine Beziehungen zu den baltischen Ländern zu normalisieren – allerdings unter der Bedingung, daß der Status der russophonen Minderheiten geklärt wird.
Von unserer Korrespondentin GUYLAINE SAFFRAIS *
„Ich bin in Riga geboren, und jetzt bekomme ich zu hören, ich sei Ausländer, ein Gast.“ Andrej Jachimowitsch ist 35 Jahre alt. Er ist Russe und Musiker, der in Jazz-Clubs spielt. Mit Underground-Konzerten und Rockkassetten, die heimlich verkauft wurden, stellte er sich in den siebziger Jahren gegen die sowjetische Einheitskultur. Doch inzwischen fühlt er sich ziemlich desorientiert. „Im März 1991 habe ich für die Unabhängigkeit gestimmt, ich fühle mich in Lettland zu Hause. Jetzt sagt man uns, wir gehörten nicht zur ,eigentlichen Nation‘. Wie lange muß man hier eigentlich leben, um dazuzugehören?“ Jachimowitsch ist einer von 685400 Nichtletten, gehört also zu jenen (heterogenen) 35 Prozent „Nichtstaatsbürgern“, die auf lettischem Territorium leben.1
Zu Beginn der neunziger Jahre erhitzten sich die Gemüter über das Staatsbürgerschafts- und das Ausländergesetz, die als entscheidende Instrumente zur Rekonstruktion der nationalen Identität gedacht waren. Die drei baltischen Republiken wollten einerseits zwar demokratische Strukturen schaffen, andererseits aber auch ein demographisches Gleichgewicht zwischen „Eingewanderten“ und „Einheimischen“ herstellen. Die Folge war ein unstetes Hinundherschwanken zwischen Integrationspolitik und Vergeltungswunsch. Da „50 Jahre Zwangsintegration in die UdSSR“ die Bevölkerungsstruktur der baltischen Länder vollkommen verändert hatten, war die Ausarbeitung der Staatsbürgerschaftsgesetze ein schwieriges Unterfangen.
Zwar droht den Russen (allgemeiner: den Russophonen, also auch Ukrainern und Weißrussen), die gestern noch Sowjetbürger waren und nunmehr de jure „Ausländer“ sind, nicht mehr die Vertreibung aus den drei neuen Staaten. Doch da sie einen Teil ihrer Identität eingebüßt hatten und die ökonomische Lage schwierig blieb, sind diese Menschen einem Gefühl der tiefen Verunsicherung ausgeliefert. Vielfach werden die Russen, die seit der sowjetischen Annexion von 19402 ins Land einwanderten, als Kolonisatoren angesehen. Sie waren nun einmal – und sei es, ohne es zu wollen – die Vollstrecker der Moskauer Sowjetisierungspolitik.
Den meisten von ihnen ist das politische und diplomatische Gezerre egal, sie wollen einfach im Baltikum bleiben. Hier sind die Lebensverhältnisse besser, und in Rußland sind sie keineswegs willkommen.
Litauen ist das einzige der drei baltischen Länder, das 98 Prozent der Russophonen unter allgemeiner Zustimmung eingebürgert hat, obwohl es anfangs im Kampf gegen die „russischen Eindringlinge“ die Speerspitze gebildet hatte. Allerdings machen die Russen auch nur 8 Prozent der Gesamtbevölkerung aus [Russophone insgesamt: 11 Prozent, E. P.]. Nur 12 Prozent aller Litauer sind der Meinung, die litauische Staatsbürgerschaft dürfe ausschließlich Personen gewährt werden, die bereits vor 1940 im Lande gelebt haben; in Estland sind es 44 und in Lettland gar 49 Prozent.
Die Integrationsmaßnahmen zielen in Litauen vornehmlich auf die organisierte und gesellschaftlich aktive polnische Minderheit, die 7 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Bei den Parlamentswahlen 1992 erhielt die Polnische Union mit 3 Prozent der Stimmen zwei Sitze. Die Russen haben keine eigenen Parlamentsabgeordneten, doch einige von ihnen betätigen sich in verschiedenen litauischen Parteien.
In der Vivulskio-Straße Nr. 18, nahe der Altstadt von Vilnius, sucht man vergeblich nach einem Schild, das den Besucher auf das Büro der „Union der Russen in Litauen“ hinweist. Lediglich die Fahne der Organisation, in den litauischen Nationalfarben grün, gelb und rot, ziert die nüchternen und kühlen Räumlichkeiten. Sergej Dimitrijew, Präsident der am 28. Oktober 1995 gegründeten Union, meint mit breitem Lächeln: „Im politischen Leben sind wir wenig präsent, wir haben vier Stadträte in Vilnius und drei in Klaipeda. Aber wir haben schon tausend Mitglieder, obwohl wir erst zwei Jahre bestehen.“ Die Union habe man gegründet, „weil ja schließlich zwei Generationen Sowjetbürger dieses Land mit ihrer Kultur geprägt haben; sie haben ihre Gesundheit und ihre Kenntnisse investiert, und jetzt gelten sie plötzlich als ,Minderheit‘. Das ist einfach kränkend.“
Sergej Dimitrijew ist weder Liberaler noch Sozialist; er will „die Rechte der Minderheiten verteidigen“, und das heißt derzeit vor allem: sich „für den Erhalt der Schulen mit russischsprachigem Unterricht einsetzen und dafür, daß die politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zu Moskau wiederhergestellt werden“. Im Vorstadtviertel Nowaja Wilnja beschweren sich die beiden früheren Programmierer Wladimir und Olga Manitschew, die nach der Schließung ihrer Fabrik auf Kleinhandel umgestiegen sind, bitter über ihre Lebensbedingungen: sie haben Angst „vor dem Morgen. Denn wenn man eine Arbeit haben will, kann man so dumm sein, wie man will, Hauptsache, man ist Litauer.“
In Estland und Lettland herrscht demgegenüber eine völlig andere Situation: Die forcierte Russifizierung, die massenhaften Deportationen während der Stalinära und die Industrialisierung – in deren Verlauf Zehntausende weitere Sowjetbürger eingewandert sind –, haben das nationale Gleichgewicht völlig aus dem Lot gebracht. Die „echten“ Letten stellen nur noch 57 Prozent der 2485400 Einwohner. Mit 40 Prozent liegt hier der Anteil der Russophonen im Vergleich mit den anderen baltischen Staaten am höchsten. Wobei die slawische Bevölkerung in den industrialisierten städtischen Zentren konzentriert ist, also dort, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten, der ökonomische Umbau am stärksten spürbar ist. In einigen Städten – wie Daugavpils und Riga in Lettland oder Narva in Estland – ist die autochthone Bevölkerung sogar in der Minderheit.3 Aber das Problem der Integration der Nichtletten beziehungsweise der Nichtesten resultiert in diesen beiden Staaten auch aus der Tatsache, daß Lettland wie Estland sich als Erben ihrer jeweiligen Vorkriegsrepubliken sehen. Aus dieser Optik stellen sich die vergangenen fünfzig Jahre dar wie eine einzige „Besatzungszeit“.
Ist eine gemeinsame Identität denkbar?
DIE Gesetzgeber haben allen Bewohnern automatisch die Staatsbürgerschaft zuerkannt, die sie vor 1940 besaßen, natürlich samt ihren Nachkommen. Die Mehrzahl der Russophonen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zugewandert sind, müssen eine langwierige und komplizierte Einbürgerungsprozedur durchlaufen.4 Die bedeutendste Hürde für die Einbürgerung ist die Anforderung, die Landessprache zu beherrschen.5
Obwohl inzwischen die Prüfungsbedingungen und das Verfahren vereinfacht wurden6 , fordert die Europäische Union noch weitere Änderungen. Der EU-Kommissar Max Van Der Stoel kam bei einem Besuch in Riga im Dezember 1996 zu dem Urteil, die Gebühren zur Eröffnung eines Einbürgerungsverfahrens seien zu hoch (30 Lats, was dem Drittel eines durchschnittlichen Monatslohns entspricht) und die Prüfungen für ältere Menschen zu kompliziert. Außerdem müsse der Modus der Einbürgerung nach Altersgruppen abgeschafft werden, denn entgegen der Erwartung wurden die Behörden nicht mit einer Flut von Anträgen überschwemmt.
Die statistischen Zahlen, die Janis Kahanovics vom Büro für Einbürgerungen zitiert, sprechen für sich: „1996 hätten 33000 Jugendliche die Staatsbürgerschaft beantragen können, doch nur 525 haben es auch getan.“ Dieses fehlende Interesse könnte verschiedene Gründe haben: unzureichende Sprachkenntnisse, die Verweigerung des Militärdienstes, den Wunsch, weiterhin ohne Visum nach Rußland reisen zu können, oder schlicht auch unzureichende Information.
Im April 1997 begann Lettland, einen Paß für nicht Eingebürgerte auszugeben, der von Rußland allerdings nicht anerkannt wird; Moskau drängt die russischsprachigen Bewohner Lettlands, für die russische Staatsbürgerschaft zu optieren. Die Regierungskoalition in Riga ist gespalten: Die eine Fraktion, „Vaterland und Freiheit“, lehnt jede Gesetzesänderung ab, die andere, die „Partei Lettlands Weg“ will – ebenso wie Präsident Guntis Ulmanis (vom „Bauernbund“) – das Verfahren vereinfachen.
Antons Seiksts, von der Partei Lettlands Weg, Vorsitzender der Menschenrechtskommission im Parlament, ist der Ansicht, man sollte „allen, die es wünschen, die Staatsbürgerschaft gewähren, unabhängig vom Alter“. Für ihn geht es einfach darum, das Gemeinsame zu betonen und einen Staat aufzubauen, der den Interessen aller Bürger gerecht wird. Rolands Lappuke wiederum, der Protokollchef des Außenministeriums, spricht sogar von einer fernen Vision, der „Wiederherstellung eines Nationalstaats mit einer multikulturellen Gesellschaft“. Doch nach Angaben der Behörde für Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsfragen, die von Andres Kollist geleitet wird, hat nur die Hälfte der „Nichtstaatsbürger“ – insgesamt 300000 Personen – einen Fremdenpaß beantragt. Und der ist gar nicht so leicht zu bekommen, räumt der OSZE- Vertreter für die baltischen Staaten, Kai Willadsen ein, der im estnischen Narva residiert. Die Ursache hierfür sei allerdings nicht politischer, sondern verwaltungstechnischer Natur: „Es mußte ein Eckdatum festgesetzt werden, nach dem die sowjetischen Ausweise ihre Gültigkeit verlieren. Das war ein politisch unumgänglicher Akt.“
In Estland halten sich nach offiziellen Schätzungen zwanzig- bis dreißigtausend Menschen illegal auf, besitzen also weder einen russischen noch einen estnischen Paß oder eine Aufenthaltsgenehmigung. Von den 335368 Einwohnern, die keine estnische Staatsbürgerschaft haben, aber eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung besitzen, hatten bis zum 1. Januar 1997 etwas mehr als 100000 bereits für die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes – meist Rußlands – optiert7 ; 90000 Personen haben per Einbürgerungsverfahren8 und 80000 „Nichtestnischstämmige“ durch Geburt9 die estnische Staatsbürgerschaft erworben.
In Estland wird die Frage der Integration weder in den Medien noch in der Bevölkerung debattiert. Aber auch unter den Russophonen, die beschlossen haben, im Lande zu bleiben, drängt man sich nicht gerade nach einer Entscheidung. In der Regierung neigt man zu der Annahme, daß das Problem sich mit dem Erwerb der estnischen Sprache lösen werde. Liegt aber die eigentliche Herausforderung nicht vielmehr in der Ausbildung einer gemeinsamen Identität?
Die meisten Russen sind der Meinung, es gebe keinen Grund, sich als Ausländer zu deklarieren, da sie ja im Lande geboren sind. Und wenn die Regierung die Frage der Minoritäten nur unter administrativen und juristischen Gesichtspunkten betrachtet, so unterschätzt sie deren soziologische Bedeutung. Im Nordosten des Landes, beispielsweise in Narva, wo die Bevölkerung zu 96 Prozent aus Russen besteht, gibt es sogar Polizisten, die noch nicht eingebürgert sind. Selbstverständlich muß aber jeder Bürger, der eine Verwaltungsfunktion bekleidet, die Staatsbürgerschaft besitzen; und so hat der Polizeichef seinen ganzen Einfluß aufwenden müssen, damit seine Männer nicht entlassen werden und ihnen für die Sprachprüfung, ohne die es keine Einbürgerung gibt, noch etwas Zeit eingeräumt wird.
Die Regierung von Mart Siimann, die seit März 1997 im Amt ist, fährt einen Kurs der Aussöhnung und des Pragmatismus. Im April 1997 wurde der Posten eines Beraters für Fragen der ethnisch-kulturellen Politik geschaffen, auf den man mit Jewgeni Golikow einen Russen berufen hat. Des weiteren wurde eine Kommission ins Leben gerufen, die Änderungsvorschläge zum Staatsbürgerschafts-, zum Ausländer- und zum Sprachengesetz erarbeiten soll; und schließlich erwartet man viel von der Aufnahme Estlands in die Europäische Union (das Land gehört mit Ungarn, Polen, Slowenien, Tschechien und Zypern zur ersten Gruppe der Beitrittskandidaten). Voraussetzung hierfür ist allerdings unter anderem ein estnisch-russisches Grenzabkommen, das bislang noch nicht zustande gekommen ist. „Der Beitritt zur EU wird ein übernationales Integrationsmittel sein“, meint Jewgeni Golikow, „welches uns dabei helfen wird, das Trennende zu überwinden. Dann ist die Gesellschaft nicht mehr estnisch oder nichtestnisch, sondern multikulturell.“
Die Bevölkerung ist indes aufgrund der ökonomischen Umwälzung mehr mit materiellen als mit staatsbürgerlichen Problemen befaßt. Eine soziologische Umfrage hat ergeben, daß die Arbeitslosigkeit in Narva als das drängendste Problem empfunden wird. Aber die Leute vertrauen den städtischen Behörden und glauben, daß die Wiederaufnahme der Wirtschaftsbeziehungen mit Rußland die Lösung bietet.
Gleichwohl wissen die estnischen Russen – von ein paar extremistischen Unabhängigkeitsgegnern abgesehen –, daß sie nur als Spielball für die diplomatischen Manöver von Boris Jelzin dienen. Die russische Regierung hat Tallinn wiederholt mit Wirtschaftssanktionen gedroht und die Unterzeichnung des Grenzabkommens ausgesetzt, bis die Esten die Praktiken beendet haben, die Moskau „eine Verletzung der Menschenrechte“ nennt. Dabei schien sich schon eine Beilegung der Grenzstreitigkeiten abzuzeichnen, als der damalige estnische Außenminister Siim Kallas am 9. November 1996 erklärte, sein Land verzichte auf die Bedingung, die Grenzen von 1920 (festgelegt im Abkommen von Tartu) als Verhandlungsbasis anzuerkennen. General Alexander Nikolajew, Oberkommandierender der russischen Grenztruppen, erklärte kürzlich vor der Presse, der Grenzvertrag stehe kurz vor der Unterzeichnung. Dem widersprach allerdings eine Woche später der russische Außenminister Jewgeni Primakow. Der estnische Präsident Lennart Meri hat diesen Rückzieher scharf kritisiert. Moskau wolle, so seine Schlußfolgerung, „die Unterzeichnung des Abkommens hinauszögern, um so den Beitritt Estlands zur Europäischen Union zu torpedieren“.
Mit den Jahren wird es der nachwachsenden russischsprachigen Generation leichter werden, zu Esten zu werden, als noch ihren Eltern. Die Stabilität des Landes und das rasante Wirtschaftswachstum bieten ihnen nach Ansicht der neuen Politikergeneration reale Chancen, die sie auch ergreifen möchten. Offenbar weist die wirtschaftliche Entwicklung am ehesten den Weg, auf dem sich die Integration der Russen in den neuen Staat vollziehen könnte. Ein ehemaliger Komsomolkader, heute Leiter eines Handelszentrums, erklärte der russischen Zeitung Itogi: „Mit finanzieller Unterstützung aus Schweden und Finnland werden in Estland Sprachkurse durchgeführt. Bei den Prüfungen, die von den Beamten der Sprachenkommission in den Fabriken abgenommen werden, kommen sämtliche Teilnehmer durch.“10 Er sieht sogar Anzeichen für die Herausbildung einer neuen (russisch-estnischen) Identität. Was die Zeitung zu der Schlußfolgerung veranlaßt: „Die Integration hat wirklich begonnen. Und wenn die ,russischen Esten‘ die Vorhut unserer Landsleute in Estland sind, so deshalb, weil sie Business-Russisch reden, das wir alle zu lernen haben.“
dt. Eveline Passet
* Journalistin