Freie Fahrt auf der Datenautobahn
Von ALINE PAILLER und CLAUDE MICHEL *
VON der Einheitlichen Akte (1985) bis zum Vertrag von Amsterdam (1997) wurde Europa im Namen einer einzigen unabweisbaren Notwendigkeit aufgebaut, dem „freien Binnenmarkt“, einem angeblichen Allheilmittel für alle Probleme. Von steigenden Arbeitslosenzahlen, von den sozialen Krisenerscheinungen und der Armut in den Mitgliedstaaten ließ man sich dabei nicht im mindesten beirren. In den letzten Jahren wurde die Deregulierung sogar noch beschleunigt, wobei sich die Kommission und die Regierungen unter dem Druck Washingtons vor allem darum bemühten, das nordamerikanische Modell auf die Gemeinschaft zu übertragen. In diesem Zusammenhang wurde der Telekommunikationssektor zum wichtigsten Frontabschnitt im neoliberalen Feldzug der EU gegen die öffentlichen Dienstleistungssektoren.1
Besonders offensiv führte die Kommission diesen Kreuzzug mit ihrem Grünbuch von 1987 zur Entwicklung des gemeinsamen Marktes für Telekommunikationsdienste und -ausrüstungen und mit ihrem Bericht von 1988. Darin heißt es, bis 1992 seien „liberalere, flexiblere Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt der Telekommunikationsdienste und -ausrüstungen unerläßlich für die allgemeine Entwicklung der Technologie und der Dienstleistungsmärkte der Gemeinschaft.“ In den Richtlinien von 1990 wurden die Mitgliedstaaten aufgefordert, „Exklusiv- oder Sonderrechte bei der Bereitstellung von anderen Telekommunikationsdienstleistungen als den Sprachtelefondiensten“ abzuschaffen.
Im Weißbuch vom Dezember 1993 des damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors („Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung“) heißt es, im Rahmen der „Informationsgesellschaft“ müsse man „die noch bestehenden rechtlichen Hindernisse für die Erschließung neuer Märkte beseitigen“. Mit den Ratsresolutionen von 1993 zum Thema Infrastrukturen und von 1994 zum Thema Dienstleistungen wurde diese rechtliche und politische Entwicklung abgeschlossen, die am 1. Januar 1998 zur völligen Liberalisierung der Sprachtelefondienste führte.
In der ersten Zeit (1984-1993) ging Brüssel schrittweise vor: Zunächst mußte ein Rahmen von Rechtsvorschriften geschaffen werden, was Zeit kostet; dabei mußte man bedacht sein, die „Behörden des Telekommunikationsbereiches“ nicht frontal zu attackieren, um nicht ihre Qualität und ihre Aufgabenerfüllung zu gefährden. In der Richtlinie von 1990 wird gleichwohl hervorgehoben, sie hätten ihre marktbeherrschende Stellung durch mißbräuchliche Ausnutzung ihrer Möglichkeiten erworben. Dabei wurden aber die nachweislich positiven Ergebnisse, die im Rahmen des Monopols sowohl in der Forschung und beim technologischen Fortschritt als auch beim Zugang zu den Dienstleistungen erzielt wurden, nicht berücksichtigt. Damit wanderten zwei Prinzipien auf den Misthaufen der Telekommunikationsgeschichte: zum einen die Logik der „vernetzten Wirtschaft“, die eine „economy of scale“ und einheitliche Tarife ermöglicht hatte, zum anderen die spezifische Qualität gemeinnütziger Leistungen, in die auch ein besonderes Kalkül der öffentlichen Finanzen eingehen müßte.
In einer zweiten Phase (1993-1997) ging es um ein anderes Thema: Die Liberalisierung der Telekommunikation – der zentrale Pfeiler der „Informationsgesellschaft“ – sollte beschleunigt werden, nunmehr aber „im Interesse“ der Beschäftigungspolitik. Unter dem Eindruck der berühmten Rede von US-Vizepräsident Al Gore über die „Datenautobahnen“ rechtfertigte Jacques Delors sein Weißbuch gleich eingangs mit dem Satz: „Der Grund ist mit einem Wort benannt: Arbeitslosigkeit.“ Der Europäischen Union wird das Ziel gesetzt, bis zum Ende des Jahrhunderts 15 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, wofür in erster Linie auch die „Informationsgesellschaft“ zu sorgen habe. Was sie nur könne, wenn noch mehr dereguliert werde: „So wurden für den Energie-, Telekommunikations- und Postsektor die entsprechenden Vorschläge unterbreitet, doch müssen diese erweitert werden, um eine Liberalisierung zu erreichen.“
Zu diesem Zwecke gab der Europäische Rat im Dezember 1993 der Kommission den Auftrag, einen Bericht für den Korfu-Gipfel im Juni 1994 auszuarbeiten. Dieses Dokument, „Europa und die globale Informationsgesellschaft“, der sogenannte Bangemann-Bericht (nach dem damaligen deutschen Kommissionsmitglied für Informationstechnologien und Telekommunikation) wurde am 26. Mai 1994 veröffentlicht.2 Der Technologiemythos wird darin als schlagendes Argument präsentiert, das alle andere Überlegungen von vornherein hinfällig mache. Dieser Tenor ist ersichtlich vorgegeben: Der Bericht plädiert dafür, „daß die Europäische Union auf ihrem Weg ins Informationszeitalter auf die Antriebskraft der Marktmechanismen setzen“ solle. Daraus resultiert eine Reihe von Geboten: Die Telekommunikationsbetreiber sollen „von nichtkommerziellen politischen Auflagen und Finanzbelastungen“ befreit werden; „nach Auffassung der Gruppe bedeuten technologischer Fortschritt und Entwicklung des Marktes, daß Europa mit einer Politik brechen muß, deren Grundsätze aus einer Zeit stammen, da die informationstechnische Revolution noch nicht begonnen hatte (...).
Der Bangemann-Bericht mündete in einen Aktionsplan, der eine intensive gesetzgeberische Tätigkeit in Gang bringen sollte, in deren Rahmen das gesamte Arsenal der vorhandenen Rechtsmittel eingesetzt wurde. Dazu gehörte auch der berühmte Artikel 90,3 des Vertrags von Rom, demzufolge der Kommission, nach der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs, die Möglichkeit zusteht, auch gegen die Stellungnahmen des Rates und des Europäischen Parlaments Recht zu setzen. So wurden 1995 die Richtlinie über die Liberalisierung der alternativen Telekommunikationsstrukturen und 1996 die Richtlinie über den unbeschränkten Wettbewerb auf dem Telekommunikationsmarkt verabschiedet.
Gleichzeitig durfte man allerdings die sozialen und kulturellen Auswirkungen der Liberalisierung nicht völlig außer acht lassen. Sie wurden zum Gegenstand zahlreicher Initiativen: Da gab es Grünbücher, da wurden Sachverständigengruppen eingesetzt und das „Forum Informationsgesellschaft“ veranstaltet sowie Vorschläge für Rechtsakte ausgearbeitet. Aufgrund des Drängens des Parlaments, aber auch, weil die wirtschaftliche und soziale Realität sich von der seligen Euphorie der europäischen Behörden immer weiter zu entfernen scheint, erwecken diese den Eindruck, sich teilweise wieder etwas näher an die Realität heranarbeiten zu wollen. So gesteht das Kommissionsmitglied Mario Monti in seinem Bericht „Der Binnenmarkt und das Europa von morgen“ ein, daß „zwischen 1989 und 1994 im Bereich der Telekommunikationsmittel 150000 Arbeitsplätze vernichtet worden (sind). Ohne den Binnenmarkt hätte dieser Verlust auf 100000 Arbeitsplätze begrenzt werden können.“ Dies ist aber für Monti durchaus kein Grund, die eingeschlagene Richtung zu ändern, denn „eine Verschiebung der Umstrukturierungsmaßnahmen hätte mittelfristig die Fähigkeit der europäischen Telekommunikationsindustrie zur Schaffung neuer Arbeitsplätze verringert“. In einer Debatte des Europäischen Parlaments konnte Martin Bangemann seine Verzweiflung nicht verbergen, als er ausrief: „Natürlich wird es bei den Arbeitsplätzen Kleinholz geben, aber was sollen wir denn machen?“
Was könnte dies für die Aufgaben des öffentlichen Diensts bedeuten, für die Rentabilität zwar nicht verboten, aber auch nicht als höchste Priorität gesetzt ist? Es ist nicht weiter verwunderlich, daß das Grünbuch von 1995, in dem der Universaldienst – ein von der Kommission erfundenes Billigkonzept3 – definiert werden soll, eher eine Drohung beinhaltet als den Willen, bei der Erfüllung dieser Aufgaben voranzukommen. Selbst die Wortwahl drückt den Übergang vom Geist der Solidarität zum karitativen Denken aus, denn für bedürftige oder unrentable Kunden sind sogenannte Zielgruppen- oder Sozialtarife vorgesehen.
Kann man inhaltlich noch auf das Einfluß nehmen, was im heutigen Sprachgebrauch „Dienste im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse“ heißt? Der Corbeau-Beschluß (1993) und der Almelo- Beschluß (1994) des Gerichtshofs4 , mit denen die Rechtsprechung in Richtung einer positiven breiteren Interpretation des Universaldienstes weiterentwickelt wurde, könnten dafür als Grundlage dienen. Auch die Auswirkungen der sozialen Bewegung von November/Dezember 1995 in Frankreich sind nicht zu unterschätzen. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, daß die Kommission eine Mitteilung über die Dienste für die Allgemeinheit in Europa veröffentlichte und in den Vertrag von Amsterdam einen neuen Artikel 7d zu ebendiesen Diensten aufnahm. Diese Räume gilt es dringend zu nutzen, denn schon sind weitere neoliberale Schläge angekündigt – diesmal gegen den audiovisuellen Sektor, diesmal unter dem Vorwand der Konvergenz von Diensten und Netzen, die durch die digitale Technologie möglich geworden ist.
Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip
GENAU darum geht es in dem Grünbuch, das am 3. Dezember 1997 von Martin Bangemann (schon wieder!) und seinem Kollegen Marcelino Oreja vorgestellt wurde, der für Kultur samt audiovisuellem Sektor zuständig ist. Bangemann vertrat die Auffassung, die derzeitigen Rechtsvorschriften, die nach Kabel, Telefon und audiovisueller Übertragung unterscheiden, seien obsolet, und schlug den Regierungen der Fünfzehn vor, sich über die Zukunft dieses rechtlichen Rahmens Gedanken zu machen. Dabei ließ er deutlich seine Präferenz für eine Vorschrift erkennen, die alle Dienste – die alten und die neuen – abdeckt.
Diese Option setzt seiner Ansicht nach eine weiter gefaßte Definition der Kommunikationsdienste voraus, die an die Stelle der Definition der audiovisuellen und Telekommunikationsdienste in den Gemeinschaftsrechtsvorschriften treten würde.5 Dies bedeutet mit anderen Worten das Ende jeglicher spezifischen Gesetzgebung für den audiovisuellen Sektor, die insbesondere die Aufgaben eines öffentlichen Dienstes garantieren würde – womit übrigens exakt die Anforderungen der US-amerikanischen Regierung erfüllt wären.6
In dieser Hinsicht „konvergieren“ die Thesen dieses Grünbuchs perfekt mit dem Multilateralen Abkommen über Investitionen (MAI), das im Rahmen der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von den Regierungsvertretern ausgebrütet wurde, ohne daß die Parlamente davon Kenntnis erhielten. Damit zeichnet sich ein gewaltiger Rückschritt ab, den die Bürger anzuprangern und zu bekämpfen haben. (siehe die Artikel auf den Seiten 4 und 5).
Die „Konvergenz“ genügt der Kommission nicht, sie verlangt zusätzlich „Transparenz“. Da ihrer Auffassung nach kein neues Hindernis für die Entwicklung der transeuropäischen Netze geduldet werden darf, hat sie einen Richtlinienentwurf zum Thema „Transparenz“ ausgearbeitet7 , der gerade im Europäischen Parlament erörtert wird. Durch ihn soll der Anwendungsbereich der Richtlinie von 1983 über die technischen Vorschriften auf sämtliche Dienstleistungen der „Informationsgesellschaft“ ausgeweitet werden. Nach diesem Text wären die Mitgliedstaaten gehalten, die Kommission und die einzelnen Regierungen von jedem neuen Gesetzentwurf zu den Informationsdiensten zu unterrichten. Dies soll, so heißt es von amtlicher Seite, der Verabschiedung bestimmter einzelstaatlicher Rechtsvorschriften vorbeugen beziehungsweise sie einschränken, um die Gefahr von unterschiedlichen Rechtsvorschriften zu verringern, und eine „erneute Zersplitterung des Binnenmarkts“ zu verhindern.
Dieser Entwurf beeinträchtigt massiv das Subsidiaritätsprinzip und – in noch größerem Maße – das Recht auf Gesetzgebung in jedem Mitgliedstaat. Sofern er nach Auffassung der Kommission auch die interaktiven Dienste betrifft, führt er außerdem eine Unterscheidung zwischen dem rechtlichen Rahmen dieser neuen Dienste und dem des audiovisuellen Sektors ein. Jede einzelstaatliche Maßnahme, mit der den Dienstleistern Verpflichtungen (Ausstrahlungs- und Produktionsquoten) auferlegt werden sollen, könnte demnach als Beeinträchtigung des Binnenmarkts aufgefaßt und bestraft werden.
An dem Schicksal, das sowohl das Grünbuch zur „Konvergenz“ als auch die Richtlinie zur „Transparenz“ neben vielen anderen ultraliberal inspirierten Entwürfen der Kommission haben werden, dürfte sich demnächst ablesen lassen, ob der Konsens zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten in den Regierungen der Mitgliedstaaten wie auch im Europäischen Parlament immer noch so solide ist wie zuvor.
dt. Sabine Scheidemann
* Mitglied des Europäischen Parlaments bzw. Professor für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.