Die „Männer in Schwarz“ schüren den Kulturkampf
MIT der Wiederaufnahme des Baus der Siedlung Har Homa hat Israels Premierminister Benjamin Netanjahu seine kompromißlose Haltung unter Beweis gestellt. Er lehnt nicht nur jeden nennenswerten Rückzug der Armee aus dem Westjordanland ab und stellt der Palästinensischen Autonomiebehörde unerfüllbare Vorbedingungen, sondern gibt außerdem auf provozierende Weise zu verstehen, daß er die Osloer Verträge begraben will. Zugleich ist der Vorsitzende des Likud-Blocks seit dem Rücktritt von Außenminister David Levy stärker denn je von den extremistischen Parteien abhängig. Zweifellos werden die religiösen Gruppierungen diese Situation ausnützen, um ihren Einfluß auf den Staat auszuweiten.
Von JOSEPH ALGAZY *
„Jude ist, wer (...) die jüdische Religion angenommen hat und keiner anderen Religion angehört“, besagt das israelische Gesetz. Das orthodoxe Rabbinat möchte dieser Bestimmung eine weitere hinzufügen: Der Übertritt zum Judentum müsse entsprechend den Vorschriften der Halacha (der jüdischen Gesetzeslehre) erfolgen und „durch ein orthodox religiöses Gericht anerkannt werden“. Diese vordergründig theologische Frage hat sich zu einer wichtigen politischen Diskussion ausgeweitet. Das ist nicht weiter verwunderlich. Die Frage, wer als „jüdisch“ gelten kann, hat in Israel über den Bereich der Religion hinaus bedeutende Auswirkungen auf das Leben der einzelnen und der gesamten Gesellschaft; zugleich bildet sie die Grundlage des Rückkehrrechts, das jedem ins Land kommenden Juden erlaubt, die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten.
Im Koalitionsabkommen vom Juni 1996 hatte sich Premierminister Benjamin Netanjahu verpflichtet, im Parlament ein Gesetz durchzubringen, das den Orthodoxen nicht nur das Monopol überlassen sollte, über Fragen des Übertritts zur jüdischen Religion, der Eheschließung und der Scheidung zu befinden, sondern darüber hinaus die Vertreter der reformierten und konservativen Glaubensrichtungen aus den örtlichen Religionsräten ausschließen sollte.
Neben einer juristischen Krise würde das von Netanjahu zugesagte Gesetz auch eine beispiellose Krise in den Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora auslösen. Denn eine große Mehrheit der US- amerikanischen Juden bekennt sich zum reformierten und konservativen Judentum, sie müßten Netanjahus Zugeständnisse an die orthodoxen Führer als regelrechte Kriegserklärung auffassen. Und dies zu Recht, denn ein solches Gesetz würde jeder Person, die in Israel nach anderen als den orthodoxen Vorschriften zum Judentum übergetreten ist, die jüdische Identität absprechen. Entsprechend scharf fiel in den USA die Antwort der Nichtorthodoxen aus: Sie drohten, ihre mächtigen Gemeinden würden im Falle der Annahme des Gesetzes die Aktivitäten der proisraelischen Lobby nicht länger mittragen; statt dessen würden sie im amerikanischen Kongreß und bei der US-Regierung darauf hinwirken, daß die Vereinigten Staaten verstärkten Druck auf Israel ausüben; außerdem würden sie die Geldsammlungen zugunsten des jüdischen Staates boykottieren. Um die Bedeutung der angedrohten Maßnahmen zu verstehen, muß man sich nur vor Augen halten, daß 107 der 145 amerikanischen Delegierten am 33. Zionistischen Weltkongreß, der Ende Dezember 1997 in Tel Aviv tagte, entweder zur konservativen oder zur Fraktion der Reformjuden gehörten.
Obwohl sich Netanjahu dieser Gefahr bewußt ist, weiß er auch, daß, sofern er das Versprechen bricht, der religiöse Block über Nacht die Regierung verlassen und Neuwahlen erzwingen könnte. Ob der Kompromiß angenommen wird, den die Parlamentskommission unter Vorsitz von Finanzminister Jaakov Neeman Ende Januar ausgearbeitet hat, ist ungewiß. Die Kommission schlägt vor, daß Orthodoxe, Konservative und Reformjuden gemeinsam die Kandidaten betreuen sollen, die zum Judentum übertreten wollen. Die religiösen Parteien wollen jedoch, wie der ehemalige Justizminister Chaim Tsadok betont1 , das institutionelle Monopol des orthodoxen Rabbinats in Fragen des Familienrechtes aufrechterhalten.
Für die israelischen Bürger könnte das bedeuten, daß die religiösen Vorschriften, die seit der Staatsgründung auf dem Alltagsleben lasten, sich auf jeden Fall weiter verschärfen werden. Rechtlich gesehen sind nur religiöse Eheschließungen und Scheidungen möglich. Ein Jude kann nach wie vor keine Muslimin heiraten und ein Christ keine Jüdin, es sei denn, die Ehe wird im Ausland geschlossen und im nachhinein in Israel registriert. Eine jüdische Frau, die nicht von einem Rabbinatsgericht geschieden wurde, kann nicht ein zweites Mal heiraten, und schon gar nicht, wenn sich ihr Mann ins Ausland abgesetzt hat oder im Krieg verschollen ist. Darüber hinaus müssen alle staatlichen Einrichtungen – wie öffentliche Dienstleistungsunternehmen – den Sabbat und die jüdischen Speisegebote einhalten. Das bedeutet konkret, daß jeweils von Freitag nachmittag bis Samstag abend und während der – zahlreichen – jüdischen Feste weder Busse noch Züge verkehren. In dieser Zeit sind auch viele Verkehrsverbindungen und durch die religiösen Stadtteile führenden Straßen gesperrt. Und nicht nur am Sabbat, sondern grundsätzlich sind archäologische Grabungen an Stätten, die von den Orthodoxen als heilig erachtet werden, auf ein Minimum eingeschränkt.
Jüdischer Staat oder Staat aller Bürger?
DER Einfluß der religiösen Parteien auf die Regierung und die Gesellschaft ist nicht neu. Seit Gründung des Staates Israel haben sich die Religiösen an fast allen Koalitionsregierungen beteiligt. Die Tatsache, daß sie nur zum Teil zionistisch sind, war weder für sie selbst noch für ihre Koalitionspartner aus den großen konkurrierenden Lagern – der heutigen Arbeitspartei und dem Likud – jemals ein Hindernis. Bereits 1948 hatte die Mapai den Wolf im Schafspelz in den Stall gelassen: Die Vorläuferin der heutigen Arbeitspartei etablierte ein System, in dem Staat und Religion nicht getrennt sind.
Übrigens hat Israel aus diesem Grund auch nach wie vor keine Verfassung, sondern nur eine Reihe von Verfassungsartikeln. „Eine Verfassung kann nur gelten, wenn sie vollkommen mit der Thora übereinstimmt“, erklärte der Vertreter von Agudat Israel 1949 völlig unverblümt in der ersten Knesset: „Jede andere Verfassung würde in Israel einem Gesetzesbruch gleichkommen. Ich warne Sie: Jeder Versuch, eine Verfassung auszuarbeiten, muß unvermeidlich in einen harten ideologischen Konflikt münden, der keinerlei Kompromiß mehr zuläßt.“2 Die führenden Politiker des Landes, allen voran David Ben Gurion, drückten sich in dieser entscheidenden Frage um die Konfrontation mit den Orthodoxen. Ganz auf dieser Linie willigten sie auch ein, die religiösen Gesetze und Vorschriften für allgemein verbindlich zu erklären. Außerdem gewährten sie den Religiösen zahlreiche Privilegien – wie die Befreiung vom Militärdienst für die Schüler religiöser Schulen3 und für junge Frauen, die sich als gläubig bezeichnen. Vor allem aber räumten sie den religiösen Parteien – angeblich, um das jüdische Bewußtsein der Jugendlichen zu fördern – ein Aufsichtsrecht für das Unterrichtswesen ein, und dies selbst für nichtreligiöse Schulen.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Diskussion über die Natur des Staates eine ganz zentrale Bedeutung. Die nationalistischen oder religiösen politischen Gruppierungen und ideologischen Strömungen definieren Israel als „jüdischen Staat“. In liberalen Kreisen, zu denen vor allem auch die Richterschaft gehört, wird Israel als „jüdischer und demokratischer Staat“ bezeichnet. Arabische Kreise und die Linke bevorzugen die Definition „ein Staat all seiner Bürger“. Wieder andere akzeptieren die Kompromißformel „jüdischer Staat und Staat all seiner Bürger“. Für Professor Baruch Kimmerling4 von der Universität Jerusalem besteht zwischen den Begriffen „jüdisch“ und „demokratisch“ jedoch ein Widerspruch. Die Befürworter eines „demokratischen“ Staates verstehen darunter de facto einen laizistischen, westlich orientierten und universellen Staat, während die Befürworter eines „jüdischen Staates“ diesen theologisch interpretieren und ihn mit orthodoxen Inhalten füllen, die sie aus der Halacha ableiten. Baruch Kimmerling kommt deshalb zu dem Schluß: „Ein wichtiger Teil der Praktiken des Staates ist nicht immer mit einer demokratischen, westlichen, aufgeklärt liberalen Vorstellung zu vereinbaren.“5
Nach dem Sechstagekrieg 1967 begann die Zusammenarbeit zwischen religiösen Fanatikern und den oft nicht religiösen Ultranationalisten mit dem gemeinsamen politischen Ziel, das Projekt eines Großisrael zu verwirklichen, was auf eine massive jüdische Besiedlung der besetzten Gebiete hinauslaufen mußte.6 All dies geschah im Namen der Religion, der heiligen Bücher und der Geschichte; wenn auch eine Minderheitsströmung innerhalb des religiösen Lagers, zu der einzelne Rabbiner zählen, für den Frieden und einen Kompromiß eintritt, wie etwa der sephardische Großrabbiner Bakschi Doron, für den „nach jüdischem Recht das Leben heiliger zu bewerten ist als Eretz Israel“7 .
Fünfzig Jahre nach der Staatsgründung Israels sind die religiösen Parteien politisch stärker als je zuvor. Bei den letzten Parlamentswahlen am 29. Mai 1996 eroberten sie ihr Rekordergebnis mit 23 von 120 Sitzen in der Knesset, die religiösen Abgeordneten anderer Listen nicht eingerechnet. Diesen neuen Aufschwung verdanken die „Männer in Schwarz“ vor allem dem gesellschaftlichen Klima, das durch das Phänomen der Rückkehr zum Glauben (hazara betschuva) entstanden ist und in Israel seit einiger Zeit eine erhebliche Bedeutung gewonnen hat. Einer kürzlich veröffentlichten Umfrage zufolge8 haben 17 Prozent der jüdischen Bevölkerung des Landes in den letzten sechs Jahren eine engere Beziehung zur Religion entwickelt. Genauer aufgefächert sind 13000 nichtreligiöse Juden zu orthodoxen haredim (wörtlich „die Gottesfürchtigen“), 24000 zu praktizierenden Gläubigen und 130000 zu Traditionalisten geworden. Gleichzeitig sind 175000 Traditionalisten zu praktizierenden Gläubigen und 24000 praktizierende Gläubige zu haredim geworden.
Warum diese Rückbesinnung auf die Religion? Über ein Viertel der Befragten (26 Prozent) begründen diesen Schritt mit dem Einfluß religiöser Gruppierungen oder Piratensender, die sich der hazara betschuva verschrieben haben. 44 Prozent geben an, damit auf ein wichtiges Ereignis in ihrem Leben reagiert zu haben.9 55 Prozent sehen die hazara betschuva insgesamt als positives Phänomen.
Das orthodox jüdische Establishment setzt in erster Linie auf seine Rolle als Zünglein an der Waage in der momentanen Regierungskoalition aus Rechten und extremen Rechten. Sowohl gegenüber den anderen jüdisch religiösen Strömungen wie den Reformjuden, den Konservativen, den Karaiten und den äthiopischen Juden als auch gegenüber den Religionen der arabischen Bürger Israels (Muslime, Drusen und Christen) genießt dieses orthodoxe Establishment einen privilegierten Status, von dem es weiterhin profitieren möchte.
Das Ministerium für religiöse Angelegenheiten, das seit jeher über einen mächtigen Funktionärsapparat und ein üppiges Budget verfügt, machten sich in der Vergangenheit vor allem zwei Parteien streitig: die zionistische Nationalreligiöse Partei (Mafdal) und – wenn sie an der Macht war – die Arbeitspartei. Zur Zeit teilen sich die Nationalreligiösen das Ministerium mit ihrer Partnerin und Konkurrentin, der ultraorthodoxen Sephardischen Partei (Schas). Es geht dabei um erheblichen Einfluß, denn das Ministerium ist für alle religiösen Aktivitäten – von Juden wie Nichtjuden – verantwortlich, es überwacht das Funktionieren der örtlichen Religionsräte, die für die Synagogen, die Einhaltung des Sabbat und der Speisegebote, für Begräbnisse, Friedhöfe, rituelle Bäder und ähnliche Belange zuständig sind, und es kontrolliert auch das Funktionieren der nichtjüdischen religiösen Institutionen.
Da das Gesetz keine Zivilehen und -scheidungen vorsieht, fallen familienrechtliche und Personenstandsfragen in den Zuständigkeitsbereich jüdischer und nichtjüdischer religiöser Gerichte. Diese werden in Streitfällen zwischen Eheleuten – in Entscheidungen über das Sorgerecht von Minderjährigen, über Unterhaltszahlungen bei Scheidungskindern – wie auch bei Konflikten im Fall von Adoption, Erbfolge oder Testamentsvollzug angerufen; aber auch dann, wenn die betroffenen Parteien ein religiöses Gericht einem laizistischen Zivilgericht vorziehen. Daß in all diesen Fragen nichtreligiöse Zivilgerichte und insbesondere der Oberste Gerichtshof Vorrang vor den religiösen Gerichten haben, stößt bei jüdischen wie nichtjüdischen kirchlichen und konservativen Kreisen auf Mißfallen. Die religiösen Parteien wollen im Parlament sogar ein Gesetz durchbringen, das ihnen in verschiedenen Fragen die Umgehung der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes erlauben soll.
Das Funktionieren des Großrabbinerrates ist im Rahmen der staatlichen Gesetzgebung geregelt. An seiner Spitze stehen zwei Großrabbiner, der eine Aschkenase, der andere Sepharde, die abwechselnd den Vorsitz im Rat und im Gericht des Großrabbinats führen. Das Großrabbinat entscheidet souverän in Fragen der Halacha, setzt die Rabbiner ein und genießt jenseits seiner formalen Rechte eine außerordentliche Autorität bei den Gläubigen und im Staat insgesamt.
Die orthodoxen Juden, zu denen sich in Israel die überwiegende Mehrheit der Gläubigen zählt, dominieren in den religiösen Institutionen, obwohl diese auch wichtige gesellschaftliche und staatsbürgerliche Aufgaben erfüllen. Zumal die Orthodoxen auf dem besten Weg sind, die Frage, wer als Jude zu gelten hat, ausschließlich nach religiösen und nicht etwa nach staatsbürgerlichen Kriterien zu beantworten. Die orthodoxen Parteien versuchen dabei, ihr Monopol zu festigen. Sie wehren sich kategorisch gegen die rechtliche Anerkennung von Übertritten zum jüdischen Glauben, die unter der Aufsicht reformierter oder konservativer religiöser Gerichte vollzogen wurden, aber auch gegen deren Recht, in Fragen von Eheschließungen und Scheidungen zu entscheiden oder den örtlichen Religionsräten anzugehören. Letztlich würde jeder israelische Staatsbürger von der Geburt bis zum Tod ausschließlich den orthodoxen Rabbinern unterstehen. Die einzige Ausnahme: Nach Intervention des Obersten Gerichtshofes mußte sich das orthodox jüdische Establishment vorerst damit abfinden, im Ausland geschlossene Ehen, Scheidungen und Übertritte zum Judentum auch dann anzuerkennen, wenn diese unter der Obhut reformierter oder konservativer Rabbiner stattfinden.
Verlockende Hegemonieansprüche
IM August 1997 trat Eliahu Suissa, Minister für religiöse Angelegenheiten und Schas-Mitglied, von seinem Amt zurück, um nicht eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs gutheißen und die Nominierung einer Frau billigen zu müssen, die sich den reformierten Juden zuzählt und für den Religionsrat der Stadt Netanja kandidiert hatte. Das Ergebnis war, daß das Nominierungsdokument am Ende von Benjamin Netanjahu unterzeichnet wurde, der in dieser Situation das Ministerium für religiöse Angelegenheiten übernommen hatte.
Die „Männer in Schwarz“ haben keine Skrupel, vor allem in Jerusalem gewalttätige Protestaktionen durchzuführen: Straßen werden verbarrikadiert, Steine auf Autofahrer, Passanten und Polizisten geworfen und Abfallkübel in Brand gesteckt, um die Behörden zu zwingen, während des Sabbats und an den Feiertagen den Verkehr zu unterbinden, Einkaufszentren und Vergnügungseinrichtungen zu schließen, die Schweinezucht und den Verkauf von Schweinefleisch zu verbieten und so weiter. Voriges Jahr sah sich die Polizei am Fastentag Tischa Be-Aw, an dem alljährlich der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels in Jerusalem gedacht wird, sogar gezwungen, Hunderte konservativ jüdische gläubige Frauen und Männer abzuführen, die demonstrativ gemeinsam vor der Klagemauer beteten, was die Orthodoxie untersagt.
Tatsächlich gehören die Mitglieder religiöser Richtungen, die von den haredim unter Berufung auf die alleinige Gültigkeit der Halacha als „Abweichler“ verurteilt werden, zu den ersten, die dem orthodoxen Hegemonieanspruch zum Opfer fallen. In den fünfziger und sechziger Jahren hatte das orthodoxe Establishment angezweifelt, ob es sich bei den Mitglieder der aus Indien kommenden Gemeinde Bne Jisrael tatsächlich um Juden handle – worunter diese stark zu leiden hatten. Seit den achtziger Jahren ergeht es den äthiopischen Juden ähnlich: Sie müssen sich Religionsprüfungen unterziehen, um ihre jüdische Herkunft zu beweisen. Manche müssen Übertrittsrituale über sich ergehen lassen, und den Rabbinern ihrer Gemeinde wird jede Autorität abgesprochen. Selbst Begräbnisse wurden ihnen schon von den für die Friedhöfe zuständigen Behörden verweigert, mit der Begründung, ihre Zugehörigkeit zum Judentum stehe nicht einwandfrei fest. Die mehrheitlich aus Ägypten eingewanderten Karaiten haben seit Jahrzehnten ähnliche Schwierigkeiten und leben weitgehend zurückgezogen in ihrer engen Gemeinschaft.
Auch einem Drittel der Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion spricht das orthodoxe Establishment die Eigenschaft ab, jüdisch zu sein. Doch abgesehen von den Mitgliedern der reformierten und konservativen Glaubensrichtung, die größtenteils aus den USA kommen und den Kontakt zu ihren reichen und einflußreichen Gemeinden weiter pflegen, bietet niemand den Orthodoxen die Stirn. Noch dazu profitieren alle religiösen Parteien ausgiebig und zunehmend von ihrer Regierungsbeteiligung. In der momentanen Regierung besetzt die Nationalreligiöse Partei das finanziell wie personell gut dotierte, ideologisch bedeutsame Ressort für Nationale Erziehung sowie das Transportministerium und teilt sich das Religionsministerium mit der Schas-Partei. In den Händen der Schas liegt darüber hinaus das Innenministerium, das über ein riesiges Budget verfügt und für so entscheidende Fragen wie die Eintragung des Vermerks „jüdisch“ oder „nichtjüdisch“ in die Personalausweise zuständig ist, vom beträchtlichen Einfluß auf die Stadt- und Gemeindeverwaltungen ganz zu schweigen. Schließlich verwaltet die Schas-Partei auch noch das ebenfalls gut dotierte Ministerium für Arbeit und Soziales.
Ein Abgeordneter von Agudat Israel ist Vizeminister für Bauwesen; in diesem Amt kann er den Ausbau der Siedlungen im Westjordanland und in Ost-Jerusalem eifrig vorantreiben und dabei die haredim- Gemeinden bevorzugt berücksichtigen. Zur Krönung des Ganzen stellt die Partei Degel Hatorah auch noch den Vorsitzenden der äußerst einflußreichen Finanzkommission des Parlaments. Die aus den religiösen Parteien kommenden Minister nützen ihre Machtposition weidlich aus. Zwar lösen ihre Methoden, die zum Teil gegen Gesetze und Regelungen verstoßen, ab und zu einen Medienskandal aus. Doch das stört sie im Grunde nicht. Als ein Schas-Abgeordneter wegen Korruption zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde, begnügten er und seine Parteikollegen sich mit der Feststellung, er habe die ihm vorgeworfenen Taten für eine gute Sache begangen – und müsse im übrigen nur deshalb ins Gefängnis, weil er sephardischer Herkunft sei. Die bei Schas-Anhängern so wirkungsvolle Karte der „ethnischen“ Diskriminierung wird von der Partei laufend ausgespielt.
Orthodoxe Rekrutierung
UNGEACHTET dieser staatlichen Posten beruht der gewaltige Einfluß der religiösen Parteien und insbesondere der Ultraorthodoxen auf ihren zahlreichen Erziehungs- und Wohlfahrtseinrichtungen. Damit können sie sich in der Gesellschaft besser verankern und ihren ideologischen Einfluß ausdehnen. In den Schulen der Ultraorthodoxen werden die Jugendlichen – und über sie auch ihre Eltern – einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen, erhalten aber auch Hilfe bei der Bewältigung ihrer Probleme. Während Regierung und Gemeinden die Mittel für die warmen Mahlzeiten in den öffentlichen Schulen einschränken oder streichen, ist kostenlose Schulspeisung in den Anstalten der Schas ebenso gewährleistet wie ein ergänzendes Unterrichtsangebot mit anschließendem Heimtransport. Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, wenn die Zahl der von religiösen Parteien betriebenen Schulen stetig anwächst. In den südlichen Vorstädten von Tel Aviv hat die Zahl der Kinder, die die Vorschulen der Schas besuchen, um 20 Prozent zugenommen. Die neu eingeschriebenen Kinder kommen oft aus nichtreligiösen Familien und tragen in den ersten Tagen keine Kippa. Im Lauf der Zeit gewöhnen sie sich an, die Kopfbedeckung zu tragen, und schließlich beteiligen sie sich auch an den Gebeten ihrer religiösen Mitschüler.10 Insgesamt wenden die jüdisch religiösen Parteien die gleichen Techniken der Rekrutierung von neuen Mitgliedern an wie die islamistische Bewegung in Israel und die Hamas im Westjordanland und im Gazastreifen.
Immer mehr Nichtreligiöse, die sich durch die Ausweitung der religiösen Vorschriften eingeschränkt fühlen, ziehen aus Jerusalem weg. Seit den Wahlen vom 29. Mai 1996 sprechen viele Intellektuelle von einem „Kulturkampf“ zwischen Nichtreligiösen und Religiösen. Nach Einschätzung von Baruch Kimmerling existiert innerhalb der Koalition des „nationalen Lagers zum Schutz Großisraels“, die bei der letzten Wahl an die Macht gekommen ist, ein ernsthaftes Konfliktpotential zwischen dem Nationalismus der haredim und dem nichtreligiösen Nationalismus, dem auch Liberale angehören. Manche Religiöse sind bemüht, die Nichtreligiösen mit dem Versprechen zu beschwichtigen, sie wollten sich gar nicht besonders in ihre Privatangelegenheiten einmischen. Doch im Kulturkampf geht es nicht so sehr um die einzelnen Menschen als um den Charakter und das Bild des gesamten Staates.
Die Schriftstellerin Jael Hadaja hat gerade eine Erzählung veröffentlicht, in der Israel nach den Parlamentswahlen von Mai 2004 beschrieben wird. Die traditionellen religiösen Parteien sowie eine neue Partei der Amuletteträger und Murmler haben die Wahlen soeben gewonnen und setzen nun vereint ihre Gesetze und Bräuche durch. Damit die Nichtreligiösen weiterhin in Israel leben können, wird die Schaffung eines laizistischen „Autonomiestatus“ ins Auge gefaßt.11
Könnte man sich nicht tatsächlich die Existenz von zwei Staaten vorstellen? Damit ist nicht etwa ein israelischer und ein palästinensischer Staat gemeint, sondern ein religiöser und ein laizistischer.12 Viele lächeln nur über eine solche Vorstellung, andere nehmen sie jedoch sehr ernst. Fest steht in jedem Falle, daß die Zuspitzung der Widersprüche zwischen den religiösen Kräften, die sich gewöhnlich militant gebärden, und den Laizisten, die häufig schon resigniert haben, das Zusammenleben immer schwieriger macht.
dt. Birgit Althaler
* Journalist der Tageszeitung Ha‘aretz, Tel Aviv.