13.03.1998

Wenn Fernsehzuschauer zu Teleakteuren werden

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Wenn Fernsehzuschauer zu Teleakteuren werden

Von PAUL VIRILIO *

NEBEN dem klassischen Fernsehen entsteht eine wahrhaft globale Teleüberwachung, die über die bekannte Funktion der alten Massenmedien weit hinausgeht und die man daher schnell zu erkennen versuchen muß. Anstatt endlos über die Programminflation und das rasch wachsende Angebot an audiovisuellen Diensten zu debattieren, sollten wir diese plötzliche multimediale Überbelichtung1 besser unter dem Blickwinkel der Globalisierung der Zeit, der Herausbildung jener universellen Echtzeit betrachten, die die ehemalige historische Vorrangstellung der lokalen Zeiten beseitigt hat. Die televisuelle Fragmentierung, der televisuelle Einbruch besteht zunächst einmal in der unerwarteten Vermehrung von Live-Kameras (livecam), die ans Internet angeschlossen sind; da ist selbst CNN überholt. Das neue audiovisuelle Kontinuum besteht weniger im kontinuierlichen Informationsfluß, wie ihn die überall aus dem Boden schießenden Programme fürs Massenpublikum verbreiten; viel wichtiger ist in diesem Zusammenhang die steigende Zahl an Online- Kameras, die in immer mehr Regionen der Welt installiert werden und deren Bilder jeder abrufen und auf den Bildschirm seines Computers holen kann. In Wirklichkeit lassen diese „Mikrokameras“, deren Leistung schon bald mit der der professionellen Camcorder gleichziehen wird, die klassische televisuelle Optik weit hinter sich.

Unmerklich steuern wir auf einen regelrechten Kollaps der Bilder zu, der sich in der Vermehrung von Kurznachrichtensendungen und im Desinteresse der Zuschauer an thematisch breitgefächerten Fernsehsendern bereits ankündigt.2 Auge um Auge: Nun steht die Konkurrenz der Ikonen auf der Tagesordnung, und diese Konkurrenz, die wie alles im Zeitalter des weltumfassenden Markts globale Züge annimmt, destabilisiert die Ordnung der Fernsehbilder; anders gesagt: sie destabilisiert die Gesamtheit der ikonischen Information.

Wenn „das Schicksal jedes Bildes in der Vergrößerung liegt“, wie Gaston Bachelard schreibt, so versetzt die Vergrößerung der globalen Internet-Optik am Computer-Terminal der distanzierten Sichtweise der klassischen Nachrichtensender einen tödlichen Schlag. Und tödlich ist dieser Schlag insofern, als er sich des Wesens der berühmten Globalisierung bedient: der Zeit, jener Globalzeit, die bei der Globalisierung des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Austauschs die einzige wirkliche Innovation darstellt. Denn mit dem Niedergang des Nationalstaats und der vermehrten Forderung nach Autonomie und Dezentralisierung hat die politische Geographie ihre geostrategische Bedeutung weitgehend eingebüßt.

Voyeurismus im Weltmaßstab

KEINE Frage, daß die Übertragung aller Ereignisse, die sich zum gegenwärtigen (telegegenwärtigen) Zeitpunkt in der Welt zutragen, einen „Markt des Blicks“ schafft, dessen panoptischer Charakter in puncto häuslicher Fernüberwachung die Inszenierung von Fernsehsendungen fürs Massenpublikum, wie wir sie seit mehr als fünfzig Jahren kennen, in der Tat bei weitem überschreitet.

Selbst der transitorische Charakter der Sendung und des „programmierten“ Empfangs wird hier durch die Möglichkeit in Frage gestellt, ständig direkt dabei zu sein, und wirft damit das Konzept von Nachrichtenübertragungen zu festen Zeiten um, das CNN vor zwanzig Jahren ins Auge gefaßt und mit Erfolg realisiert hat. Der Status von Nachrichtensendungen, die zu festgelegten Zeiten ausgestrahlt werden, verändert sich dadurch von Grund auf.

Nur die Videoüberwachung mit ihren Kontrollfunktionen nahm diese allgegenwärtige Situation der kontinuierlichen Realisierung von Live-Übertragungen vorweg, wobei sich diese teletechnologische Glanzleistung allerdings auf die Überwachung einiger öffentlicher Gebäude und bestimmter Stadtviertel oder Verkehrspunkte beschränkte. Mit Ausnahme der Militärspionage, die die ersten Satelliten nutzte, konnte tatsächlich niemand für sich in Anspruch nehmen, ständig allsehend zu sein.

Wenn diese globale Überwachung aller durch alle schon bald zum banalen Alltag wird und allgemeine Verbreitung findet – anders gesagt: wenn sich der Voyeurismus im Weltmaßstab demokratisiert –, setzen wir uns, indem wir unsere intimsten Aktivitäten über die Maßen zur Schau stellen, der Gefahr eines größeren ikonischen Unfalls aus, dessen Ausmaß nur den Werbefachleuten bekannt sein dürfte, abgesehen von den Militärs und Untersuchungsbeamten der strategischen Nachrichtendienste, die mit der ständigen Suche nach strafbaren Handlungen betraut sind: die politische Polizei oder die automatischen Spitzelsysteme.

In diesem Sinn bedeutet Multimedia die Explosion und Niederlage des traditionellen Medienmodells – eine Niederlage, deren Ausmaß noch niemand zu ahnen scheint, denn sämtliche (öffentlichen und privaten) Fernsehsender versuchen, sich auf irgendeine Weise Zugang zum Computerbildschirm zu verschaffen, um ihre alte Arbeit fortzusetzen.

Bildschirm gegen Bildschirm: Zwischen dem Terminal des Heimcomputers und dem televisuellen Monitor entspinnt sich langsam ein Kampf um den Markt der globalen Wahrnehmung. Wobei die Kontrolle dieses Markts, auf dem eher Ikonen als Idole gehandelt werden, schon morgen eine neue ethische und ästhetische Ära eröffnen wird.

Die Umfunktionierung des Fernsehers zum Billigcomputer oder die umgekehrte Entwicklung des tragbaren Computers zum digitalen Videomonitor läuft darauf hinaus, das persönliche Heimgerät zum Videopult der Verhaltensweisen, zum Kontrollpult der Weltwahrnehmung zu wandeln – einer sofortigen Wahrnehmung all dessen, was sich hier oder dort auf dem Globus ereignet. Es bedeutet im Gegenzug (im Kontrollbild) jedoch auch, daß man selbst von jedem anderen visuell kontrolliert wird, und nicht mehr nur von einigen Institutionen, die auf Meinungsumfragen, Einschaltquoten und polizeiliche oder militärische Überwachung spezialisiert sind.

Wie es anläßlich der Diana-Affäre im vergangenen Herbst einige Stars formulierten, denen die Paparazzi permanent nachstellen: „Das Unerträgliche daran ist weniger, daß jemand sich unrechtmäßig Bilder von uns verschafft, sondern daß man ständig kontrolliert wird.“ Glaubt denn wirklich jemand, daß die Bereitstellung enzyklopädischen Wissens (in Texten oder Zahlen), die die Grundlage von CD-ROM und Internet bildet, der bewegten Bilderwelt noch lange widerstehen kann? Im Web wie anderswo „zählt ein Bild mehr als eine lange Rede“, und wenn die Begeisterung für das Netz erst einmal verflogen ist, beginnt die Herrschaft des Bildes – eines völlig anders gearteten Bildes –, und mit ihr die Verwirklichung der ultimativen Perspektive: die Perspektive der Echtzeit. Ein Ereignis, dem historisch wie politisch in jeder Hinsicht dieselbe Bedeutung zukommen wird wie der Erfindung der Perspektive des „Echtraums“ in der italienischen Renaissance.

Niemand wird ernsthaft glauben, daß die zahllose Masse der „Informationsarmen“ die komplexen Zugangsverfahren zum Netz erlernen und sich in Internet-Surfer, in „Inforeiche“ verwandeln wird. Denn ihr einziger Zugang zur Ökonomie der Weltinformation wird wie immer über Bilder vermittelt sein.

Was im Mittelalter für die Gotik, ihre Glasmalerei, Fresken, Skulpturen, Teppiche und Buchmalerei galt, trifft im Zeitalter der umfassenden globalen Optik auch auf die Gotik der elektronischen Ikonen zu.

Derzeit verbreiten sich die Livekameras im Internet so rasch, daß dafür nicht einmal Werbung gemacht wird. Man stellt nicht „einen Unfall“, das Nebensächliche, zur Schau, sondern unabsichtlich zumeist sich selbst. Man stellt auch nicht die Überzurschaustellung zur Schau, sondern man erleidet sie. So schreitet der große Kollaps der elektronischen Bilderwelt, verdeckt durch seine eigene Augenfälligkeit, voran. Die Überbelichtung oder Überzurschaustellung ist eine Notwendigkeit der weltweiten Konkurrenz, und die vielfältigen Livekameras sind der große Rückspiegel, der tendenziell alle toten Winkel des alten Fernsehens beseitigt. Wenn der Weltmarkt nur in Echtzeit wirklich Weltmarkt ist und der Echtraum der ökonomischen Geopolitik von Tag zu Tag an Bedeutung verliert, wird die Überbelichtung zu einer unerläßlichen Voraussetzung des globalen Handels, und die verschiedenen visuellen und audiovisuellen Informationsquellen treten in Konkurrenz zueinander.

Kaleidoskop- Effekte

DAHER die Krise der Fernsehsender und ihre Absicht, mit allen Mitteln ins Web vorzudringen – was das erhebliche Risiko eines veritablen visuellen Kollapses birgt, da das Massenfernsehen damit der individuellen Programmgestaltung der einzelnen Benutzer weichen würde, so daß sich die „Kleinaktionäre“ der Bilderbörse von den Bildschirmen der Fernsehindustrie wohl zurückzögen.

Wo das klassische Fernsehen die Aufmerksamkeit der Zuschauermassen „fokalisierte“, eröffnet die weltumspannende Internet-Optik dem einst passiven Fernsehzuschauer, der nun plötzlich zum Teleakteur seines Wahrnehmungsfelds mutiert, die unerhörte Möglichkeit, sich des „Fliegenauges“ eines Kontrollpults zu bedienen – ein kaleidoskopischer Effekt, der es ihm gestattet, sich den Giganten der Fernsehindustrie zu entziehen. So wird sich die Werbung der alten „Werbesendungen“ wohl vom Fernsehbildschirm aufs Netzterminal verlagern, wie sie sich einst von den Werbeflächen auf den Häuserwänden der Städte in die Anzeigenspalten der Tageszeitungen, in die Radioansage und schließlich in den audiovisuellen Spot verlagert hat.

Daher die Dringlichkeit, über die alte „Fluchtpunktperspektive des Echtraums“ hinauszugehen und sie durch eine im Weltmaßstab zu realisierende „Echtzeitperspektive“, eine Perspektive der gleichzeitigen Flucht aller Punkte, aller Pixel der digitalisierten Bilderwelt, zu ersetzen. Allerdings wäre diese Raum-Zeit weniger eine analoge Repräsentation, sondern vielmehr eine bloße numerische Präsentation von Orten, Gegenständen oder Personen.

Die Direktsendung überspringt den Zwischenschritt des Berichterstatters oder Kommentators und präsentiert nur noch den Sprecher und seinen Gesprächspartner – daher die Analogie mit dem Telefon und der Fernüberwachung, als ob der aufsehenerregende Mißerfolg des Bildtelefons von einst die Sicht dafür verbaut hätte, daß sich diese Technologie über das Internet schon bald verallgemeinern wird.

Denn schließlich ist das „Netz der Netze“, vom Pentagon eingerichtet, um den elektromagnetischen Folgeerscheinungen eines Nuklearkriegs standzuhalten, nicht mehr als ein perfektioniertes Tele-Bildtelefon, das zwar Daten anzeigt, genausogut aber numerische (elektroakustische und elektrooptische) Signale transportieren kann, eine virtuelle Bilderwelt in Echtzeit, die das Prinzip des Fern-Sehens, wie es das alte Teleskop oder das Fernsehen verkörpert, tiefgreifend verändern wird.3

Stellen wir uns zum Beispiel vor, überall auf der Welt sind Tausende, ja Millionen von Live-Mikrokameras aufgebaut. Wenn dann irgendwo in einer entfernten Weltengegend etwas Unerwartetes und Wichtiges passiert, wird der Internaut – weil er es leid ist, auf ein Nachrichtentelegramm im Fernsehen oder gar auf die regulären 20-Uhr-Nachrichten zu warten – die Website der betreffenden Kamera anklicken, um sich anzusehen, was sich dort unten im Moment gerade ereignet.

Und die Journalisten können über die aktuellen Ereignisse berichten, ohne auf Reporter vor Ort zurückgreifen zu müssen. So wie man heute schon nicht mehr auf die nächste Tageszeitung wartet, um sich zu informieren, und statt dessen Radio oder Fernseher einschaltet, wird man auf der Erdkarte die Website der betreffenden Region anklicken – gerade so wie der Wachmann, der die Überwachungskamera des Supermarkts aufruft, oder der in Paris lebende Astronom, der als Anhänger der Tele-Astronomie nicht mehr ins Observatorium geht, sondern mit Computerhilfe den Sternenhimmel über dem Observatorium von Chile „tele-beobachtet“.

Letztendlich besteht genau darin die Großoptik der heimischen Fernüberwachung. Was dem militärisch-polizeilichen Komplex vorbehalten war und immer noch ist, entwickelt sich zum Blick eines jeden, mit allen Vor- und Nachteilen, die diese Art von Allgegenwärtigkeit und Augenblicklichkeit mit sich bringt. „Mit den weltweit 500000 Bildschirmen des total computerisierten Börsenmarkts wurde der asiatische Börsenkrach überall in Direktübertragung bekannt“, bemerkte vergangenen Herbst ein französischer Trader.

Doch wenn es über die Welt verteilt erst einmal 500000 oder besser 5 Millionen Live-Kameras und mehrere Dutzend Millionen Internauten geben wird, die bereit sind, sich die übertragenen Bilder augenblicklich auf ihren Bildschirmen anzusehen, werden wir den ersten visuellen Kollaps in der Geschichte der Bilder erleben. Dann wird das sogenannte Fern-sehen der allgemeinen Fernüberwachung einer Welt weichen, in der die berühmte virtuelle Blase der Finanzmärkte der visuellen Blase des kollektiven Imaginären gewichen sein wird, womit die Gefahr einhergeht, daß die berühmte Datenbombe, von der Albert Einstein bereits in den fünfziger Jahren sprach, tatsächlich explodiert.

Das Irrationale mag sich auf den globalisierten Finanzmärkten derzeit verstärkt zur Geltung bringen, doch weit stärker wird es sich morgen schon im Bereich der Globalisierung des kollektiven Imaginären entfalten, da der Multiplikatoreffekt des althergebrachten Fernsehens, der für die Rodney-King-Affäre oder den O.J.-Simpson-Prozeß ebenso verantwortlich ist wie für die Diana-Affäre, durch den überreaktiven Charakter der weltweiten Fernüberwachung unendlich verstärkt wird.

„Das Umsichgreifen individueller Stellungnahmen bringt, wenn sie alle in dieselbe Richtung weisen, instabile globale Konjunkturen hervor“, schrieb André Orléan, Analytiker am CNRS, anläßlich des letzten asiatischen Börsenkrachs. „Die Rationalität individueller Verhaltensweisen mündet in globale Irrationalität.“4 Hier nimmt die künftige universelle Werbung ihren Aufschwung.

Heute, da die alte, seit Menschengedenken geltende Vormachtstellung der lokalen Zeiten der Regionen dem Primat der Weltzeit (der Direktanbindung) unterliegt, steht die Entwicklung der „interaktiven“ Werbung ins Haus wie auch die der weit gefahrvolleren „vergleichenden“ Werbung. Ein wahrhafter Bürgerkrieg, eine Handelsguerilla, die die Konkurrenten förmlich hinrichtet, bahnt sich hier an, und die Europäische Kommission ist dabei, sie zu genehmigen.

In dieser extremistischen globalitären Konjunktur beschränkt sich der Raum der Werbung nicht mehr auf die Unterbrechung von Filmen oder auf Fersehspots, sondern deckt sich schlicht mit Echtraum und Echtzeit jeder Kommunikation.

Die Niederlage der Tatsachen

DIE Kommunikation entwickelt sich zu einem Markt, auf dem Sichtbares gehandelt wird, denn Bilder sind sein einziges Produkt“, schreibt Bernard Noäl. „Dieser Markt umfaßt die gesamte Wirtschaft, doch damit dort alles perfekt funktioniert, darf der freie Bilderverkehr durch nichts eingeschränkt sein.“5

Genau darin besteht die erwähnte ikonische Deregulierung: „Die Ware der Kommunikation wird nur mehr eine mentale Ware sein, und die sich durchsetzende Gesellschaft wird sich nur mehr in das Offensichtliche fügen.“ Bernard Noäl schließt: „Mit dem Bilderverkehr wird es der Kommunikationsgesellschaft gelungen sein, etwas zu realisieren, was noch kein totalitäres Regime mittels Ideologie geschafft hat: natürliche Gleichgesinntheit.“ So wird die panoptische Optik eine Scheinwelt hervorbringen, in der sich jeder viel wohler fühlen wird als in der gemeinsamen Realität.

Die Durchsetzung der Repräsentation als letztgültige und stimmige Präsentation der Welt zielt folglich darauf ab, die Scheinwelt als Realitätsersatz – als virtuelle Realität – zu setzen, was impliziert, daß Bild und Gegenstand deckungsgleich sind, daß es da nicht mehr den geringsten Zwischenraum gibt und aller Sinn sichtbar ist. Die Schnittstelle nimmt (in Echtzeit) den Platz der Oberfläche der Dinge ein, die sich in der Welt auf Distanz halten, so daß „Deckungsgleichheit die Kommunikation ersetzt“6 .

Solcherart mündet die Deregulierung des Markts der Erscheinungen in die Entwirklichung aller Dinge, die im Moment des Blicks wahrnehmbar sind – Landschaften, Orte und Menschen – oder aber erworben sind wie die Produkte des postindustriellen Wandels.

So sieht der „Unfall der Unfälle“ der Echtzeit aus. Nach der Beschleunigung der Geschichte, die Daniel Halévy vor fünfzig Jahren anprangerte, haben wir es plötzlich mit der Beschleunigung der Realität zu tun! Die virtuelle Inflation betrifft nicht mehr nur die Ökonomie der Produkte, die „Finanzblase“, sondern die Intelligenz unseres Verhältnisses zur Welt. Deshalb beschränkt sich das berühmte Systemrisiko auch nicht auf den durch Kettenreaktionen ausgelösten Bankrott von Unternehmen und Banken (wie in Asien). Es droht – was weit gefährlicher ist – eine allgemeine Verblendung, eine kollektive Erblindung der Menschheit, die unerhörte Möglichkeit einer Niederlage der Tatsachen und folglich einer Verwirrung unseres Verhältnisses zur Wirklichkeit.

Aus diesem Bankrott der Erscheinungen, aus diesem visuellen Kollaps, wird wahrscheinlich nur die (wirtschaftliche und politische) Desinformation Nutzen ziehen: Das Analoge wird dem Digitalen seine Vorrechte abtreten, die „Datenkompression“ wird unser Verhältnis zur Realität beschleunigen, das heißt komprimieren, vorausgesetzt natürlich, wir akzeptieren die wachsende Verarmung der sinnlichen Erscheinungen.

Da also die fortschreitende Digitalisierung der (visuellen, auditiven, taktilen und olfaktiven) Informationen mit dem Niedergang der unmittelbaren Wahrnehmungen Hand in Hand geht, tritt die analoge Ähnlichkeit des Nahen ihre Vorrangstellung ab an die bloße numerische Wahrscheinlichkeit des Fernen, alles Fernen ...

dt. Bodo Schulze

(Schriftliche Fassung eines Vortrags des Verfassers am 7. Dezember 1997 in eine Kolloquium zum Thema „Das fragmentierte Fernsehen“.)

* Philosoph und Urbanist, Verfasser von “Fluchtgeschwindigkeit“, München (Hanser) 1996, und „Un paysage d‘événements, Paris (Galilée) 1996.

Fußnoten: 1 Vgl. Paul Virilio, „Eine überbelichtete Welt“, Le Monde diplomatique, August 1997. 2 Vgl. den Start der BBC-Nachrichtensendung „News 24“. 3 Vgl. die Entwicklung der computergestützten Tele-Astronomie auf der Grundlage der adaptativen Optik. 4 Le Monde, 5. November 1997. 5 Bernard Noäl, „La castration mentale“, Paris (éd. POL) 1997. 6 Ebd.

Le Monde diplomatique vom 13.03.1998, von PAUL VIRILIO