Das Politbüro der liberalistischen Internationale
ES ist kaum anzunehmen, daß die Führungsetagen der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und vor allem ihr Generalsekretär Donald J. Johnston die Publicity besonders schätzen, die ihr seit den Kontroversen um das MAI (Multilaterales Abkommen über Investitionen) seit Anfang Februar zuteil geworden ist. Im Hauptquartier der regierungsübergreifenden Organisation, in der die 29 reichsten Länder der Erde vertreten sind – im ChÛteau de la Muette in einem Nobelviertel von Paris – schätzt man die Neugier der einfachen Bürger nicht sonderlich.1
Im ChÛteau de la Muette bleibt man lieber in guter Gesellschaft, unter den Verwaltungsangestellten (insgesamt sind es sechshundert) und den „Experten“ der Regierungen und der Unternehmen. Unter Leuten also, die dem Neoliberalismus huldigen und in jeder neuen „Studie“ eine immer größere Flexibilität der Arbeit empfehlen, die sich über Bestimmungen zur Sicherung des Arbeitsplatzes beschweren oder die Abschaffung der Mindestlöhne und immer mehr Privatisierungen fordern.2
All dies tun sie unter äußerst erfreulichen Bedingungen, dank des großzügigen Budgets von etwa 500 Millionen Mark, für das ausschließlich genau die Staaten aufkommen, die wegen ihrer Eingriffe in die Wirtschaft immer wieder getadelt werden. Die französischen Mindestlohnempfänger etwa werden sicherlich gerne hören, daß ihr Staat jedes Jahr 110 Millionen Franc (etwa 40 Millionen Mark) an eine Institution überweist, die einen Großteil ihrer Energie darauf verwendet, die Mindestlohnempfänger als Sozialschnorrer zu verunglimpfen.
IN einer sehr gut dokumentierten und wenig respektvollen Untersuchung3 beschreibt Henri Chavranski, ein ehemaliges Mitglied der französischen Delegation bei der OECD, die Rolle der Organisation wie folgt: „Eine unauffällig wirkende Organisation, die analysiert, Schlüsse zieht, berät und die Divergenzen zwischen den westlichen liberalen und industrialisierten, aber miteinander konkurrierenden Volkswirtschaften vermindert. Fünfunddreißig Jahre lang hat die OECD die Rolle einer grauen Eminenz gespielt, deren Einfluß nur schwer zu bestimmen ist, weil er in vielerlei Gestalt auftreten kann. (...) Ihre Macht liegt vor allem in ihrer intellektuellen Überzeugungskraft gegenüber den Mitgliedstaaten.“
Anders gesagt spielt die OECD die Rolle des Politkommissars innerhalb des „Politbüros“ der wirtschaftsliberalistischen Internationalen. Die operativen Funktionen überläßt sie den wichtigsten anderen Mitgliedern – der Weltbank, dem IWF, der WTO, der G7 und der Europäischen Kommission – sowie ihren nationalen Sektionen.
Warum diskutieren die 29 Mitglieder der OECD über das MAI und nicht das Forum der WTO mit seinen 131 Mitgliedstaaten, das dafür eine viel größere Legitimation besäße? Die Antwort von Henri Chavranski lautet: „Die Verhandlungen werden seit ihrem Beginn ausschließlich im Rahmen der OECD geführt, zwischen den kapitalkräftigen Mitgliedstaaten. Denn diese sind der Überzeugung, daß nur ein solch internes Verfahren zu einer verbindlichen und damit nützlichen Vereinbarung führen kann, die sich dann nach und nach auf alle Länder ausweiten ließe, die ausländisches Kapital in ihr Land holen wollen.“ In der WTO hingegen würde „die Teilnahme von Ländern, die einem zwingenden Abkommen über Investitionen reserviert bis ablehnend gegenüberstehen, einen erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen sehr ungewiß machen“.
B. C.