Gegen Immigration und Ungerechtigkeit
Von ANDRÉ CAMPANA und JEAN-CHARLES ELEB *
IM November 1997 wurde im Departement Seine-Saint-Denis eine Umfrage über die Motive von Front-National-Wählern durchgeführt und später in einem vierzigminütigen Film mit dem Titel „Wenn ich Front National wähle ...“ dokumentiert.1 Dieser Film ruft sowohl in der Presse als auch unter dem politisierten und dem unpolitischen Publikum heftige Reaktionen hervor.
Bei der Mehrheit der achtzig befragten Personen stehen schmerzliche Erfahrungen im Vordergrund, erdrückende Schwierigkeiten im alltäglichen Leben. Die Äußerungen sind schlicht und von schneidender Aufrichtigkeit; sie zeugen von einem immer stärkeren Gefühl der Ungerechtigkeit und der Angst vor Identitätsverlust.
Drei Lehren lassen sich aus der Untersuchung ziehen. Zum einen sind die Wählerstimmen für den Front National mittlerweile fest und dauerhaft. Die bloße Tatsache, daß eine Rentnerin aus Drancy, ein arbeitsloser Arbeiter aus Epinay, eine Angestellte oder ein junger Mann, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, ohne weiteres bereit sind, öffentlich zuzugeben, daß sie Front National wählen, ist bereits bezeichnend. Mehr noch – über die Hälfte der Befragten sind sich darüber im klaren, daß sie eine, nach eigenen Worten, „rechtsextreme“ Partei unterstützen, die „dem Nazismus nahesteht“, „den Haß vergrößern“ oder „gar nichts tun wird“, jedoch „einige brauchbare Ideen besitzt“. Vor allem aber ist frappierend, daß sich zwischen der Selbstdarstellung des FN vor Ort als volksnaher Partei und ihren überregionalen Themen („Jagd auf Immigranten“, „Ordnungswahn“ und „Verkommenheit der Politikerkaste“) wie von selbst ein Zusammenhang ergibt.
Zweite Beobachtung: In allen Äußerungen überwiegt das Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit. „Für die Immigranten wird mehr getan als für uns“ – wobei insbesondere auf Wohnraumzuweisung und Sozialhilfe verwiesen wird. „Wir leben in einem Land, in dem immer denen mehr geholfen wird, die nichts tun, als denen, die arbeiten.“
Der dritte wesentliche Punkt und, neben dem Gerechtigkeitsbedürfnis, der für die Wählerschichten des FN strukturbildende Faktor ist natürlich die Ablehnung der Einwanderung. Die Befragten erfahren diese übereinstimmend als Invasion von Fremden, die den Verlust nationaler Identität mit sich bringt: „Wir Franzosen werden bald in der Minderheit sein. Dann wird es zum Aufstand kommen“, äußert sich ein Handelsattaché aus Saint-Denis, der wie alle anderen die Idee einer multiethnischen Gesellschaft klar ablehnt; obschon sie längst zur alltäglichen Wirklichkeit geworden ist, wird sie als Bedrohung empfunden. Die starke Präsenz von (häufig jugendlichen) Franzosen ausländischer Herkunft wird als Beweis für diese Bedrohung angeführt, zumal ihr Status von allen, auch den linken Parteien, verschleiert wird: Sind diese jungen Leute nun Franzosen oder nicht? Es wäre an der Zeit, daß die Gesellschaft diese Frage in unmißverständlicher und positiver Form beantwortet.
Die auf lokaler wie auf nationaler Ebene zurückhaltende oder mangelnde Formulierung klarer Prinzipien und Regeln (in bezug auf Rechte und Pflichten jedes einzelnen, Staatsbürgerschaft und Zusammenleben, Fortbestand der Republik und nationale Identität) schafft eine politische Grauzone und gibt der Angst zusätzliche Nahrung, die bereits jetzt durch die vielen Schwierigkeiten im Alltag wächst. Man darf wetten, daß der gegenwärtig in den Vorstädten zu beobachtende radikale Bruch zwischen den Jugendlichen (häufig Franzosen ausländischer Herkunft) und den Erwachsenen dem FN weiteren Zulauf verschaffen wird.
Daß der FN über eine solide Stammwählerschaft verfügt, belegen die Antworten auf die Frage: „Unter welchen Umständen wären Sie bereit, Ihr Wahlverhalten zu ändern?“ Fast alle Befragten erklären unerschütterlich: „Ich würde anders wählen, wenn die etablierten Parteien die Ideen des FN ganz oder teilweise übernähmen.“ Nur eine sehr kleine Minderheit (ehemalige Wähler der Kommunistischen Partei) nennen „positive Ergebnisse auf dem Gebiet der Jugendarbeitslosigkeit“ als möglichen Grund, für andere zu stimmen. Abschließend ist zu bemerken, daß die FN-Wähler, die stark unter der Krise leiden, keine großen Hoffnungen in die Zukunft setzen. Sie sind überwiegend pessimistisch gestimmt, woran auch ein Sieg des FN nichts ändern würde.
„La face cachée des militants du FN“ („Das verborgene Antlitz der FN-Anhänger“) titelte die französische Wochenzeitschrift Le Point, während Philippe Méchet, der Verantwortliche für politische Studien beim französischen Meinungsforschungsinstitut Sofres, mit dem zusammen die Untersuchung durchgeführt wurde, die entscheidende Erkenntnis hervorhebt: „Diese Leute suchen vor allem soziale Bindungen.“
Es kann schmerzhaft sein, sich die Antworten dieser Stammwähler anzuhören. Der Städtebund des Departements Seine- Saint-Denis, der den Film in Auftrag gegeben hatte, war davon ausgegangen, daß man „nur das wirksam bekämpfen kann, was man kennt“. Bleibt die Frage, warum diese banale Realität, die wir seit Jahren im Zuge unserer verschiedenen Untersuchungen beobachtet haben, so wenig bekannt ist beziehungsweise von den Medien unter den Teppich gekehrt wird. Sie scheint in der parteiinternen Hierarchie von der kommunalpolitischen Basis bis hinauf zur parlamentarischen Ebene nicht oder nur selten nach oben zu dringen.
Der FN fährt den vor Ort abwesenden politischen Parteien in die Parade. Er profitiert von der Initiativlosigkeit und dem unzureichenden „politischen Angebot“. Einer seiner Anhänger erklärt nach einer Vorführung des Films: „Diese Leute sind von ihren Problemen überfordert. Sie wissen nicht mehr, in welcher Gesellschaft sie leben. Sie erwarten von der Politik Aufschluß über die Zukunft, aber da kommt nichts.“
Alle Befragten bezeichnen sich als nicht rassistisch. Sie haben „nichts zu tun mit den Nazis, die im Fernsehen gezeigt werden“. Einer von ihnen, der aus dem Maghreb stammt und beinahe den Front National gewählt hätte, es vielleicht auch noch tun wird, meint: „Der FN hat einige wirklich bedenkenswerte Ideen, zum Beispiel die Kontrolle der Einwanderung“! Der Kreis schließt sich ...
dt. Christian Hansen
* Journalisten und Fernsehproduzenten.