13.02.1998

Eine internationale Untersuchungskommission

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Eine internationale Untersuchungskommission

Das Europäische Parlament hat Salima Ghezali, der Herausgeberin der algerischen Wochenzeitung La Nation, die seit neun Monaten nicht mehr erscheinen darf, im letzten Jahr den Sacharow-Menschenrechtspreis zuerkannt. Wir drucken nachstehend Auszüge der Rede, die Salima Ghezali anläßlich der Preisverleihung am 17. Dezember 1997 in Straßburg gehalten hat.

ÜBER diesen überflüssigen Krieg in Algerien ist schon viel gesagt worden. Man weiß von den Attentaten auf Intellektuelle und Ausländer, von den blindwütigen Sprengstoffanschlägen, von den Massakern an wehrlosen Zivilisten, von den Militäroperationen, den Folterungen und all den Schändlichkeiten, die vollständig ungesühnt bleiben, wenn sie als „Verteidigung des Staates“ gelten, und die als barbarisches Wüten erscheinen, wenn sie sich gegen ebendiesen Staat richten. (...)

WAS in Algerien vor sich geht, ist skandalös – aber ebenso skandalös ist das allgemeine Schweigen. Wenn 70 Prozent der Bevölkerung unter dreißig Jahre alt sind und keine Chance haben, eine Arbeit zu finden; wenn unter den dreißig- bis fünfzigjährigen Arbeitern, die jahrelang mit ihrem festen Einkommen die soziale Stabilität gesichert haben, Hunderttausende entlassen werden; wenn die Mittelschichten eine brutale Verarmung erleben, und wenn weitere Hunderttausende aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden und unter unmenschlichen Bedingungen leben – dann ist es ausgeschlossen, daß die Gewalt zu einer Randerscheinung wird.

Das gegenwärtige System hat auf ganzer Linie versagt: Die Fabriken schließen, die Universitäten sind im Streik, und aus den ländlichen Gebieten wandern die Menschen ab. Wer noch immer gutgläubig meint, die Probleme Algeriens seien nur ideologischer Art, der werfe einen Blick auf die Wirtschafts- und Sozialdaten. Sie zeigen, von welchem Elend der Gefechtslärm ablenkt, den minoritäre Gruppen der Gesellschaft erzeugen.

Die grundsätzlichen demokratischen Anliegen – wie die Rechte der Frauen, die Pressefreiheit, die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung, das Recht auf politische und kulturelle Eigenständigkeit – all diese demokratischen Anliegen werden nie aus ihrem mit machiavellistischem Geschick aufrechterhaltenen Ghetto herauskommen, solange die Masse der Bevölkerung diese als Luxus einer Minderheit ansieht, die sich für das Schicksal der Mehrheit nicht interessiert.

Sich als demokratisches Alibi eine kleine politische und intellektuelle Elite zu halten, ist eine alte Tradition despotischer Herrschaft – man sorgt dafür, daß sie ihre panische Angst vor den Massen nicht verlieren, indem man sie ihnen von Zeit zu Zeit ausliefert.

In einer solchen Situation ist die Versuchung groß, einfach „nichts zu tun“. Doch ein solcher Rückzug käme einem Ausscheiden gleich und hätte unweigerlich schwere Folgen für die gesamte Region. Aber gerade weil im Falle des „algerischen Problems“ nichts einfach ist, ist ein politischer Wille, wenn nicht gar ein gewisser „Voluntarismus“ vonnöten. Der politische Wille, einem gepeinigten Volk rückhaltlose Unterstützung zu gewähren, das vor allem Frieden und Menschenwürde fordert, bedeutet, daß man bereit ist, ein Risiko einzugehen: Man steht vor einem Regime, das sich nur durch den Krieg an der Macht halten kann; man steht vor einem engmaschigen Netz „wirtschaftlicher Seilschaften“, die auf beiden Seiten des Mittelmeers angesiedelt sind und ihren Vorteil aus der schamlosen Korruption ziehen; und man steht vor einer Art allgemeiner „Gefühllosigkeit“, die jede ehrliche menschliche Solidarität verhindert, sobald es um den Islam geht.(...)

ICH bin der festen Überzeugung, daß die Initiative von Sant' Egidio (die alle politischen Strömungen Algeriens an den Verhandlungstisch zu bringen trachtete) in die Geschichtsbücher und ins Gedächtnis aller sich nach Frieden und Demokratie sehnenden Algerier als der erste kluge und zukunftsweisende Vorschlag eingehen wird, der Algerien die Möglichkeit einer Versöhnung mit sich selbst und der Welt eröffnet hat.1 Der Aufschrei all jener, die den Zusammenprall der Kulturen beschwören, und das Schweigen der anderen werden dereinst nur ein Beleg dafür sein, daß Mut und Freiheit des Geistes schon immer darin bestanden, etwas zu wagen.

Man muß es wagen, eine internationale Untersuchungskommission zu fordern, die sich mit den Massakern befaßt – damit keine der Kriegsparteien ihre Verbrechen der Gegenseite zuschreiben kann.

Und man muß es wagen, eine politische Bewegung für Frieden und Bürgerrechte zu initiieren.

SALIMA GHEZALI

Fußnote: 1 Vgl. den vollständigen Text der gemeinsamen Erklärung nach dem Treffen in Sant'Egidio in Le Monde diplomatique, März 1995.

Le Monde diplomatique vom 13.02.1998, von SALIMA GHEZALI