IWF – Nichts geahnt und alles falsch gesehen
Von IBRAHIM WARDE *
NACH dem Jahresbericht 1997 des Internationalen Währungsfonds (IWF) war das Steueraufkommen Süd- Koreas „beneidenswert“, die makroökonomische Politik Thailands war „gesund“, Indonesien erhielt ein Lob für seine „vorsichtige makroökonomische Politik, seine hohen Investitions- und Sparquoten und die Reformen zur Öffnung seiner Märkte“. Am Vorabend der Krise gab es keinerlei Zweifel am unaufhaltsamen Aufstieg der asiatischen „Tiger“. Die Rating-Agenturen benoteten ihre Verschuldung nach wie vor wohlwollend1 , und die ausländischen Banken überschlugen sich förmlich, ihnen Kredite zu offerieren2 . Doch am 2. Juli 1997 begann alles zu kippen. Die thailändische Währung, der Baht, sackte ab, und diese Depression erfaßte die übrigen Währungen der Region: Der malaysische Ringgit, der philippinische Peso, die indonesische Rupiah und selbst der Singapur-Dollar verzeichneten starke Verluste, die Börsenkurse gingen steil in den Keller.
Zuerst klopfte Thailand beim IWF an; der stellte Hals über Kopf einen Rettungsplan in Höhe von 17 Milliarden Dollar auf die Beine, der größtenteils von der japanischen Regierung finanziert wurde, während die USA dem Plan zwar zustimmten, sich selbst aber nicht beteiligen wollten. Dann beantragte Indonesien einen Kredit von 43 Milliarden Dollar. Für Präsident Clinton war diese Finanzkrise lediglich „ein kleiner Ausrutscher“. Notenbankpräsident Alan Greenspan sah darin gar ein „heilsames Ereignis“: Der Wechselkursverfall der asiatischen Währungen wirke antiinflationär und verschaffe dem starken Wachstum in Asien eine „Pause“. In amerikanischen Finanzkreisen überwog ein gewisser Optimismus mit einer Prise Schadenfreude. Das „Wunder“ der asiatischen Wirtschaft entpuppte sich als Wahn.
Die Wende kam im November 1997, als Süd-Korea kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stand und den IWF um Hilfe anging. Jetzt schlug der US-Präsident andere Töne an. „Diese Krise muß sehr ernst genommen werden. Sie wird uns treffen, wenn es uns nicht gelingt, das Vertrauen wiederherzustellen und uns in der gesamten asiatisch-pazifischen Region wieder nach vorn zu orientieren.“
Aktuell wird die Verschuldung Süd- Koreas auf 200 Milliarden Dollar geschätzt, 35 Prozent davon zu Lasten japanischer Banken, die ohnehin mit „faulen“ Krediten eingedeckt sind. Das könnte einige dieser Banken ins Wanken bringen, die wiederum den Großteil der US-amerikanischen Schatzbriefe halten. Außerdem beginnen die großen amerikanischen und europäischen Exporteure zu spüren, daß ihnen die asiatischen Kunden wegbrechen.3
Am 3. Dezember 1997 wird der größte Rettungsplan aller Zeiten – 57 Milliarden Dollar – realisiert. Beteiligt sind drei Gruppen: internationale Organisationen, Regierungen der reichen Länder und Gläubigerbanken. Eine erste Verteidigungslinie wird vom IWF (21 Milliarden Dollar), der Weltbank (mit 10 Milliarden) und der asiatischen Entwicklungsbank (mit 4 Milliarden) errichtet. Diese Summen sind abrufbar, sobald sich Süd-Korea verpflichtet, die geforderten Reformen umzusetzen. Eine zweite Kreditlinie von 22 Milliarden Dollar wird von sieben Ländern getragen (USA, Kanada, Japan, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Australien). Die Gläubigerbanken verhandeln getrennt über Moratorien, Umschuldungen, Zwischenfinanzierungen und ihre zukünftige Einbindung in das südkoreanische Finanzsystem.
Im Gegenzug verpflichtet sich Seoul – wie zuvor schon Thailand und Indonesien – auf konkrete Wachstums-, Arbeitslosen- und Inflationsraten. Und die Regierung muß zusagen, eine bestimmte Anzahl von Kreditanstalten zu schließen und ausländische Beteiligungen am Kapital der Banken und chaebols4 zuzulassen. Diese hochverschuldeten Konzerne sollen konsolidierte Bilanzen vorlegen, mit international anerkannten Wirtschaftsprüfungsfirmen zusammenarbeiten und ihre Buchungssysteme transparenter gestalten.
Alle drei betroffenen Länder müssen auch politisches Personal auswechseln beziehungsweise sich neue „Berater“ vorsetzen lassen. Indonesien muß Witjojo Nitisastro, den Anführer einer als „Berkeley- Mafia“ bekannten Gruppe von Absolventen US-amerikanischer Wirtschaftsfakultäten, zum Leiter einer Agentur berufen, die sowohl das Finanzministerium als auch den Zentralbankgouverneur im Auge behalten soll. Der ehemalige Präsident der amerikanischen Federal Reserve, Paul Volcker, wird Regierungsberater.
Thailand muß zur Beruhigung der Kreditgeber die Regierung umbilden. Die südkoreanische Regierung zieht zu den Verhandlungen mit ihren Gläubigern zwei US-amerikanische Geschäftsbanken hinzu: Salomon Brothers und Goldman Sachs, zu deren Vorstand Robert Rubin, derzeit US-Finanzminister, gehört hatte.
Trotz all dieser Bemühungen ist keineswegs ausgeschlossen, daß weitere Länder – unter anderen Malaysia, Rußland und Brasilien – in ähnliche Liquiditätskrisen geraten könnten. Schlimmer noch: Der IWF mit seinen 2100 Beamten hält sich offenbar selbst nicht an seine Heilmethoden. Seine Liquidität ist bedroht, weshalb man von den 181 Mitgliedern höhere Beitragsleistungen fordert.
Der Finanzierungsmechanismus der Organisation läßt sich mit drei Zahlen verdeutlichen: Die Beiträge der Mitgliedstaaten belaufen sich auf 190 Milliarden Dollar, wovon 50 Milliarden für Darlehen an Länder mit Zahlungsschwierigkeiten vorgesehen sind. Darüber hinaus steht eine weitere Kreditlinie (bei den zehn größten Industrieländern sowie der Schweiz und Saudi-Arabien) für den Fall einer „Bedrohung des internationalen Währungssystems“ zur Verfügung. Der Fonds möchte die genannten Summen auf jeweils 275 Milliarden, 73 Milliarden und 50 Milliarden Dollar aufstocken.6 .
Die Entscheidung darüber liegt in erster Linie bei den USA, deren Anteil 18 Prozent beträgt, was ihnen ein entsprechend hohes Stimmrecht gibt.7 Lawrence Summers, stellvertretender US-Finanzminister und – mit den IWF-Präsidenten – Hauptorganisator der Rettungsaktion, hält bei dem Ernst der Lage eine Kapitalerhöhung für unumgänglich, „um mit der Weltwirtschaft Schritt zu halten“8 . Für diese Einsicht konnte er die öffentliche Meinung der USA jedoch noch nicht gewinnen, geschweige denn den Kongreß, der dafür Gelder bewilligen müßte.
Erzkonservative Kräfte im Kongreß werfen dem IWF vor, ein glattes Funktionieren des Marktes zu verhindern. Lauch Faircloth, ein republikanischer Senator aus North Carolina, wettert gegen die „Ära ständiger internationaler Rettungsaktionen, die den Marktmechanismus im Finanzsektor außer Kraft gesetzt haben“, und meint: „Wir sind dabei, die Gewinne zu privatisieren und die Verluste zu sozialisieren.“9 Eine automatische Hilfeleistung für Volkswirtschaften, die aus dem Lot geraten, wirft in der Tat die Frage nach dem „moralischen Risiko“ („moral hazard“) auf. Eine feste Rettungszusage ermuntert zu unverantwortlichem Verhalten und hochriskanten Investitionen.
Die Linke wirft der Regierung vor, zu Lasten von Sozial- und Erziehungsprogrammen beträchtliche Summen auszugeben, um Finanzinstitute und ausländische Regierungen zu retten. Bernard Sanders, Mitglied des US-Repräsentantenhauses, verweist darauf, daß die Indonesienhilfe gegen das von ihm 1994 durchgebrachte Sanders-Frank-Amendment verstößt. Demnach sei es dem amerikanischen Finanzminister untersagt, Ländern finanziell direkt oder indirekt unter die Arme zu greifen, deren Sozialordnung die Rechte der Arbeiter nicht berücksichtigt.10
In der Öffentlichkeit ist der IWF höchst unpopulär, was überhaupt für jegliche Auslandshilfe gilt. Manche Politiker wie die Präsidentschaftsaspiranten Steve Forbes und Pat Buchanan halten es deshalb für taktisch clever, die Abschaffung des IWF vorzuschlagen. Trotz dieser verbreiteten Stimmung kann die Institution, die sich der Unterstützung durch die Märkte erfreut, ruhig in die Zukunft blicken. Jeffrey Garten, heute Dekan der Business- School an der Yale-Universität, glaubt zu wissen, warum: „Der IWF steht für das, was die Märkte anstreben: Disziplin und einen Wirtschaftslenkungsplan.“11
Schon anläßlich der Mexikokrise vom Dezember 1994 hatte das US-Finanzministerium 12 Milliarden Dollar aus einem verdeckten Fonds geschöpft und damit das (absehbare) Veto des Kongresses umgangen. Für die Regierung erwies sich dieses Vorgehen als durchschlagender Erfolg. Die Rettungskünstler von damals lassen dabei gern einige Zahlen unter den Tisch fallen (der Pro-Kopf-Verbrauch in Mexiko ist um die Hälfte gesunken, und 50 Prozent statt vorher 30 Prozent der Bevölkerung leben in Armut) und wiederholen unermüdlich, daß die Mexikaner ihre Schulden vor Fälligkeit zurückgezahlt haben. Für Washington sei die Operation rentabel gewesen, denn sie habe der US- amerikanischen Staatskasse 500 Millionen Dollar Zinsen eingetragen.
Schon in Anbetracht der Höhe der aufgebrachten Mittel leuchtet es ein, daß die Kreditgeber die den Empfängerstaaten auferlegten Gesundungsmethoden für „notwendig“ erklären, auch wenn sie noch so absurd sein mögen. Der IWF überträgt einfach vertraute Rezepte, die er 1994 den südamerikanischen „Grillen“ verordnet hat (mit ihren hohen Regierungsausgaben, Außenhandelsdefiziten und so weiter), ein paar Jahre später auf die asiatischen „Ameisen“.
Joseph Stiglitz, der Chefökonom der Weltbank, hat dazu sogar sein Verwundern geäußert: „Wir dürfen diese Länder nicht in eine schwere Rezession stürzen. Sämtliche amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler lehnen den Grundsatz eines ausgeglichenen Haushalts für Rezessionszeiten ab. Sollten wir vor dieser Einsicht die Augen verschließen, wenn wir andere Länder beraten?“12
Aus einem vertraulichen Papier des IWF geht übrigens hervor, daß einige seiner Zaubertrankrezepte die asiatische Krise verschärft haben. Mit der Forderung nach Schließung der schwächeren Finanzinstitute Thailands, Indonesiens und Süd- Koreas wollte man eigentlich das Vertrauen wiederherstellen. Die Wirkung war genau umgekehrt: Auch bei gesunden und gut geführten Instituten wurden die Konten geplündert.13
Zudem herrscht immer noch eine komplette Verwirrung darüber, wie es zu dem ganzen Debakel kommen konnte. Trotz der Heftigkeit der Krise wie der Verstärkereffekte der Kapitalbewegungen (overshooting), trotz der Dominoeffekte, der Spekulation und so weiter weisen die orthodoxen Wirtschafts- und Finanzkreise den Gedanken zurück, die „Finanzökonomie“ habe den Bereich der „Realökonomie“ in Mitleidenschaft gezogen.14
Da nun aber die klassischen Indikatoren (Inflation, Produktivität, Außenhandel) nach einhelliger Meinung positiv sind, muß man neue Sündenböcke ausfindig machen. Auf der Anklagebank sitzen heute die Finanzsysteme, die Institutionen oder auch einige der „kulturellen Faktoren“, die einige Monate zuvor noch lauthals gepriesen wurden. Höchst erbaulich klingt in dieser Hinsicht die Analyse des Wall Street Journal: „Sparen ist prima. Aber die Koreaner sparen zu viel. Ihre Sparquote ist mit 35 Prozent eine der höchsten innerhalb der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die Japaner verbrauchen pro Kopf im Vergleich zu den Koreanern doppelt soviel, die US-Amerikaner das Dreifache.“15
Solche Analysen werden sich als höchst nützlich für die „Experten“ erweisen, die zwar nichts geahnt und alles falsch gesehen haben, sich aber dennoch wieder daranmachen dürfen, die Wirtschaft in ganz Südostasien umzugestalten.
dt. Margrethe Schmeer
* Verfasser (gemeinsam mit Richard Farinetti) von „Le monde anglo-saxon en question“, Paris (Economica) 1997.