Zwei Feinde ein Interesse
Dank der Verhandlungen von UN-Generalsekretär Kofi Annan wurde ein neuerlicher Golfkrieg vermieden. Die UN-Inspektoren können ihre Abrüstungsmission im Irak fortsetzen, und die Frage der Sanktionen gegen Bagdad, unter denen vor allem die Bevölkerung leidet, steht wieder auf der Tagesordnung. Trotz ihrer Entschlossenheit und ihrer starken militärischen Präsenz in der Region haben sich die USA dem Willen einer großen Mehrheit der internationalen Gemeinschaft beugen und vorerst auf ihre Operation „Wüstendonner“ verzichten müssen. In Washington zeigt sich die politische Rechte bestürzt und wirft Präsident Clinton vor, abermals Schwäche gegenüber Saddam Hussein gezeigt zu haben. Wochen diplomatischer Aktivität waren nötig, um die Logik des Friedens gegen die des Krieges durchzusetzen. Die Vereinten Nationen haben dabei einiges an verlorenem Ansehen zurückgewinnen können.
Von ÉRIC ROULEAU *
KRIEGFÜHRENDE Staaten greifen stets auf die gleichen Mittel zurück, um die Bevölkerung zu mobilisieren und die nötigen Geldmittel für bereits stattfindende oder geplante Kriegshandlungen aufzubringen: Verteufelung des Gegners, Desinformation und Meinungsmanipulation in den Medien. Das ist durchaus kein Privileg diktatorischer Regimes. Während der „Operation Desert Storm“ und in der Zeit danach haben die westlichen Medien die bittere Erfahrung gemacht, daß sich auch große demokratische Nationen wie die Vereinigten Staaten schamlos solcher Methoden bedienen. Anhand der jüngsten Irakkrise läßt sich hingegen feststellen, daß die Medienkampagne zwar ebenfalls sehr geschickt geführt worden ist, aber der vorgewarnten Bevölkerung nicht mehr so glaubwürdig erschien.
Damals, 1990 und 1991, schien alles klar: Saddam Hussein war (nach Meinung von Präsident Bush) nichts Geringeres als ein neuer Hitler, und der Irak besaß (nach Aussagen des Pentagon) die viertstärkste Armee der Welt. Keine Rede davon, daß es den irakischen Streitkräften in acht Kriegsjahren nicht gelungen war, den militärisch äußerst geschwächten Iran zu besiegen, und daß die Verbrechen des Diktators Hussein bei der amerikanischen Regierung auf große Nachsicht gestoßen waren, solange es darum ging, Bagdad zu unterstützen und dadurch dem damaligen Hauptfeind, der Islamischen Republik, zu schaden. Nur wenige besaßen zu jener Zeit die Vernunft, das „Medienspektakel“ zu kritisieren, in dem ein „sauberer“ Krieg vorgeführt wurde, ohne Bilder von den Opfern und der Zerstörung, die ein Land erdulden mußte, das sich nicht wehren konnte.
Diesmal hatten es die Spezialisten der psychologischen Kriegführung nicht auf die Person Saddam Hussein abgesehen (deren Verteufelung ja bereits gelungen ist), sondern auf die chemischen und bakteriologischen Waffen, über die er angeblich verfügt. Glaubt man den Verlautbarungen aus Washington und London, dann handelt es sich um eine entsetzliche Bedrohung. Während der amerikanische Verteidigungsminister William Cohen versicherte, bereits eine „winzige Menge“ des biologischen Kampfstoffs Anthrax reiche aus, um „Millionen Menschen zu töten“, und der Irak könne seine Raketen bis nach Paris schicken, beschwor der britische Premier Tony Blair gleich den Weltuntergang. Nach einer Unterredung mit Präsident Clinton erklärte er feierlich: „Dieser Mann [Saddam Hussein] hat bereits genügend chemische und biologische Waffen angesammelt, um die gesamte Menschheit zu vernichten – daran muß man ihn hindern.“1
Den „Quellen“ zufolge, auf die sich die amerikanischen Medien beriefen, hatte man im Weißen Haus angeblich beschlossen, unter bestimmten Bedingungen den Einsatz von Nuklearwaffen begrenzter Wirkung (B61-Bomben) gegen „Paria- Staaten“ (rogue states) zu erlauben – und zu diesen Staaten gehört auch der Irak.2 Aus Washington kam dazu ein spätes und vages Dementi (“die Auswirkungen wären zu schwerwiegend“), das offensichtlich gar nicht beruhigend wirken sollte. Merkwürdigerweise fragten die amerikanischen Journalisten, sonst für ihre aggressiven Recherchemethoden bekannt, überhaupt nicht nach den konkreten Gründen für solch eine beunruhigende Entscheidung und für eine militärische Operation, die sogar den Einsatz von Nuklearwaffen einschließen konnte.
Eine aufmerksame Lektüre der Flut von Meldungen zu diesem Thema ist erbaulich. Denn daraus geht vor allem hervor, daß die meisten dieser „Informationen“, die weltweit verbreitet wurden, aus einer einzigen Quelle stammen: dem amerikanischen Geheimdienst. Amerikanische Satelliten und U2-Aufklärer spähen das irakische Territorium aus; auch die meisten Experten und Inspektoren der Unscom (der UN-Kommission, die mit der Entwaffnung des Irak betraut ist) sind Amerikaner – angeblich, weil „kompetente Experten aus anderen Mitgliedstaaten der UN nur schwer zu finden sind“, wie die amerikanischen Medien unwidersprochen und bis zum Überdruß versichern. Die CIA hat sich im kurdischen Norden des Irak etabliert und ist auch in den Anrainerstaaten überall präsent. Wer also nicht bereit ist, sowohl an die Unfehlbarkeit des amerikanischen Geheimdienstes wie an die völlige Neutralität der Vereinigten Staaten in den Auseinandersetzungen im Nahen Osten zu glauben, hat allen Grund, das Informationsmaterial, das den Medien so reichlich angeboten wird, mit kritischem Blick zu betrachten.
Man muß zugeben, daß die Meldungen, die in dieser Weise ausgestreut werden, auf den ersten Blick nicht unplausibel wirken – nicht zuletzt, weil dabei voreilige Schlüsse und allzu genaue Vorwürfe geschickt vermieden werden. Anschuldigungen werden zumeist auf Basis von wohlbegründeten Vermutungen und Annahmen geäußert und fast immer im Konjunktiv formuliert, so daß nur Übelmeinende hier unehrliche Motive vermuten können.
So ist nicht zu bestreiten, daß der Irak die technischen Möglichkeiten besitzt, solche chemischen Waffen zu produzieren, wie er sie in den achtziger Jahren gegen den Iran und gegen die kurdische Bevölkerung im eigenen Land eingesetzt hat – im übrigen ohne daß sich internationaler Protest erhob. Ebenso ist bekannt, daß die Unscom 1994 erhebliche Bestände an chemischen Kampfstoffen in versteckten Lagern aufgefunden und vernichtet hat. Damit ist es auch legitim, daß die Unscom der Frage nachgeht, ob die Machthaber in Bagdad vielleicht weitere 600 Tonnen Chemikalien zurückhalten, die für die Herstellung solcher Waffen verwendet werden könnten. Geklärt werden muß auch, ob die dreizehn Tonnen Nährlösung, die nicht mehr aufzufinden sind, tatsächlich für die Herstellung landwirtschaftlicher und pharmazeutischer Produkte verwendet wurden, wie das Regime behauptet, oder ob sie der Erzeugung von Viren für biologische Kampfstoffe gedient haben. In jedem Fall „wissen die UN-Inspektoren nicht, wo die chemischen und biologischen Waffen versteckt sind, vorausgesetzt, es gibt sie überhaupt und sie sind einsatzbereit“ – wie es die britische Tageszeitung The Guardian unter Berufung auf eine Quelle im britischen Parlament formuliert.
Unüberprüfbare Informationen
NOCH schwieriger wird die Frage zu klären sein, ob Bagdad über die ballistischen Mittel verfügt, um bestimmte Ziele zu erreichen. In einer Mitteilung der UN-Inspektoren heißt es, sie hätten 817 der 819 Scud-Raketen zerstört, die der Irak vor dem zweiten Golfkrieg von der Sowjetunion gekauft hatte. Wie durch Zufall erfuhr man jedoch am 10. Februar 1998, einem „vertraulichen Papier“ des amerikanischen militärischen Geheimdienstes zufolge sei es dem Irak gelungen, neue Raketen zu bauen: „einige Dutzend“ vom Typ al-Hussein (600 Kilometer Reichweite) und „einige“ vom Typ al-Abbas (800 Kilometer Reichweite). Diese Waffen könnten Ziele in Israel, in der Türkei und in allen Golfstaaten erreichen. Niemand kam auf den Gedanken, sich zu fragen, wo, wie und wann es möglich gewesen sein soll, in einem Land, das seit sieben Jahren äußerst streng überwacht wird, eine solche Zahl von Raketen herzustellen.
Auch in den „bedrohten“ Ländern erregten diese doch eigentlich alarmierenden Meldungen kein großes Aufsehen. Durchaus zu Recht: Das zitierte amerikanische Dokument behauptete zum einen nicht, daß der Irak auch über eine entsprechende Zahl von Sprengköpfen und Abschußrampen verfügt, um die Raketen zu einer tödlichen Gefahr zu machen, und zum anderen wurde dort vermutet, daß Präsident Saddam Hussein diese Waffen in absehbarer Zukunft nicht einsetzen werde – „selbst im Falle eines militärischen Schlags“ –, um keinen Aufschluß über das Arsenal verbotener Waffen zu geben, das er unter strengster Geheimhaltung aufbaue. Daraus folgt, daß sich der Wahrheitsgehalt dieser Information erst in ferner Zukunft überprüfen lassen wird – wenn überhaupt.3
Daß Saddam Hussein versucht, eine gewisse militärische Stärke aufrechtzuerhalten, ist natürlich anzunehmen – und sei es auch nur, um sein Regime zu erhalten und die Verteidigung des Irak gegen die zahlreichen Feinde in der Region und anderswo zu ermöglichen. Somit scheint es auch nicht undenkbar, daß die irakische Führung nach der weitgehenden Zerstörung ihrer konventionellen Waffen im Krieg von 1991 Einrichtungen zur Herstellung von chemischen und biologischen Kampfstoffen geschaffen hat, um die „Atombombe der Armen“ zu bauen, die wenig kostet, technisch einfach zu erzeugen und erst recht gut zu verbergen ist. Sollte diese Annahme zutreffen, dann stellt sich aber die Frage, wozu die UN-Inspektoren, die amerikanischen Aufklärungsflugzeuge und Satelliten getaugt haben, die seit sieben Jahren zur umfassenden Überwachung des Landes eingesetzt worden sind; was die Apparate gebracht haben, die doch jede verdächtige Bewegung melden sollten, die Hunderte Videokameras, elektronischen Überwachungszentren und Wärmesensoren, die von den Experten der Vereinten Nationen im ganzen Land installiert worden sind.
Gerade wenn man davon ausgeht, daß die Verdachtsmomente begründet sind, wäre es doch wichtig, alles zu tun, damit die UN-Inspektoren ihre Aufgabe erfüllen können. War es wirklich nötig, daß ihr Chef, der Australier Richard Butler, fast wie ein offizieller Vertreter der amerikanischen Position auftrat statt wie der zur Diskretion verpflichtete Vertreter einer internationalen Organisation? Mußte er in der Öffentlichkeit und in den Medien immer neue Schreckensmeldungen verbreiten, die dann in seinen Berichten an den UN-Sicherheitsrat doch keine Erwähnung fanden? Die Meinungsverschiedenheiten, aus denen sich im Herbst letzten Jahres die Krise entwickelte, hätte man durchaus einvernehmlich regeln können. Zweifellos waren nicht alle irakischen Forderungen akzeptabel, aber einige hatten sicher eine gewisse Berechtigung und wären es wert gewesen, mit mehr Verständnis geprüft zu werden.
Bagdad hatte zwar rein juristisch kein Recht, die „amerikanische Vorherrschaft“ in der Unscom anzuprangern und eine neue Priorität bei der Zusammensetzung der UN-Sonderkommission nach Nationalitäten zu fordern. Aber der Sicherheitsrat hätte aus eigener Initiative die zweifellos bestehende Überzahl angelsächsischer Experten und Inspektoren reduzieren können. Ebenso hätte er zum Zwecke des Ausgleichs die Überwachung des irakischen Territoriums zu gleichen Teilen durch russische wie durch westliche Aufklärungsflugzeuge durchführen lassen können. Ferner erlaubte die Resolution 687 des Sicherheitsrats dem Bagdader Regime zwar nicht, die Bewegungsfreiheit der Inspektoren einzuschränken, aber in dieser Resolution wird auch ausdrücklich die „Souveränität, territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit“ des Irak bekräftigt, und genau darauf beruft sich das Baath-Regime bei seiner Forderung nach einer „Regelung“ (und nicht nach einem Verbot) der Inspektion der acht Präsidentenpaläste und weiterer vierzig „umstrittener“ Orte.
„Das Licht am Ende des Tunnels“
IN jedem Fall widerspricht die irakische Forderung nicht den internationalen Gepflogenheiten. Das zeigt die Haltung der Vereinigten Staaten zur UN-Konvention über das Verbot bakteriologischer (biologischer) und toxischer Waffen, die von rund 160 Staaten, auch dem Irak, unterzeichnet wurde und seit dem 26. März 1975 in Kraft ist. Präsident Clinton selbst war es, der im Januar in seiner Rede zur Lage der Nation den Vorschlag machte, die Inspektionen, die im Rahmen der Konvention durchgeführt werden, genauen Verfahrensregeln zu unterwerfen. Unter Berufung auf das nationale Interesse erklärte er, es dürfe weder regelmäßige noch umfassende Kontrollen geben, und zweifellos hielt er diesen Versuch, die Produktionsgeheimnisse der Rüstungs- und der pharmazeutischen Industrie zu wahren (wo unter anderen toxische und bakteriologische Substanzen eingesetzt werden), für die Ausübung eines nationalen Souveränitätsrechts.4
Doch für den Irak gelten offensichtlich andere Maßstäbe als für die USA, auch wenn seine Souveränität von den Vereinten Nationen anerkannt wird. Dennoch: War seine Forderung so völlig abwegig, auch in seinem Fall eine Regelung für die Inspektionen zu finden, die „bisher unangemeldet, wiederholt und ohne zeitliche Begrenzung“ durchgeführt worden waren? Schließlich ging es um Residenzen, in denen das Staatsoberhaupt „sich aufhält, arbeitet und empfängt“, und um „umstrittene Orte“ wie das Parlament, die Ministerien und die Hauptquartiere der Republikanischen Garde und des militärischen Geheimdienstes, wo die Inspektoren sich das Recht herausnahmen, die Gebäude in der üblichen Manier von oben bis unten zu durchsuchen, Dokumente zu beschlagnahmen, die ihnen verdächtig schienen, damit nach Belieben zu verfahren und sie zum Beispiel zu vernichten.
Als Bagdad sich im vergangenen Herbst durch immer neue Forderungen mit den Vereinten Nationen anlegte, ging es ganz offensichtlich nur um die Erfüllung der einen, entscheidenden Forderung: Es sollte ein Zeitpunkt für die Beendigung der Inspektionen festgesetzt werden. Frankreich, Rußland und China haben mehrfach den Versuch unternommen, die USA davon zu überzeugen, daß man „das Licht am Ende des Tunnels zeigen“ müsse, um die Iraker dazu zu bewegen, mit der Unscom umfassend zusammenzuarbeiten. Dazu hätte auch die amerikanische Zustimmung zum formellen Abschluß der Untersuchung bezüglich der Atomwaffen durch den Sicherheitsrat gehört – ein Schritt, der eigentlich hätte erfolgen müssen, nachdem die Internationale Atomenergieorganisation in Wien offiziell bestätigt hatte, daß der Irak weder Atomwaffen besitzt noch über die Möglichkeit verfügt, sie zu bauen. Aber Washington zeigte sich nicht bereit, dem Irak ein solches Zugeständnis zu machen. Auch die Inspektionen, die sich auf Atomwaffen bezogen, mußten daher weitergeführt werden.
Durch ein Nachgeben gegenüber Bagdad in diesem Punkt hätte die UNO immerhin guten Willen beweisen und deutlich machen können, daß sie bereit war, sich an die Resolution 687 zu halten, in der die Aufhebung des Erdölembargos vorgesehen ist, sobald der Irak den Abrüstungs- Inspektoren in allen strittigen Punkten volle Aufklärung geboten hat. Aber es war umsonst: Washington ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit, das Embargo auf unbestimmte Zeit aufrechtzuerhalten oder doch zumindest bis zum Sturz des Regimes von Saddam Hussein – obwohl der ausgesprochen subversive Charakter dieses Ziels nicht nur dem Geist und Text der Resolutionen des Sicherheitsrats zuwiderläuft, sondern auch mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar ist. Damit war abzusehen, daß es zu einem Machtkampf kommen würde. Daß Unscom-Chef Richard Butler freien Zugang zu den Präsidentenpalästen beanspruchte (und damit die Position seines Vorgängers ad acta legte, der dafür eingetreten war, die „Stätten der Souveränität“ auszusparen), wurde in Bagdad als eine Provokation durch das Weiße Haus begriffen. Umgekehrt faßte die amerikanische Regierung die irakische Forderung nach einer Neugestaltung des Inspektionssystems, und vor allem nach einer zeitlichen Begrenzung, als Kampfansage in einer Auseinandersetzung auf, in der es letztendlich um die Aufhebung der Sanktionen ging.
Sowohl innen- wie außenpolitische Faktoren haben dazu geführt, daß beide Länder die Konfrontation suchten. Präsident Hussein, verärgert über die zahlreichen Auflagen, die dem Irak von der Sanktionskommission gemacht worden waren (in der häufig die Vertreter der USA und Großbritanniens den Ton angaben), dürfte zu dem Schluß gekommen sein, daß die internationale Situation günstig war für einen Versuch, die Blockade zu durchbrechen. Unter den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats herrschte Uneinigkeit über die Art, wie die UN-Resolutionen umzusetzen seien, hier konnten sich die USA und Großbritannien nicht durchsetzen. Und in der internationalen Öffentlichkeit, die lange Zeit die Leiden des irakischen Volkes nicht zur Kenntnis genommen hatte, begann man die unnötige Grausamkeit von Sanktionen zu begreifen, die auch nach sieben Jahren keine Lösung gebracht hatten.
Hinzu kommt eine Art Kurswechsel, der sich seit dem Golfkrieg in der arabischen Welt vollzogen hat. Mit Ausnahme von Kuwait machen alle ehemaligen Mitglieder der Golfkriegsallianz mit Blick auf die öffentliche Meinung im eigenen Land heute kein Hehl aus ihrer neuen Haltung: Da sie Saddam Hussein nicht loswerden konnten, haben sie eine allmähliche Normalisierung der Beziehungen zu den baathistischen Machthabern eingeleitet. In einigen arabischen Hauptstädten unterhält man auch wieder diplomatische Kontakte zum Irak, der als unverzichtbares Gegengewicht zum allgegenwärtigen Einfluß des Iran in der Region gilt und außerdem eine entscheidende geostrategische Position gegenüber Israel besetzt. Auf diese Weise kommt es zu eigenartigen und recht überraschenden Annäherungen – etwa zwischen den feindlichen Brüdern in Damaskus und Bagdad.
Zweierlei Maß
DIE Gründe, die Saddam Hussein neue Hoffnung schöpfen ließen, waren naturgemäß dieselben, die auf Präsident Clinton beunruhigend wirkten. In mehr als einer Hinsicht wurde das Scheitern der amerikanischen Nahostpolitik offenbar. Der amerikanische Präsident war nicht in der Lage, Israel zur Einhaltung gegebener Zusagen und zur Beachtung der UN-Resolutionen zu bewegen, die zu einer Friedensregelung beitragen sollten. Er war auch nicht bereit, die israelischen Verstöße gegen internationales Recht zu verurteilen, nicht einmal als diese den Versuch machten, in Amman einen politischen Führer der Hamas zu ermorden, und schließlich ignoriert Clinton hartnäckig, was alle Welt weiß: daß Israel über Bestände an nichtkonventionellen (vor allem nuklearen) Waffen verfügt. All das hat die arabischen Staaten zu der Überzeugung gebracht, daß die USA, die ihnen als Gegenleistung für ihre Unterstützung im ersten Golfkrieg politische Gleichberechtigung versprochen hatten, nach wie vor mit zweierlei Maß messen.
Daß es den Amerikanern nicht gelingen will, Saddam Hussein zu stürzen, hat überdies die Öffentlichkeit in der Überzeugung bestärkt, daß der irakische Diktator den Vereinigten Staaten als Schreckgespenst gelegen kommt und sie ihn darum an der Macht halten. Auf diese Weise können sie ihre militärische Präsenz am Golf ebenso rechtfertigen wie ihre umfangreichen Waffenverkäufe an die Staaten in der Region. Auch die Fortsetzung des Embargos auf unbestimmte Zeit findet damit ihre Rechtfertigung, was wiederum erhebliche zusätzliche Einkünfte für die Länder bedeutet, die nun anstelle des Irak das Geschäft machen und die zu den traditionellen Geschäftspartnern der amerikanischen Industrie gehören: die Ölmonarchien am Golf, allen voran Saudi-Arabien.
Man muß das etwas genauer beschreiben. Es ist unbestreitbar, daß die Vereinigten Staaten mehr als einmal dazu beigetragen haben, das politische Überleben des Regimes von Saddam Hussein zu gewährleisten. So konnte Saddam Hussein direkt nach seiner Niederlage von 1991 unbehelligt die kurdischen und schiitischen Aufstände niederschlagen, und auch die Unterstützung der Organisationen und Parteien der irakischen Opposition durch die USA fiel nur sehr halbherzig aus (siehe dazu die Seiten 12 und 13). Wahr ist aber auch, daß bei einer Reihe von Verschwörungen in Bagdad, die blutig scheiterten, die CIA die Hand im Spiel hatte. Das Weiße Haus befürchtete, daß die schwer vorhersehbare und unkontrollierbare Politik einer demokratisch gewählten Regierung zu „Anarchie“ und zur Auflösung des heterogenen irakischen Staatsgebildes führen würde, und machte deshalb kaum ein Hehl daraus, daß es diesem Schreckensszenario ein Militärregime vorzog.
Wie sehr die USA an Gaubwürdigkeit verloren haben, zeigte sich erst recht im Scheitern ihrer Politik der „doppelten Eindämmung“ (double containment), die darauf gerichtet war, sowohl die Machthaber im Irak wie die im Iran politisch zu isolieren. Selbst die Golfstaaten, die auf diese Weise vor einer doppelten Bedrohung geschützt werden sollten, mußten schließlich einsehen, daß die einseitigen amerikanischen Sanktionen gegen die Islamische Republik wenig Einfluß auf deren wirtschaftliche Entwicklung hatten und daß sich die Industrieländer, darunter auch die europäischen, durch den Druck aus Washington nicht davon abhalten ließen, weiterhin Geschäfte mit Teheran zu machen. Was den Irak betrifft, so sieht die Bilanz noch schlechter aus: Die kollektiven Sanktionen haben Saddam Hussein nicht geschwächt, sondern seine politische Position im Gegenteil sogar gestärkt, und sie haben, wie man sieht, nicht einmal die Entwaffnung des Irak sicherstellen können. Für Präsident Clinton gab es also Gründe genug, durch eine spektakuläre Aktion dem schwindenden Ansehen der USA entgegenzuwirken und aller Welt deutlich zu machen, daß sich die einzige Supermacht nicht von einem Westentaschen-Diktator einschüchtern läßt. Und dies insbesondere, weil sonst die Gefahr bestand, daß das irakische Beispiel Schule machte und andere aus der Reihe der Staaten, die in Washington als „geächtete“ oder „terroristische“ Staaten gelten – vor allem der Iran, Libyen, Syrien und der Sudan – es wagen würden, die Großmacht USA herauszufordern. Gegenüber solchen Staaten nehmen sich die USA das Recht heraus, zu intervenieren, wenn sie ihre „vitalen Interessen“ bedroht sehen. Daß diese Frage in der Auseinandersetzung zwischen dem Irak und den USA eine so entscheidende Rolle spielt, ist eine schlimme Folge der Tatsache, daß wir in einer unipolaren Welt leben.
Der Chef im Weißen Haus – der zu diesem Zeitpunkt in seinem Privatleben angegriffen und von strafrechtlicher Verfolgung bedroht war – sah sich von einer ebenso heterogenen wie einflußreichen „Kriegslobby“ bedrängt. Gewichtige Stimmen aus der Republikanischen Partei rezitierten eindringlich die Bedrohung durch den Irak (Newton Gingrich, der Sprecher des Repräsentantenhauses, erklärte zum Beispiel: „Wir dürfen nicht zulassen, daß amerikanische Städte von biologischen, chemischen oder nuklearen Waffen terrorisiert werden!“) und forderten ein militärisches Eingreifen mit dem eindeutigen Ziel, Präsident Saddam Hussein zu stürzen.
Auch die Mehrheit des amerikanischen Generalstabs befürwortete angeblich einen solchen „chirurgischen Eingriff“. Und schließlich wäre dieser Einsatz den Strategen im Pentagon gelegen gekommen, denn sie hätten dabei Gelegenheit gehabt, ihre neuen Waffensysteme zu erproben sowie ihre Doktrin umzusetzen, die besagt, daß die entscheidende Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten von den „Paria-Staaten“ ausgeht, für die der Irak ein Paradebeispiel ist. Überdies hätten alle diejenigen im militärischen und industriellen Sektor, die für eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts eintreten, diesen Krieg als ein Geschenk des Himmels angesehen.5
Mitte Februar hatte sich die Kriegslobby praktisch schon durchgesetzt. In den Vereinigten Staaten waren die Befürworter einer diplomatischen Lösung in der Minderheit, und man vermittelte den Eindruck, als spielten sie auch im Ausland keine Rolle. Manche angloamerikanischen Medien zeichneten sogar das idyllische Bild einer Welt, in der sich alle auf das gesunde Urteilsvermögen des „Großen Bruders“ in Amerika verlassen. Aus offiziösen Quellen verlautete, die arabischen Führer hätten gegenüber amerikanischen Gesprächspartnern erklärt, ihre Einwände seien nur taktischer Art: Wenn es soweit sei, könne man auf ihre Unterstützung bei einem Militärschlag rechnen. Auch Frankreich beschränkte seine diplomatischen Bemühungen darauf, den irakischen Staatspräsidenten zur Annahme der amerikanischen Forderungen zu bewegen: In der Rolle des loyalen Verbündeten werde es Washington zur Seite stehen, sobald die Entscheidung gefallen sei, dem „Psychopathen“ Saddam Hussein, dem anders nicht beizukommen sei, die verdiente Lektion zu erteilen. Die Einwände Rußlands hatte Boris Jelzin im Einvernehmen mit der chinesischen Führungsspitze zwar rückhaltlos und deutlich formuliert, aber darauf antwortete Präsident Clinton leicht herablassend: „In Amerika versteht man ,njet' nicht als Nein ...“
Glücklicherweise scheiterten einige dieser gezielten Unwahrheiten an der Informationsfreiheit. So wurde die amerikanische Öffentlichkeit bald von Militärexperten in Kenntnis gesetzt, daß es praktisch keine Möglichkeit gab, Bestände an chemischen und bakteriologischen Kampfstoffen durch Beschuß zu zerstören – und sei es auch mit noch so „intelligenten“ Raketen –, ohne dabei die Gefahr einzugehen, daß die Zivilbevölkerung tödlicher Verseuchung ausgesetzt würde. Die Sprecher des amerikanischen Präsidenten sahen sich daraufhin veranlaßt, das Ausmaß des geplanten Militärschlags deutlich einzuschränken. Dies wiederum ließ in der Öffentlichkeit und unter den Parlamentariern die Einsicht wachsen, daß dieses Abenteuer nicht nur sinnlos war, sondern sogar äußerst nachteilige Folgen haben konnte: Am Ende hätte Saddam Hussein eine Wiederaufnahme der UN-Inspektionen verhindert, und im Irak wären möglicherweise Unruhen ausgebrochen, die für die ganze Region wie die Lunte am Pulverfaß wirken könnten.
Unter diesen Umständen machte Präsident Clinton das Zugeständnis, zunächst unter Vorbehalt die Reise von Kofi Annan in den Irak zu erlauben (die von Frankreich stark unterstützt wurde), um dann auch das Abkommen zu billigen, das mit großem Zeremoniell am 22. Februar in Bagdad abgeschlossen wurde. Diese Vereinbarung, die in fast allen Hauptstädten der Welt mit Erleichterung aufgenommen wurde, könnte einen Wendepunkt bedeuten, weil damit die Verantwortung für die Einhaltung von UN-Resolutionen wieder bei der internationalen Gemeinschaft liegt. Diese Vereinbarung ließe sich sogar als „historisch“ bezeichnen, falls sich herausstellen sollte, daß dieser erste Rückzieher der einzigen Supermacht seit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums von Dauer ist. Doch weist nichts darauf hin, daß es in diesem Spiel – einer Mischung aus Schach und Poker –, das seit sieben Jahren zwischen Bagdad und Washington ausgetragen wird, nicht erneut zu dramatischen Kraftproben kommen wird.
dt. Edgar Peinelt
* Französischer Botschafter in der Türkei (1988- 1992).