Was der Terror verdeckt
Erneut ist im Monat Ramadan in Algerien die Gewalt eskaliert. Eine Serie von Massakern, die den Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) zugeschrieben wird, betraf im Westen des Landes ausgerechnet Dörfer, die als Hochburgen der Islamischen Armee des Heils (AIS) gelten. Diese wiederum hält sich, in ihrer Rolle als bewaffneter Arm der Islamischen Heilsfront (FIS) schon seit Herbst 1997 an den proklamierten Waffenstillstand mit der Militärführung. Angesichts der breiten Empörung in den westlichen Ländern hat sich die algerische Regierung im Januar bereit gefunden, drei Abgesandte der Europäischen Union zu empfangen – doch nur unter zwei Grundbedingungen: Die Troika durfte weder Untersuchungen vor Ort, sprich: in den betroffenen Dörfern durchführen, noch mit Vertretern der Islamischen Heilsfront zusammentreffen. Das Militär, seit sechsunddreißig Jahren an der Macht, zeigt sich weniger denn je kompromißfähig – und blockiert jede Möglichkeit einer politischen Öffnung.
Von LAHOUARI ADDI *
WAS Algerien an mörderischer Gewalt erlebt, dringt nur zu einem kleinen Teil an die Öffentlichkeit. Das ist kein Zufall, denn die Machthaber leiden an Geheimhaltungswahn und haben stets eine Politik der Vertuschung betrieben. Und auch das Regime selbst ist wie die Spitze eines Eisbergs, bei dem die wichtigsten Entscheidungsstrukturen dem Auge entzogen bleiben. Um die algerische Krise und ihren möglichen Ausgang zu verstehen, muß man daher nicht nur die islamistische Bewegung1 analysieren, sondern das gesamte politische Spektrum: Wer sind die entscheidenden Kräfte, was bestimmt ihr Verhältnis zueinander, und worum geht es bei den Auseinandersetzungen?
Die Machtstruktur des algerischen Staates war von Beginn an doppelköpfig: Der eine Kopf ist die Militärführung, der andere die Regierung. Die Dichotomie stammt aus dem Befreiungskrieg (1954- 1962) und entspricht den unterschiedlichen Funktionen, die damals der Generalstab der Nationalen Befreiungsarmee (ALN) einerseits beziehungsweise die Provisorische Regierung der Republik Algerien (GPRA) andererseits wahrnahmen. Die GPRA entstand erst 1958. Sie hatte die Aufgabe, die diplomatische Repräsentation der Nationalen Befreiungsfront (FLN) im Ausland wahrzunehmen und die finanziellen Mittel zu beschaffen, die benötigt wurden für die Organisierung des Widerstandes ebenso wie zur Rekrutierung der geflüchteten Algerier in Marokko und Tunesien. Geleitet wurde die Revolution jedoch vom Generalstab der ALN, der nach dem Ende des Befreiungskrieges die GPRA „vor die Tür setzte“ und die Leitung des neuen Staates allein übernahm.2 Sechsunddreißig Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung gilt die Regierung immer noch als ein Organ, dem es obliegt, die von der Armee erlassenen Richtlinien umzusetzen.
Zwar tritt die Militärführung als höchste staatliche Autorität auf und beschränkt damit das Kabinett auf die Rolle eines ausführenden Organs, das sich lediglich um die laufende Verwaltung kümmert, aber dieses Militär ist keineswegs ein homogenes Gebilde. Die Armee setzt sich aus verschiedenen Formationen zusammen, die formell alle dem Generalstab unterstehen, aber doch eine gewisse Autonomie haben: Das gilt etwa für die Gendarmerie und den militärischen Sicherheitsdienst, aber auch für die Führungsstäbe der einzelnen Militärbezirke.
Überdies bauen sich die Offiziere an der Spitze dieser Formationen ihre eigenen Seilschaften aus loyalen Kameraden und Untergebenen zusammen, wodurch sich ihre Unabhängigkeit gegenüber der zentralen Führungsebene verstärkt. Auf diese Weise wird die öffentliche Gewalt – als deren ausführendes Organ Armee und Gendarmerie im Prinzip auftreten – durch eine Logik ausgeschaltet, die der offiziellen Machtelite entzogen ist. Diese konfliktträchtige Struktur ist zu normalen Zeiten für Außenstehende unsichtbar und tritt erst in Krisenzeiten voll zutage.
Das erklärt auch, warum die Repressionsmaßnahmen gegen die Islamisten unkoordiniert verlaufen und sich nicht auf geltendes Recht berufen. Da tauchen vermummte Mitglieder von Spezialeinheiten auf und verhaften irgendwelche Verdächtigen, die einfach spurlos verschwinden, ohne daß ihre Familien jemals erfahren, zu welcher Abteilung der Armee die Verantwortlichen gehört haben. Dieser Zustand allgemeiner Rechtlosigkeit konnte deshalb entstehen, weil die Militärs zu der Überzeugung ausgebildet werden, der innere Friede hänge allein davon ab, daß sie unbeschränkte Vollmachten haben. So sind sie weder der Justiz noch der öffentlichen Meinung irgendwelche Rechenschaft schuldig.
Die Regierung ihrerseits, einschließlich des Präsidenten, besitzt nicht die nötigen Machtmittel, um gegen die verantwortlichen Leiter der Antiterroraktionen vorzugehen. Tatsächlich gibt es keine Instanz, vor der sich die leitenden Offiziere zu verantworten haben. Ebenso undenkbar ist es, daß ein Richter unabhängige Ermittlungen über einen Mord oder einen Anschlag einleiten könnte. Es gibt keine Grenzen, die auch das Regime respektieren müßte. Wie aus den Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen hervorgeht, spielt sich der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus in der Sphäre der Illegalität ab.
Die Entwicklung ist so verlaufen, als hätten die unerbittlichen Scharfmacher immer nur eine Situation herbeiführen wollen, in der es kein Zurück mehr gibt. Gegen die Islamische Heilsfront (FIS) sind sie mit Hinrichtungen, Folter und Kollektivbestrafungen vorgegangen, und im Gefolge der Greueltaten, die den Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) zugeschrieben werden, hat auch die sogenannte Sicherheitspolitik jedes Maß verloren: Die Geheimdienste der Armee haben eine Strategie des Terrors eingeschlagen, um die FIS in die Knie zu zwingen und ihr, falls sich das Regime zu Verhandlungen bereitfinden sollte, ihre eigenen Bedingungen aufzuzwingen.
Dieser Zustand dauert jetzt schon mehr als zwei Jahre an, denn die Armee ist zugleich Schutzmacht des Staates und Rückgrat des Regimes. In entscheidenden Situationen ziehen sich die führenden Militärs zur Beratung zurück, um einen Kompromiß auszuhandeln, den dann alle mittragen. Auf diese Weise wurde etwa die Annullierung der Wahlen vom Dezember 1991 beschlossen, oder auch die Bestimmung von Liamine Zéroual zum Präsidentschaftskandidaten. In der Presse liest man darüber nichts, denn es handelt sich um informelle Zusammenkünfte – und das aus gutem Grunde, sie sind nämlich in der Verfassung nicht vorgesehen.
Unbekannt sind auch die Kriterien, nach denen die Teilnehmer an diesen geheimen Zusammenkünften ausgewählt werden. Dabei sind jedenfalls die Mitglieder des Generalstabs, die Leiter der zentralen Dienststellen des Verteidigungsministeriums, die Befehlshaber der einzelnen Militärregionen, der Chef der Gendarmerie und der Leiter des Geheimdienstes – genau jene Leute also, die relativ selbständig über den Einsatz staatlicher Gewalt entscheiden können. Da dieses informelle Gremium die weitreichendsten Entscheidungen trifft, hat es sich damit faktisch zum höchsten Staatsorgan aufgeworfen. In Algerien besteht demnach in Wahrheit ein Zensuswahlrecht, wobei die soziale Basis für das Stimmrecht nicht eine gesellschaftliche Aristokratie, sondern eine Militärkaste ist.
Damit das System richtig funktioniert, darf allerdings der zum Staatschef bestimmte Militär nicht danach trachten, eine wahrhaftige Autonomie zu erlangen, um sich seinerseits nun über die Armee zu stellen. Wenn also der Präsident die in der Verfassung festgelegte Rolle als „Oberbefehlshaber der Streitkräfte“ wörtlich nimmt, gerät die Aufteilung der Macht in eine Krise. So erklärt sich etwa der Staatsstreich von Houari Boumedienne gegen Ahmed Ben Bella im Juni 1965, der erzwungene Rücktritt von Chadli Bendjedid im Januar 1992 und auch das tragische Ende von Mohamed Boudiaf, der im Juni 1992 einem Attentat zum Opfer fiel.
Spannungen zwischen Regierung und Militär
AUS den wenigen verfügbaren Informationen kann man schließen, daß es im Sommer 1997 eine ernste Unstimmigkeit zwischen dem Generalstab und dem Präsidenten gegeben haben muß, bei der das Militär dem Präsidenten unterstellte, er habe mit der Führung der FIS über die Rückkehr zum inneren Frieden verhandeln und dabei die führenden Offiziere übergehen wollen, die 1991 die Annullierung der Wahlen entschieden hatten. Daraufhin soll die Armeeführung, um Liamine Zérouals Plan zu vereiteln, ihrerseits eigenständig direkte Verhandlungen mit der Islamischen Armee des Heils (AIS), dem bewaffneten Arm der FIS, aufgenommen und den Waffenstillstand vom 1. Oktober 1997 ausgehandelt haben4 – ein taktisch geschicktes Manöver, um dem Präsidenten die Möglichkeit zu nehmen, sich als Architekt des Friedens zu präsentieren, was ihm ein deutliches Eigengewicht verschafft hätte. Die jüngst von Überläufern enthüllte Verwicklung der Sicherheitskräfte in einige Attentate und Massaker könnte Teil einer offenen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Armeefraktionen sein, von denen die eine den Generalstab unterstützt, während sich die andere um den Präsidenten schart.5
Ein weiteres Element in diesem Machtgefüge ist die Regierung, die für die staatliche Verwaltung und die laufenden Regierungsgeschäfte verantwortlich ist. An ihrer Spitze steht üblicherweise ein hoher Offizier, der zuvor einen Posten im Verteidigungsministerium innehatte – dessen Vorgesetzter wiederum der Staatspräsident ist. Das Kabinett fungiert als eine Art Fachausschuß, zusammengesetzt aus unpolitischen Beamten, die sich auf administrative Funktionen beschränken. Institutionell ist es zwar für die Umsetzung der staatlichen Autorität zuständig, kann aber nichts dagegen unternehmen, wenn irgendwelche Bestimmungen vom Militär verletzt werden. Es ist, als würde das Militär nicht der zivilen Gerichtsbarkeit unterstehen.
Tatsächlich stehen die Richter in der Macht- und Autoritätshierarchie tiefer als die Offiziere und Beamten. Sie dürfen nur die unbedeutenden Streitfälle entscheiden; sind hochrangige Personen in einen Streitfall verwickelt, haben die Richter nichts zu sagen. Der Richter ist gleich einem Verwaltungsbeamten in eine politische Hierarchie gepreßt; mit einer unabhängigen Rechtsprechung, wie sie in jedem Rechtsstaat üblich ist, hat das nichts zu tun. Auch alle anderen Funktionen der öffentlichen Gewalt haben aufgrund des politischen Übergewichts der Armee an Bedeutung verloren. Daß die Regierung dennoch ein wichtiger Mitspieler geblieben ist, liegt daran, daß sie offiziell für die Verteilung der Finanzmittel des Landes zuständig ist. Zwar werden die wichtigen wirtschaftlichen Weichenstellungen von der Armee getroffen, aber die Regierung kann nach wie vor die Öleinnahmen zwischen den Ressorts aufteilen, die Investitionsstruktur festlegen und die Wirtschaftspartner in Algerien und im Ausland auswählen. So „legalisiert“ sie die Übertragung von Teilen der Öleinnahmen an Privatpersonen, die ihrerseits Vertreter von – militärischen oder zivilen – Interessengruppen sind, während die Privatisierung der Wirtschaft weiter voranschreitet und immer mehr Joint-ventures entstehen.6 Die Korruption hat also ihren Ursprung nicht bei privaten Konsortien, die das öffentliche Interesse schädigen, sondern bei den Vertretern der Staatsmacht, die Interessen privater Nutznießer bedienen. Es versteht sich, daß der Staat, so wie er verfaßt ist, diese Entwicklung nicht wirksam bekämpfen kann.7
Bei der Regierungsbildung kommen die entscheidenden Ausrichtungen ebenfalls aus der Armee: Die verschiedenen Militärfraktionen benennen ihre Kandidaten. Die Minister werden also nicht nach politischen Kriterien ausgewählt, sondern in einem klientelistischen Ausleseprozeß, in dem sie zwei Kriterien erfüllen müssen: Zum einen soll ein Minister die allgemeinen Interessen des Regimes wahren und zum anderen seine Treue gegenüber der Fraktion bezeugen, die ihn ernannt hat. Auch das Privatkapital, das ohne Beziehungen zum Staatsapparat kaum zum Zuge käme, ist immer wieder auf hilfreiche Eingriffe von Ministern angewiesen: etwa um die Freigabe von Gütern im Zollhafen zu erwirken, eine Steuerermäßigung zu dekretieren oder den Verkauf eines Gewerbegrundstücks durchzusetzen. Solche Dienste lassen sich Handel und Industrie natürlich ohne weiteres etwas kosten ...
Die Regierung ist zwar nicht direkt verantwortlich für die Sicherheitspolitik – denn diese ist Sache der Armee –, aber sie verleiht der Unterdrückung einen Anschein von Legalität. Der Krieg wird an drei Fronten geführt: im Untergrund, in der Wirtschaft und in den Medien. Die Machthaber glauben, den Krieg an den anderen beiden Fronten schon gewonnen zu haben, wenn sie es schaffen, die Medien des Landes wie auch den Informationsfluß ins Ausland zu kontrollieren. Aber man kann das Fieber nicht senken, indem man das Thermometer zerschlägt.
Der normale algerische Zeitungsleser könnte den Eindruck gewinnen, die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Lande seien einigermaßen normal – abgesehen von den Massenschlächtereien, die aber nur als das Werk von ein paar Kriminellen dargestellt werden, die bislang nicht gefaßt werden konnten. Das Bild der Normalität rührt daher, daß auch die „unabhängigen“ Zeitungen der Zensur unterworfen sind: Sie dürfen nur Informationen aus offiziellen Quellen verbreiten, die Islamisten sind als Verbrecher darzustellen, über Willkürmaßnahmen und illegale Methoden der Sicherheitskräfte darf nicht berichtet werden. Etliche Herausgeber und Journalisten wurden zu harten Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie Nachrichten veröffentlicht haben, die als „sicherheitsgefährdend“ und „Vorurteile (gegen die Ordnungskräfte) schürend“ eingestuft wurden.
Ein Regime, das sich um jeden Preis an der Macht halten will, schreckt vor nichts zurück. Sowohl die Massaker unter Dorfbewohnern wie die Anschläge auf Journalisten und Künstler lassen viele Fragen offen, und da die Behörden wenig Eifer zeigen, die Umstände solcher tragischen Ereignisse aufzuklären, und auch keine Untersuchungskommission eingesetzt wurde, um Klarheit zu schaffen, kursieren zahlreiche Gerüchte über die Identität der Terroristen. So wird gestreut, der militärische Geheimdienst betreibe eine Rufmordkampagne gegen die Islamisten, indem er sie als Verbrecher darstelle, die junge Mädchen vergewaltigen und töten, Kinder erwürgen, Schulen niederbrennen, Intellektuelle ermorden und so weiter.
Sind solche Vermutungen plausibel? Aus den offiziellen Verlautbarungen zu Attentaten und Anschlägen ist wenig zu erfahren. Nie werden die Täter lebend gefaßt und vor Gericht gestellt. Und da es keine Pressefreiheit gibt, erscheint in den Medien nur die Version der staatlichen Stellen. Aber der Unterdrückungswahn hat den Machthabern geschadet: In den Augen der Mehrheit der Bevölkerung sind sie diskreditiert, in den Augen der internationalen Öffentlichkeit nicht mehr Herr der Lage. Seit der Annullierung der Wahlen im Januar 1992 war der blutige Gang der Ereignisse vorgezeichnet: Ein autoritäres Regime hat keine Mittel, um den Terrorismus zu bekämpfen, denn es kann sich nicht auf die Bevölkerung stützen. Welche Legitimität können die Machthaber beanspruchen, nachdem sie sämtliche Wahlen manipuliert haben – insbesondere die Parlaments- und Kommunalwahlen von 1997? Da sie von Demokratie nichts wissen wollen und den Algeriern nicht erlauben, ihre eigenen Hoffnungen zu äußern, werden sie die terroristische Gewalt nicht in den Griff bekommen, die ja gerade aus der politischen Erstarrung entstanden ist.
Ein weiteres Element in der politischen Landschaft (neben der Staatsmacht) sind die Parteien. Das Regime hatte es lange Zeit nicht nötig, seine Macht mit Hilfe von Parteien zu erhalten – um die symbolischen Errungenschaften des Befreiungskriegs zu verwalten, genügte die Nationale Befreiungsfront (FLN). Erst nach den Unruhen im Oktober 1988 sah sich die Armee veranlaßt, ein Mehrparteiensystem zu dulden. Aber dieses System sollte nur der geschwächten FLN wieder auf die Beine helfen: Die Konkurrenz um die Wählerstimmen sollte belebend wirken, nicht etwa einer anderen Partei einen Wahlsieg ermöglichen.
Das Regime duldet jede Opposition, und sei sie noch so kritisch, solange sie keine Veränderung bewirken kann. In der Frage der Legitimierung der Staatsmacht ist die Entscheidung ein für allemal gefallen: Garant der Staatlichkeit bleibt die Armee, die sich auf ihren historischen Auftrag beruft, die nationale Einheit zu bewahren und die Landesgrenzen zu verteidigen. In den höchsten Rängen des Offizierskorps sieht man deshalb keinen Grund, warum das Volk darüber bestimmen sollte, wer Staatspräsident wird oder wer die Exekutive kontrolliert.
Aus der Sicht der Militärs geht es bei der Zusammensetzung der Regierung (abgesehen von klientelistischen Vergünstigungen) allein darum, daß alle Kräfte repräsentiert sind, die sich seit der Unabhängigkeit herausgebildet haben. Die Wahlkampfspielchen betreffen einzig und allein die formelle Macht, also die Regierungsfunktionen. Die loyale Opposition darf deshalb leidenschaftlich um die Gunst der Wähler kämpfen, solange sie die Vormachtstellung der Armee nicht anzweifelt. Mit dieser oder jener Persönlichkeit der Opposition kann man diskret verhandeln; um sie gefügig zu machen, kann man ihnen auch Regierungsposten anbieten – was um so leichter fällt, als sie lediglich mit fiktiver Macht ausgestattet sind.
Die Opposition darf sich also gegen die Regierung stellen, aber nicht gegen das System, dessen Dreh- und Angelpunkt die Armee ist. Genau darum wurde 1992 die FIS verboten: Ihr Wahlerfolg hätte eine echte Bedrohung für das Regime bedeutet. Allerdings wäre die Wahl auch dann annulliert worden, wenn eine andere Partei dieselben Stimmengewinne erzielt hätte. In der Sicht der Machthaber dienen Mehrparteiensystem und Wahlkämpfe dem Zweck, das Regime mit demokratischen Weihen auszustatten und dadurch seine Legitimation zu untermauern – und nicht etwa dem Zweck, es abzulösen.
Man kann daher die wichtigsten Parteien nach ihrer Stellung zum Regime einordnen:
– Hauptstütze ist zweifellos die Partei von Präsident Zéroual, die Nationale Sammlungsbewegung für die Demokratie (RND), die im Februar 1997 gegründet wurde. Sie kann auf jede Art von Unterstützung durch den Staatsapparat zurückgreifen und konnte auf diese Weise die letzten Wahlen gewinnen. Was die FLN betrifft, so gehörte ihr Generalsekretär Abdelhamid Mehri zwar 1995 zu den Unterzeichnern der Gemeinsamen Erklärung von Rom, doch er wurde gestürzt, und sein Nachfolger Boualem Benhamouda hat die in Sant'Egidio getroffenen Vereinbarungen verurteilt.
– Andere Parteien kritisieren zwar die Politik der Regierung, stellen sich aber auf die Seite der Armee. Das gilt für die „gemäßigt islamistische“ An-Nahda, die Ettahadi-Partei (der Exkommunisten), die Algerische Erneuerungspartei (PRA) von Noureddine Boukrou, die Gesellschaftliche Bewegung für den Frieden (MSP) von Mahfoud Nahna8 und ebenso für die Vereinigung für Kultur und Demokratie (RCD) von Said Sadi. Die beiden letztgenannten Parteien bedeuten für die Militärführung geradezu ein Geschenk des Himmels: Die eine dient den Generälen als Alibi gegenüber den Islamisten, die andere gegenüber den Verfechtern einer Modernisierung.
– Schließlich gibt es noch vier Parteien, die dem Regime feindlich gegenüberstehen: die FIS, die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) unter der Führung von Ait Ahmed, die Bewegung für Demokratie in Algerien (MDA) von Ahmed Ben Bella und die Arbeiterpartei (PT) von Louisa Hanoune.
Sieht man von den Gruppierungen ab, die von den Machthabern ausgehalten werden (RND und FLN) und ohne staatliche Unterstützung kaum bestehen könnten, so unterscheiden sich die Parteien danach, ob sie in erster Linie gegen die Armee oder gegen die Islamisten sind; davon hängt wiederum ihre Bündnispolitik ab, die sich über alle ideologischen Unterschiede hinwegsetzen kann. Auf diese Weise ist auch die „Allianz von Rom“ zustande gekommen, zu der sich FIS, FFS, PT und MDA zusammengeschlossen haben, um die Armee zur Aufgabe der seit 1962 übernommenen politischen Rolle zu zwingen. Doch dieses Oppositionsbündnis wurde von RCD, MSP, PRA und Ettahadi heftigst attackiert, denn in ihren Augen handelt es sich lediglich um einen Versuch, die aufgelöste FIS wieder gesellschaftsfähig zu machen.
Eine weitere Divergenz innerhalb der nichtreligiösen Parteien betrifft die Frage der Demokratisierung. Den einen geht es vor allem darum, die Islamisten auszuschalten, auch wenn sie damit vorübergehend dem Regime in die Hände spielen; für sie ist Demokratie nur erreichbar, wenn die Gesellschaft sich auf gemeinsame Werte einigt. Die anderen halten es für wichtiger, grundsätzlich das Verfahren des Regierungswechsels zu verankern, auch wenn dieses zunächst den Islamisten zugute kommen könnte. Grundwerte oder Verfahrensweisen – als diese Auseinandersetzung im Januar 1992 eröffnet wurde, war sie schon hinfällig, denn die Militärs hatten die Wahlen bereits annulliert und die Islamisten den bewaffneten Kampf aufgenommen.
Die Position der Parteien, die für ein Verbot der FIS eintreten, ist insofern nicht konsequent, als sie von der Armee erwarten, daß diese die Islamisten vernichtet und ihnen selbst (den legalen Parteien) inmitten dieser Bürgerkriegssituation, in der die grundlegenden Bürgerrechte außer Kraft gesetzt sind, freie Wahlen zubilligt. Doch was könnte die Armee unter solchen Umständen daran hindern, die Wahlen zu manipulieren und sich ergebene Politiker heranzuziehen, die den Militärs die Macht erhalten?
Die Wahlmanipulationen seit 1991 verhindern bislang jede Einschätzung darüber, wie stark die einzelnen Gruppen tatsächlich sind. Zweifellos ist die Unfähigkeit der nichtreligiösen Parteien, sich auf eine gemeinsame Strategie zur Überwindung der Krise zu einigen, Ausdruck der Gegensätze zwischen den sozialen Schichten, die das nichtislamische Wählerpotential bilden. Besonders zahlreich vertreten sind diese vor allem in den Städten – darunter befinden sich viele Beamte, Ingenieure, Ärzte, Rechtsanwälte und andere Selbständige. Sie wollen das Ende der Einparteienherrschaft, also weder die Alleinherrschaft des Militärs noch die einer Regierung, wie sie die FIS errichten möchte. Man bezeichnet diese Wähler als „Demokraten“, obwohl einige von ihnen äußerst autoritäre Positionen vertreten.9
Da diese Demokraten in ihren Reden die Frage der Religion völlig außer acht lassen, finden sie bei der Mehrheit der Algerier wenig Anklang. Viele Einwohner schließen daraus, daß die demokratischen Parteien sich nicht wirklich vom Regime losgesagt haben. Dieses Mißtrauen wird dadurch bestärkt, daß die Vertreter solcher Ansichten aus einer säkularisierten Oberschicht abstammen, in der man obendrein Französisch spricht.
Dennoch haben die FIS-Wähler nicht gegen die Demokratie gestimmt. Sie wollten den Machthabern eine Absage erteilen, aber zugleich drückten sie damit die – unausgesprochene und widersprüchliche – Forderung nach mehr Demokratie aus. Das demokratische Lager hat nicht begriffen, in welchem Maße die Hinwendung zu den Islamisten von einer allgemeinen Abneigung gegen das politische System herrührte und von dem Wunsch, an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Die einfachen Leute wiederum konnten nicht verstehen, wie man sich einerseits auf die Demokratie berufen und andererseits mit dem Militärregime einverstanden sein konnte, das die Wahlen annullierte, die von einer Oppositionspartei gewonnen worden waren. Hinzu kommt, daß einige Vertreter des demokratischen Lagers ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, weil sie zu Menschenrechtsverletzungen schweigen, sobald deren Opfer Islamisten sind. Eine Haltung, die in der Tat politisch wie moralisch höchst problematisch ist.
Die Hoffnung der Demokraten
UM Anhänger zu gewinnen, muß eine Partei ihr politisches Profil deutlich machen, und zwar durch ein positives Programm; eine Bewegung, die sich nur negativ, also gegen eine andere Richtung definiert, wird das kaum schaffen. Die sogenannten demokratischen Gruppierungen werden sich nicht damit begnügen können, die Islamisten zu attackieren, sie benötigen vielmehr eine Position, die sich durch unantastbare Grundsätze auszeichnet: Achtung der Menschenrechte, Regierungswechsel durch Wahlen, Pressefreiheit, Wahlen ohne staatliche Beeinflussung. Wenn sie unter diesen Prämissen die Menschenrechtsverletzungen, die den Islamisten zugefügt werden, nicht öffentlich geißeln, verraten sie ihre politische Identität und verlieren an Glaubwürdigkeit.
Eine Grundannahme der Moderne besteht in der Überzeugung, daß der Mensch einen Zweck und nicht ein Mittel darstellt. Wenn eine Organisation der Moderne verpflichtet ist, muß sie folglich von der Moral her argumentieren. Das Gegenbild sind Regierungsmethoden, die mit Täuschung und Gewalt arbeiten, den Menschen also zum Mittel für einen politischen Zweck machen. Politische Parteien, die aus den Massakern an unschuldigen Zivilisten politische Vorteile ziehen, ohne zugleich vollständige Aufklärung und Bestrafung der Verantwortlichen zu fordern, stellen ganz offenbar die eigenen Interessen über moralische Grundsätze.
Im Januar 1992 waren die demokratischen Strömungen nicht stark genug, um die Armee von ihren Repressionsmaßnahmen und die Islamisten von ihrer Politik des Terrors abzuhalten. Schließlich ging es für beide verfeindeten Lager ums Überleben. Daß die Spirale der Gewalt nicht aufzuhalten war, lag aber auch daran, daß es vor den Wahlen zu keiner nationalen Übereinkunft kam, die für den Fall eines Wahlsiegs der Islamisten die Menschenrechte und den Schutz der Opposition vor Verfolgung garantiert hätte. Im Verlauf der Auseinandersetzungen verwandelte sich das demokratische Lager in einen Haufen hilfloser und zerstrittener Individuen, deren Verlautbarungen letztlich nur als Unterstützung für die eine oder die andere Seite gewertet wurden. Ihre Bekenntnisse zur Meinungsfreiheit und ihre Verurteilung des Terrorismus blieben abstrakt und wirkten angesichts des Blutbades wie Beschwörungsformeln von hilflosen Zuschauern, wenn nicht gar von Mittätern.
Ein Demokrat ist per definitionem gegen Gewalt. Die Demokratie verlangt von ihren Anhängern weder daß diese alle Gegner der Demokratie umbringen, noch daß sie bereit sind, ihr Leben für die Demokratie zu lassen. Die Islamisten dagegen sind bereit zu töten, im Namen einer Heilserwartung, die den einzelnen nur als irdisches Werkzeug der göttlichen Vorsehung begreift. In ähnlicher Weise ist auch die herrschende Kaste der Privilegierten bereit zu töten, um ihr Überleben zu sichern: Sie setzt dabei alle staatlichen Mittel ein und verschanzt sich hinter den geltenden Gesetzen.
Dieser fundamentale Unterschied ist der Hintergrund der tragischen Schwäche der Opposition und erklärt auch, in welcher Zwickmühle sie sich befindet: auf der einen Seite ein Regime, das keinen Wandel zuläßt und versucht, die Opposition für seinen eigenen Machterhalt auszunutzen, auf der anderen Seite eine islamistische Bewegung, die auch nur eine Neuauflage des Einparteiensystems anstrebt. Die Opposition ist also außerstande, sich dem einen oder dem anderen Lager anzuschließen; mehr noch: jeder Sieg, egal welcher Seite, wird ihre eigene Position weiter schwächen: Gelingt es dem Regime, die Islamisten militärisch zu besiegen, fühlt es sich gestärkt und wird seine autoritäre Herrschaft nur noch verschärfen; sollten hingegen die Islamisten an die Macht kommen, werden sie für den Zeitraum mindestens einer Generation nur ihre eigenen Gesetze gelten lassen.
Die Hoffnung der Demokraten liegt also einzig in einer Rückkehr zu Wahlen. Nur so kann der Minimalkonsens zwischen allen politischen Strömungen, einschließlich der islamistischen, gesichert werden: Anerkennung des Wählerwillens als Quelle der Staatsmacht, bei gleichzeitiger Garantie von Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz. Die Tragfähigkeit einer solchen Übereinkunft aber bedarf der Zustimmung durch die Armee. Die Militärs müßten also die Vorstellung aufgeben, daß sie über die Macht verfügen und befinden. Statt dessen müßten sie sich als eine Institution begreifen, die bei einem durch Wahlen herbeigeführten Machtwechsel neutral zu bleiben hat.
Die einzige Lösung der algerischen Krise liegt in einer Überwindung der ursächlichen Dichotomie: der Spaltung der Nation nämlich in eine reale Kraft ohne institutionelle Macht und eine formelle Macht ohne politische Autorität. Es muß endlich geklärt werden, wer die Macht im Staat ausübt und dafür die Verantwortung trägt. Das Militär müßte also seine Einwirkung auf den staatlichen Bereich aufgeben, was nur denkbar wäre, wenn zuvor alle politischen Parteien, einschließlich der FIS, einen nationalen Pakt schließen würden, der die Spielregeln eindeutig festlegt, was etwa das Mehrparteiensystem, die Meinungsfreiheit und das Prinzip des Regierungswechsels betrifft. Die Armee könnte durchaus zum Garanten einer solchen Vereinbarung werden: Sie hätte dann das Recht zum Eingreifen, wenn eine Partei nach gewonnenen Wahlen die Vereinbarungen verletzen würde. Unter der Bedingung allerdings, daß sie das Vertrauen der Bürger zurückgewonnen hat. Dabei geht es um die Ehre der Offiziere, aber mehr noch um die Zukunft Algeriens.
dt. Edgar Peinelt
* Soziologe, Autor des Buches „L‘Algérie et la démocratie“, Paris (La Découverte) 1995.