13.03.1998

Nationismus gegen Nationalismus

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Nationismus gegen Nationalismus

ETLICHE Intellektuelle verbreiten die Meinung, die Nation sei nichts als ein obsoletes Gebilde, dessen Untergang wir sogar noch beschleunigen müßten. Und da dies nicht geschehe, mache sich ein bedrohlicher Nationalismus breit. Aber was kommt nach der Nation? Die Antworten laufen in aller Regel auf eine Rechtfertigung der Globalisierung oder ihrer europäischen Variante hinaus: eines Europas ohne Bürger, aber mit einer echten Regierung, das heißt einer Zentralbank. Doch die Nation bleibt eine aktuelle Idee: ein Raum der Demokratie, der Solidarität und des Widerstandes gegen die Marktgesetze – und gleichzeitig eine Plattform für eine wirkliche internationale Zusammenarbeit.

Von BERNARD CASSEN

„Ich oder das Chaos“ – schon zu de Gaulles Zeiten war der populistische Faden falscher Alternativen ein bißchen grob gesponnen. Doch die rhetorische Emphase, mit der die Entweder-Oder-Formel vorgetragen wurde, und die Persönlichkeit ihres Erfinders verliehen ihr so viel Durchschlagskraft, daß sie im allgemeinen Gedächtnis haftenblieb. Dasselbe läßt sich von den gezinkten Argumenten der eingeschworenen Anhänger des Marktprinzips nicht unbedingt behaupten. Für sie ist der Markt nicht nur „König“, sondern gleichsam Gott, denn er beruht angeblich auf „ökonomischen Gravitationsgesetzen“, also einer überirdischen Mechanik. So daß uns nur die Wahl bleibt zwischen der Globalisierung und dem Nichts, denn: „die Globalisierung ist“1 .

In einer weniger finalen Version, die uns die Wahl zwischen Sonnenschein und Hagelschlag läßt, lautet die Alternative „Globalisierung oder Nationalismus“. In Frankreich führt jeder, der sich zu den „denkenden Kreisen“ zählt, diesen großen Spruch im Munde und kolportiert ihn endlos weiter. Was macht es, daß keiner dazusagt, was unter Nationalismus zu verstehen sei, und daß manche beim Begriff Globalisierung anscheinend nur ans Internet denken. Das Spiel ist typisch französisch, denn in Großbritannien oder Deutschland, von Japan und den Vereinigten Staaten ganz zu schweigen, stellt man sich derartige Fragen nicht.

In einer neueren Arbeit mit dem Titel „Es lebe die Nation!“2 – in Anknüpfung an die Parole, mit der sich die Bürger-Soldaten in Valmy am 20. September 1792 Mut machten, als sie zur ersten großen Schlacht der Französischen Revolution gegen die Preußen antraten, analysiert Yves Lacoste das Schicksal einer (wie er es nennt) „geopolitischen Idee“, die sich gleichermaßen auf die Fragen von Staatsterritorium, Sprache und Macht bezieht. Lacoste sucht zu zeigen, daß diese Idee in Frankreich eng mit der Integration der Einwanderer verknüpft ist und daß es außerordentlich gefährlich wäre, sie dem Front National zu überlassen, der die Idee heute als einziger im Munde führt, aber nur um sie in eine Waffe der Ausgrenzung umzuschmieden. Das veranlaßt Menschen, die sich aufgrund ihrer Herkunft aus der Nation ausgeschlosssen fühlen, „mit ihrer Identität eine Rückzugsposition zu beziehen. Das führt dazu, daß die französische Nationalität auf eine verwaltungstechnische Annehmlichkeit reduziert wird und sich manche Bürgerinitiativen bereits veranlaßt sehen, die Anerkennung einer muslimischen oder arabischen Minderheit in Frankreich einzufordern“. Daß dies Wasser auf die Mühlen der rassistischen Thesen eines Le Pen ist – denn andere „Nationalisten“ sucht man in der heutigen politischen Landschaft Frankreichs vergebens –, braucht nicht eigens betont zu werden.

Nationalismus im heutigen Frankreich darf tatsächlich auf keinen Fall mit der Nation verwechselt werden. Er nimmt die „nationale Frage“ nur zum Vorwand, um die Regierungsparteien zu attackieren und sie an den Hebeln der Macht abzulösen. So sieht der Historiker Maurice Agulhon denn auch einen Gegensatz zwischen den nationalistischen Ideen, die die Nation über die Werte setzen – wie in der britischen Parole „My country, right or wrong“ („Mein Land, ob es im Recht oder im Unrecht ist“) auf den Punkt gebracht –, und dem „republikanischen Patriotismus“, der den Werten eine höhere Stellung einräumt als der Nation.

Auf den ersten Blick wird im derzeitigen Medienrummel gegen Le Pen nur der Nationalismus angeprangert, doch fälschlicherweise wird, wie Pierre-André Taguieff zu bedenken gibt, jede Art kollektiver Identität gleich mit dämonisiert – im besonderen die Nation –, so daß der vorgebliche Antinationalismus in Wirklichkeit ein „Antinationismus“ ist. „Das Nationale ist im Reich der Medien-Intellektuellen nicht mehr in Mode. Diese erhalten dabei Rückendeckung sowohl von den Anhängern einer Weltgesellschaft ohne Grenzen wie auch von den dogmatischen Verfechtern eines Europas der Regionen. Die einzig wahrhafte Demokratie ist für sie die Demokratie des Marktes.“3 Wobei Taguieff in diesem Zusammenhang sogar den Theoretiker der italienischen Lega Nord, Senator Gianfranco Miglio, zitieren kann: „Die Nation existiert nicht. (...) Die Perspektive der europäischen Einheit muß sich zwischen Großregionen mit gemeinsamen Interessen realisieren.“

Ein Negativsummenspiel

IN dieselbe Kerbe schlägt Emmanuel Todd, wenn er die „ökonomische Illusion“4 anprangert. Todd sieht in der Ablehnung allen kollektiven Glaubens an die Nation den gemeinsamen Nenner von politischen Erscheinungen – Europa-Idee, Glaube an die Globalisierung, Dezentralisierungstendenzen, Eintreten für die multikulturelle Gesellschaft –, die ansonsten offenbar nichts gemeinsam haben: „Der Ultraliberalismus und die Europabegeisterung, die in den achtziger Jahren aufkamen und in den westlichen Gesellschaften fortan die Gedankenwelt der gesellschaftlichen Eliten beherrschten, haben dies gemeinsam, daß sie die Existenz von Nationen negieren und keine glaubhaften kollektiven Einheiten mehr definieren wollen. (...) Die Ablehnung der Nation erfolgt hier mit Blick ,nach oben‘, also in dem Wunsch, die Nation in übergeordneten Einheiten – Europa oder die ganze Welt – aufgehen zu lassen; die Ablehnung kann sich aber auch mit Blick ,nach unten‘ äußern und eine Fragmentierung des Gesellschaftskörpers anstreben, sei es durch geographische Dezentralisierung oder indem man die Immigranten im Namen des Rechts auf Differenz in ihre jeweilige Herkunftskultur einmauert.“

Weshalb ist hier von ökonomischer „Illusion“ die Rede? Es gehört fraglos zu den originellsten Thesen von Emmanuel Todd, daß er die übliche kausale Verknüpfung zwischen dem Wirken der globalisierten ökonomischen Kräfte, sprich den „Märkten“, und der Implosion kollektiver Glaubensvorstellungen umkehrt. Todd geht von anthropologischen und kulturellen Grundkonstanten aus, deren Evolution auch die Produktions- und Handelsstrukturen verändert. „Das Aufsprengen der Nationen erzeugt die Globalisierung, nicht umgekehrt. Was in Frankreich wie in den USA und Großbritannien die Unwiderstehlichkeit des globalen Kapitalismus ausmacht, ist – um es mit einem treffenden Wort von Taguieff zu sagen – der Antinationismus der Eliten. Würde es wieder eine kollektive Gesinnung geben, die sich zentral auf die Nation bezöge, würde sich der Tiger der Globalisierung in eine Hauskatze verwandeln, mit der man ganz gut auskommen könnte.“

Im weiteren Verlauf seiner Analyse sieht Todd daher im Freihandel den grundlegenden Mechanismus, der alle Solidaritätsbande und jedes kollektive Zugehörigkeitsgefühl zerstört, das heißt: jegliche „auf Ewigkeit angelegte Struktur, durch die sich eine das Leben des einzelnen überdauernde Gruppe definiert“ und ohne die der einzelne mit seiner Angst, mit der Angst vor seinem unvermeidlichen Ende, alleingelassen ist. Die meisten Medien haben Emmanuel Todds Argumentation entweder karikiert oder einfach mit Schweigen übergangen: Der Freihandel, das zentrale Credo des Ultraliberalismus, wird in Frankreich diskussionslos akzeptiert, ganz anders als etwa in den Vereinigten Staaten, wo sich die Ökonomen heftigst darüber streiten. Diesseits des Atlantik braucht man dagegen nur das Schreckbild des „Protektionismus“ an die Wand zu malen, um jede Diskussion abzuwürgen. Das Motiv dieses Taschenspielertricks liegt auf der Hand: Nicht nur, daß der Freihandel den weltweiten Reichtum nicht erhöht, er ist auch die Hauptursache der wachsenden Einkommensunterschiede innerhalb der Nationen.

Todds Argumentation, die sich auf zahlreiche akademische Arbeiten aus den USA stützt, läßt sich kurz folgendermaßen zusammenfassen: Der Freihandel auf einem einheitlichen Weltbinnenmarkt für Arbeit und Kapital läßt die Löhne und Gehälter ebenso wie die Kapitalverzinsung zu einem globalen Durchschnittswert tendieren. So „werden in den entwickelten Industrieländern die Löhne gering qualifizierter Arbeitskräfte gedrückt, da das unbegrenzte Arbeitskräftepotential der Dritten Welt eine Konkurrenz darstellt, während die Entlohnung der hochqualifizierten Beschäftigten, global eine knappe Ressource, ebenso steigen wird wie die relative Verzinsung des Kapitals, das in einer Welt mit starkem Bevölkerungswachstum ebenfalls zu den knappen Gütern zählt“. Emmanuel Todd führt die Überlegung nicht weiter aus, doch die Konsequenz liegt auf der Hand: Die unqualifizierten Arbeiter aus dem Süden werden stets mit anderen unqualifizierten Arbeitern konkurrieren. Der Freihandel mag Gewinner hervorbringen – und die werden immer sein Loblied anstimmen –, doch für die große Mehrheit der Lohnabhängigen, und übrigens auch für die Unternehmen, entpuppt er sich eher als Negativsummenspiel.

Die geographische, kulturelle, psychologische Entkoppelung von Angebot und Nachfrage, wie sie der Freihandel hervorbringt, sorgt dafür, daß die Unternehmen nicht mehr das Gefühl haben, „durch die von ihnen ausgezahlten Löhne und Gehälter zur Bildung der Inlandsnachfrage beizutragen“. Wenn aber die Inlandsnachfrage überall sinkt, kann die weltweite Gesamtnachfrage schwerlich steigen.

Angesichts der Überproduktion, wie sie der derzeitigen Krise in Asien zugrunde liegt5 , sind die Unternehmen fortan zu allem bereit, nicht mehr um Gewinne zu erwirtschaften, sondern schlicht um zu überleben. Wenn wir die sozialen Sicherungssysteme, den öffentlichen Dienstleistungssektor, die materiellen Infrastrukturen und das Bildungssystem erhalten wollen, ist eine Rückkehr zum Protektionismus unumgänglich. Wobei der Verfasser allerdings hervorhebt, daß „eine nach außen hin geschützte Volkswirtschaft im Innern gleichwohl liberal und wettbewerbsorientiert bleiben kann“. Eine solche Vorgehensweise setzt jedoch „eine Vorstellung von Gemeinschaft und Gleichheit“ voraus, und diese wiederum kann „ohne Nation nicht auskommen“.

Zu exakt derselben Schlußfolgerung gelangt nach einer akribischen Beweisführung Denis Collin in „Das Ende der Arbeit und die Globalisierung“6 . Er geht allerdings, im Gegensatz zu Todd, von einem marxistischen Standpunkt aus: „Die Verteidigung der Demokratie und der Freiheit der Völker setzt eine Verteidigung der Form Nation voraus, so unangenehm dies auch jenen unter uns scheinen mag, die im Geist des ,proletarischen Internationalismus‘ oder einer Brüderlichkeit ohne Grenzen erzogen worden sind. (...) Nationen sind sicherlich nicht ewig: Sie entstehen, entwickeln sich und vergehen; aber das Faktum Nation selbst scheint mir untrennbar zu sein von der Konstitution der menschlichen Gesellschaft als einer politischen Gesellschaft.“

Ein anderer Gemeinplatz, mit dem man aufräumen muß, ist die Behauptung, das Nationale, die Nation befinde sich auf dem „Rückzugsgefecht“ und Globalisierung und Universalität seien ein und dasselbe. Mit dieser Gleichsetzung räumen Philippe Labarde und Bernard Maris in ihrer höchst engagiert geschriebenen Arbeit über den Wirtschaftskrieg7 gründlich auf. Die Globalisierung führe zur kulturellen Vereinheitlichung der Welt (Coca-Cola, McDonald's), während sie gleichzeitig die Menschen gegeneinander abschotte, denn der „Weltmarkt erfordert, daß alle sozio- professionellen Gruppen (Bauern, Beamte, Angestellte, Rentner, Erwerbstätige), alle Städte (was für Renault-Flin gut ist, ist für Renault-Vilvoorde schlecht), alle Regionen und Rassen und auch die Geschlechter sich gegenseitig bekriegen“.

Allgemeine Unsicherheit, Krieg aller gegen alle, wachsende Einkommensunterschiede, kulturelle Nivellierung, Verlust jedes Bezugsrahmens, Einsamkeit inmitten der Masse – die bisherige Bilanz der Globalisierung unter der Ägide und zum exklusiven Nutzen des Weltkapitalismus ist ernsthaft kaum zu bestreiten. Doch die Eindrücke, die täglich in den Medien auf uns einströmen, ergeben ein völlig anderes Bild.

Wie ist dieser Kontrast zu erklären? Emmanuel Todd hebt in seinem Erklärungsversuch hervor, daß die gegen alle Evidenz unempfindliche Blindheit der europäischen Oberschichten, die „heute ebenso in die Irre gehen wie in den dreißiger Jahren“, nicht nur von materiellen Interessen herrührt. Der eigentliche Grund dafür ist außerhalb der ökonomischen Sphäre zu suchen: „Wir müssen uns damit abfinden, daß es im Innersten des Menschen ein Programm der Realitätsverleugnung gibt, das in der Lage ist, lebensnotwendige Illusionen zu erzeugen.“ Wenn die Gruppe – die Nation – ausgelöscht wird und „der einzelne sich auf die zentrale, unerträgliche Evidenz zurückgeworfen sieht, wird das menschliche Programm der Realitätsflucht aktiviert. Ohne kollektive Glaubensvorstellungen verlieren langfristige Handlungsperspektiven ihren Sinn. Dann kann eine Präferenz für kurzfristige Ziele – in bezug auf Menschen, Gesellschaften und Volkswirtschaften – die Oberhand behalten.“

Die Nation ist nach dem Eingeständnis von Lacoste „eine keineswegs einfache Idee“, und sie „kann sich sogar als sehr gefährlich herausstellen“, während sie für Emmanuel Todd eine „vernünftige kollektive Glaubensvorstellung“ ist. Aber die Frage ist doch, ob es eine andere Idee gibt, auf die man angesichts der Barbarei der Globalisierung zurückgreifen könnte? Könnte es demnächst Europa sein? Das Europa von Maastricht und der Europäischen Zentralbank sicher nicht.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Die drei Zitate stammen aus Alain Minc, „La mondialisation heureuse“, Paris (Plon) 1997. 2 Yves Lacoste, „Vive la nation. Destin d'une idée géopolitique“, Paris (Fayard) 1997. 3 Pierre-André Taguieff, „Du Front national“, Le Banquet, Paris, Nr. 10, 1. Halbjahr 1997. Diesen Gedankengang entwickelte Taguieff zunächst in „Les fins de l'antiracisme“, Paris (Michalon) 1995. 4 Emmanuel Todd, „L'Illusion économique. Essai sur la stagnation des sociétés développées“, Paris (Gallimard) 1998. 5 Vgl. François Chesnais, „Asiatische Grippe oder weltweite Epidemie“, Le Monde diplomatique, Februar 1998. 6 Denis Collin, „La fin du travail et la mondialisation. Idéologie et réalité sociale“, Paris (L'Harmattan) 1997. 7 Philippe Labarde und Bernard Maris, „Dieu, que la guerre économique est jolie!“, Paris (Albin Michel) 1998.

Le Monde diplomatique vom 13.03.1998, von BERNARD CASSEN