13.03.1998

Risse im japanischen Modell

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Risse im japanischen Modell

WÄHREND sich die Bevölkerung überall in Südostasien mit Sparmaßnahmen konfrontiert sieht, verschärft sich die soziale Lage in Süd-Korea, und in Indonesien kommt es immer häufiger zu Unruhen. Diese Krise äußert sich in einer starken Abwertung der meisten Währungen (mit Ausnahme von China und Taiwan), in einer Umstrukturierung des Bankensektors, einer Zunahme der Konkurse und einer Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit. Sie wird sich auch auf Japan auswirken, das bereits seit mehreren Jahren ebenfalls in einer Wirtschaftskrise steckt. So hat Tokio am 7. Februar 1998 30 Billionen Yen (etwa 430 Milliarden Mark) aufbringen müssen, um den japanischen Finanzsektor zu retten.

Von EVELYNE DOURILLE-FEER *

Zwischen 1991 und 1998 hat sich die japanische Wirtschaft viel langsamer an die neuen Gegebenheiten angepaßt als zu früheren Zeiten. Die vorausgegangenen Krisen (die Ölkrise des Jahres 1974 und die Aufwertung des Yen gegenüber dem Dollar um 56 Prozent zwischen September 1985 und August 1986) hatte man jeweils ungefähr innerhalb eines Jahres ausgestanden.

Als dann aber zu Beginn der neunziger Jahre die Spekulationsblase platzte, folgte eine achtzehnmonatige Rezession, die vom Sommer 1991 bis zum Ende des Jahres 1993 andauerte. Die darauffolgende Konjunkturbelebung war schwächer als die Aufschwünge, die aus den anderen Krisen herausgeführt hatten: Das Wachstum erreichte 1994 nur 0,6 Prozent gegenüber 2,9 Prozent 1975 und 4,3 Prozent 1987. Außerdem ist dieser Aufschwung auffallend instabil. Nach den Wachstumszahlen für 1996, die mit mehr als 3,5 Prozent ziemlich kräftig ausfielen, wird für 1997 mit weniger als 1 Prozent gerechnet, und die Prognosen für 1998 gehen in die gleiche Richtung. Insofern stellt sich die Frage nach den konjunkturellen und strukturellen Gründen für die aufgetretenen Schwierigkeiten.1

Als sich 1991 die Zeichen für einen Konjunkturumschwung häuften, setzten die Unternehmen ihre Aufschwungspolitik fort, indem sie weiteres Personal einstellten und weiter investierten. Diese Entscheidung belastete die Produktionskosten mit zu vielen Beschäftigten und erhöhten Abschreibungslasten für die Produktionsmittel. Die zweifelhaften Forderungen der Geldinstitute, die noch aus der Zeit der Börsen- und Immobilienspekulation Ende der achtziger Jahre stammten, aus den Bilanzen zu tilgen, war nun schwerer als angenommen. Ihre Gesamtsumme, die 1995 auf etwa 50 Billionen Yen geschätzt wurde, erreichte 1997 79 Billionen Yen. Gleichzeitig wurden aufgrund der Wirtschaftsflaute neue Außenstände sichtbar.

Nach und nach wirkte sich das abnehmende Vertrauen in die Solidität des Finanzsystems auf die Wirtschaftstätigkeit aus. Überdies veranlaßte die anhaltende Aufwertung des Yen gegenüber dem Dollar (von 138 Yen im Juli 1991 auf 83 Yen pro Dollar im Mai 1995) die Industrieunternehmen, die Produktionsauslagerungen zu beschleunigen.

Dies wirkte sich negativ auf einen Teil der Exporte aus und bremste vor allem den Konsum, weil Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit zu drohen schienen. Die Zurückhaltung der Verbraucher wurde in den letzten Jahren auch von der Furcht verstärkt, die Überalterung der Bevölkerung könnte langfristig zu einem sinkenden Rentenniveau führen.

Das Prinzip der flexiblen Starre

DIE Deregulierungsschritte haben die Märkte für ausländische Fertigprodukte geöffnet. Deren Anteil an den Gesamtimporten ist zwischen 1980 und 1995 von 23 auf 59 Prozent gestiegen. Das hatte zur Folge, daß die Inlandsproduktion von der Verstärkung der Verbrauchernachfrage nur wenig profitierte. Darüber hinaus machten es der teure Yen und die hohen Durchschnittslöhne den sehr teuer gewordenen japanischen Produkten schwer, sich neue Marktanteile zu erobern. Dies gilt um so mehr, als die japanische Industrie in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren kein wirklich neues Produkt auf den Markt gebracht hat.

Diese verschiedenen Faktoren wirkten sich negativ auf die Ansätze einer wirtschaftlichen Belebung aus. Es folgten Maßnahmen zur Haushaltssanierung, die alle am 1. April 1997 in Kraft traten: eine Mehrwertsteuererhöhung von 3 auf 5 Prozent, die Streichung der seit 1995 geltenden Einkommensteuerermäßigungen, die Erhöhung der Selbstbeteiligung bei der Sozialversicherung von 10 auf 20 Prozent und ein starkes Schrumpfen der öffentlichen Haushalte. Der 1996 eingeleitete Aufschwung wurde damit abrupt gestoppt. Gleichzeitig wurden immer neue Schieflagen bei den Geldinstituten publik. Diese Entwicklung kulminierte im November 1997 im Konkurs des Wertpapierhandelshauses Yamaichi.2 Die Krise in den asiatischen Ländern hat diese Situation noch weiter verschärft.

Die japanischen Exporte in diese Region (42 Prozent der Gesamtexporte im Jahre 1996) sind seit dem zweiten Halbjahr 1997 zurückgegangen, weil die Nachfrage in diesen Ländern nachgelassen hat und weil viele Pläne für Direktinvestitionen auf Eis gelegt wurden.

Darüber hinaus werden bestimmte Produkte (Eisen und Stahl, Petrochemie und so weiter) in Zukunft eine verstärkte südkoreanische Konkurrenz erleben: Von Mitte Januar 1997 bis Mitte Januar 1998 stieg der Wert des Dollar von 849 auf 1660 Won. Schließlich haben sich die japanischen Banken, nach Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, von allen ausländischen Banken am stärksten in der Region engagiert: Die Gesamtsumme der von ihnen vergebenen Kredite belief sich im Juni 1997 auf 124 Milliarden Dollar, das sind 32 Prozent aller ausländischen Kredite. Die Schwierigkeiten der lokalen Schuldner drohen diese Bilanz noch zu verschlechtern.

Nach Einschätzung der Weltbank könnten die Ereignisse in Südostasien das japanische Wachstum 1997 und 1998 um jeweils zwei Punkte mindern. Aber jenseits dieser Krise verweist die Instabilität der wirtschaftlichen Erholung auf Strukturprobleme. Das traditionelle Wirtschaftsmodell, dem Japan seine großen Erfolge verdankt (siehe nebenstehenden Kasten), wurde durch die internationale Öffnung immer stärker aufgebrochen. Die Probleme bei der Umgestaltung dieses Modells, die durch die anhaltende Finanzkrise verschärft werden, erklären die mangelnde Dynamik der japanischen Wirtschaft in den neunziger Jahren.

Bis in die achtziger Jahre hinein war eines der Merkmale dieses Modells seine „flexible Starre“. Durch die internationale Öffnung ist das ausgeklügelte Gleichgewicht zwischen Flexibilität und Starre jedoch durcheinandergeraten. Da die Regierung die Zahl der Reglementierungen immer weiter erhöht hat, hat sich die Waagschale zur Seite der Starre gesenkt. Aber die schrittweise Internationalisierung der japanischen Wirtschaft, die man 1980 mit der teilweisen Freigabe der Devisenkontrollen eingeleitet hatte, trägt ebenfalls dazu bei, die Konturen dieses Modells neu zu definieren, nachdem seine drei Säulen – nämlich Staat, Sparen und Ausbildung – ins Wanken geraten sind.

Der Staat ist nicht mehr uneingeschränkter Herr der Entwicklung. Staatliche Unternehmen wie die Eisenbahngesellschaft Japan National Railway oder Nippon Telegraph and Telephone sind inzwischen privatisiert. Die finanzielle Unabhängigkeit der Unternehmen, die in den siebziger Jahren hohe Kapitalreserven angehäuft hatten, begrenzte die Macht des Ministeriums für Internationalen Handel und Industrie (MITI), das bis dahin seine industriepolitischen Ziele durch die Kontrolle über die Kreditvergabe hatte durchsetzen können. Auch die Umstrukturierung von Schlüsselministerien wie denjenigen für Finanzen und für die Industrie gehört zu den bedeutsamen Reformen, mit denen man die Cliquenwirtschaft eindämmen und ein Primat der Politik durchsetzen will.

Nachdem das MITI lange Zeit ausschließlich auf den Export gesetzt und den Binnenmarkt abgeschottet hatte, setzte es sich seit der Mitte der achtziger Jahre aktiv für die Steigerung der Importe und für die Entwicklung von Technologie und Forschung ein. Die gemeinsamen Anstrengungen der Regierung und des Privatsektors haben zwischen 1985 und 1995 zu einer jährlichen Erhöhung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Höhe von 4,9 Prozent geführt. Diese Ausgaben stiegen bis 1995 auf 3 Prozent des BIP. Die ausgeprägte Sparneigung, die nach dem Krieg eine besondere Förderung erfahren hatte, ist im Ausland heftig kritisiert worden, und dies vor allem in den Vereinigten Staaten, die sich über die Höhe des japanischen Handelsbilanzüberschusses beklagen. Die ausgeprägte Sparneigung, die auch unter den ältesten Japanern sehr verbreitet ist, wird sich aber als Trumpf erweisen, wenn im Jahre 2020 mehr als ein Viertel der Bevölkerung älter als 65 Jahre sein wird.

Schließlich erfüllt das Ausbildungswesen, das zur Herausbildung einer homogenen Mittelschicht beigetragen hat, nicht mehr seine alte Rolle als Mechanismus zugunsten egalitärer Bildungschancen. Die Studenten der angesehenen Todai- Universität kommen mittlerweile zum größten Teil aus den wohlhabenden Bevölkerungsschichten. Die Ausbildung führt auch nicht zur Entwicklung von Individualismus und Kreativität, die in der Forschung dringend gebraucht werden. Zum Teil ist diese Kritik schon in die Reform des Jahres 1987 eingeflossen, die bei den Schulfächern eine bedingte Wahlmöglichkeit eingeführt hat.

Aber auch innerhalb der Unternehmen verändern sich die internen und externen Organisationsformen. So lockern sich die keiretsu, die Solidaritätsbindungen zwischen den Industriekonzernen im Hinblick auf Finanzbeziehungen, Präferenzverträge mit Zulieferfirmen oder den privilegierten Zugang zu den jeweiligen Hausbanken. Die Ausrichtung auf kurzfristige Rentabilität, aber auch die Schwierigkeiten, in die einige Unternehmen (vor allem im Finanzsektor) geraten sind, haben dazu geführt, daß man sich vom Prinzip der systematischen Quersubventionierung verabschiedet hat, demzufolge innerhalb eines Konzerns die starken Unternehmen die schwachen unterstützen.

Innerhalb der Unternehmen wird das System der lebenslangen Beschäftigung und des ans Dienstalter gebundenen Aufstiegs nicht nur von jungen Leuten in Frage gestellt, sondern auch von den Unternehmenschefs. Diese sehen nach einer Periode, in der die vorhandene Belegschaft gehalten und nur wenige Neueinstellungen vorgenommen wurden, einen Anstieg der Kosten auf die Unternehmen zukommen, der durch eine alternde Belegschaft verursacht wird. Schon gibt es Pilotprojekte zur Bezahlung nach dem Leistungsprinzip, die ausgeweitet werden sollen, wenn sich nicht allzu negative Folgen für die Mehrheit der Beschäftigten herausstellen. Aber auch die Methoden der Unternehmensführung sind im Wandel begriffen: So hat das Erdbeben von Kobe die Mängel der Unternehmenspolitik einer möglichst geringen Lagerhaltung bloßgelegt; eine solche Just-in-time-Produktion ist im übrigen für Firmen mit dezentralisierten Produktionsstätten nur schwer umzusetzen, wenn das betreffende Land über keine zureichende Infrastruktur verfügt. Ganz ähnlich stößt eine Ökonomie des breitgefächerten Warenangebots an ihre Grenzen, weil sie dem Kunden eine zu große Auswahl anbietet und damit die Rentabilität untergräbt und die Kauflust der Verbraucher bremst.

Geringe soziale Unterschiede

DIE einzelnen Versatzstücke des japanischen Modells verändern also ihre Form: Japan sucht nach einer Neuorientierung. 75 Prozent der Zwanzig- bis Dreißigjährigen sagen, daß sie weder den höheren Regierungsbeamten noch den Politikern vertrauen. Sie stellen sogar das Ideal der beruflichen Lebensstellung in Frage. Japan steht am Scheideweg und zögert vor der Wahl zwischen einem liberalen Kapitalismus nach amerikanischem Vorbild und einem eigenständigeren Modell, bei dem der Staat nach wie vor regulierend eingreift, aber auch Regelungen durchsetzt, die den internationalen Gegebenheiten eher gerecht werden.

Dieser zweite Weg ist noch nicht verbaut, was einigen positiven Merkmalen des alten Modells zu verdanken ist. Der Staat hat die Industrie nicht nur reglementiert und geschützt, er hat auch die Konkurrenz gefördert. In Zukunft könnte er auch seine Rolle bei der technologischen Entwicklung erweitern. Die Anstrengungen, die seit zehn Jahren auf dem Gebiet der Forschung unternommen wurden, tragen bereits ihre Früchte. Die japanische Industrie kann ihre Standards bei neuen, in Asien verkauften Produkten durchsetzen, etwa im Fall der Hilfsinstrumente für das Autoleitsystem Zenrin, der digitalen Videodiscs von Toshiba oder der Mobiltelefone von NEC.

Darüber hinaus könnte man das Engagement der technischen Angestellten, die schon jahrzehntelang an der Verbesserung des Produktionssystems mitwirken, auf neue Produkte lenken. Dies wäre um so leichter möglich, als die japanische Gesellschaft im Vergleich zu anderen großen Industrieländern nur geringe soziale Unterschiede kennt: Der Einkommensunterschied zwischen dem ärmsten und dem reichsten Fünftel der Bevölkerung lag in der Zeit von 1981 bis 1993 in Japan bei nur 4,3, in Frankreich hingegen bei 7,5 und in den Vereinigten Staaten bei 8,9.

Das Entstehen einer Art Bürgerbewegung und die atemberaubende Entwicklung des Internet sind ebenfalls Anzeichen dafür, daß sich die Gesellschaft und ihr Organisationsmodus verändern. Damit sich aber das wirtschaftliche Potential wieder entfalten kann, müßten die Politiker die Veränderungen vorantreiben. Werden die neunziger Jahre für Japan ein „verlorenes Jahrzehnt“ sein, oder werden sie den Wendepunkt für die Veränderung des japanischen Wirtschaftsmodells darstellen? Fürs erste hat 1998, das „Jahr des Tigers“, verdrießlich und voller Gefahren begonnen.

dt. Christian Voigt

* Doktorin der Wirtschaftswissenschaften, Beraterin am Centre d‘études prospectives et d‘information internationale (Cepii); vor kurzem erschien ihr Buch “L‘économie du Japon“, Paris (La Découverte, coll. “Repères“).

Fußnoten: 1 Siehe Christian Sautter, „Japan: Die Spekulationsblase ist geplatzt“, Le Monde diplomatique, Juni 1997, und Gavan McCormack, „Et si le Japon faisait faillite“, Le Monde diplomatique, August 1996. 2 Mit Schulden in Höhe von 3 Billionen Yen (etwa 43 Milliarden Mark) war der Konkurs von Yamaichi am 24. November 1997 der größte Bankrott eines Geldinstituts in Japan seit dem Zweiten Weltkrieg. Es war das dritte japanische Finanzinstitut, das innerhalb eines Monats schließen mußte.

Le Monde diplomatique vom 13.03.1998, von EVELYNE DOURILLE-FEER