Die Versuchsfelder des Front National
WENIGE Tage vor den französischen Regionalwahlen können die Streitigkeiten innerhalb des Front National (FN), die Annullierung der Wahl ihres einzigen Abgeordneten im Parlament und die verblaßte Autorität ihres Vorsitzenden nicht über die tiefe Verwurzelung der rechtsextremen Partei und ihrer Ideologie hinwegtäuschen. Von den vielen hundert Städten der Europäischen Union wird keine einzige von einer rechtsextremen Partei kontrolliert – mit Ausnahme von Frankreich, wo in vier Kommunen Bürgermeister und Stadtrat vom FN gestellt werden.
Von unserem Korrespondenten CHRISTIAN DE BRIE
Jean-Marie Le Pen hatte es zuvor angekündigt: diejenigen Bürgermeister, die „auf den Listen des FN und wegen des Programms des FN gewählt wurden und vom FN und seinem Vorstand unterstützt wurden“, unterliegen den Weisungen der Partei. Ihre Städte sollen zu „Stützpunkten und Aushängeschildern für den nationalen Eroberungsfeldzug“ werden.1 Es würde bald klar werden, was es bedeutet, „in LePenien zu leben“, trotz der örtlichen Besonderheiten und der Persönlichkeit des jeweiligen Kandidaten.
Denn obwohl die vier Städte Toulon, Orange, Marignane (wo für den Sieg gegen jeweils zwei weitere Kandidaten ein Drittel der Stimmen ausreichte)2 und Vitrolles (wo der FN auf Anhieb mit absoluter Mehrheit gewann)3 vieles gemein haben, gibt es doch auch Unterschiede.
Die erste Gemeinsamkeit ist geographischer Natur. Alle diese Städte liegen in einem Umkreis von hundert Kilometern in der Provence, die allen Umwälzungen der letzten dreißig Jahre zum Trotz „in ihrer Kirchturmpolitik verharrt“4 . Gemein sind ihnen ferner die schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, von denen die Mittelschicht genauso betroffen ist wie das Proletariat, dem es aufgrund der Arbeitslosigkeit und der Perspektivlosigkeit der abgekapselten und stagnierenden Kleinstädte immer schlechter geht. Überall gleich schließlich die jahrzehntelangen Erfahrungen mit einer katastrophalen, von Klientelismus, Vetternwirtschaft und Korruption geprägten Kommunalpolitik, in einer Region, in der linke wie konservative Parteien das Schauspiel ihrer Grabenkämpfe und ihrer Unbekümmertheit geben. Das Terrain für den Auftritt der extremen Rechten war seit langem vorbereitet.
In Toulon – einer Stadt mit 175000 Einwohnern (darunter viele repatriierte Kolonisten), Sitz der Präfektur für einen Ballungsraum von 400000 Menschen, mit Frankreichs größtem Militärhafen (bis heute beschäftigt die Marine hier mehr als 30000 Menschen) und einer örtlichen Bourgeoisie ohne Unternehmergeist, die das Dahinschwinden der Einkünfte aus den Kolonien und Staatsbetrieben mitansehen mußte, von denen sie lange Zeit gut gelebt hat –, hier ist mit Jean-Marie Le Chevallier ein alter Hase im Partei- und Politikgeschäft Bürgermeister geworden. Zunächst Kabinettschef für den Sekretär des Parti Republicain (PR; heute in der Parteienföderation UDF), Jacques Dominati, dann in gleicher Funktion bei Le Pen, ist Chevallier nebenbei Europaabgeordneter, Regionalrat und war bis zur kürzlich erfolgten Annullierung seiner Wahl einziger Abgeordneter des FN in der Nationalversammlung.
Orange – eine verschlafene Garnisonsstadt von 28000 Einwohnern in einer landwirtschaftlichen Region am westlichen Rand der Provence, römische Antike und Côtes du Rhône im Überfluß, dafür aber keine Industrie; radikalsozialistische und gemäßigt zentristische Tradition. Hier hat Jacques Bompard das Rennen gemacht, ein Hardliner der extremen Rechten, der früher der OAS und der Gruppierung Ordre Nouveau angehörte.
Die an den Ufern des Berre-Sees, in den Ausläufern von Marseille gelegenen Städte Marignane und Vitrolles verbindet nichts außer ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Die erstere ist ein Städtchen aus Einfamilienhäusern mit 32000 Einwohnern, überwiegend pieds-noirs und langansässige Einwanderer aus dem Maghreb. Die Arbeitsstätten – der zweitgrößte Flughafen im Großraum Marseille und Europas größte Produktionsstätte für Hubschrauber, Eurocopter, mit 3500 Angestellten – liegen etwas abseits. Der Ort hat sich mit dem ehemaligen Bankangestellten Daniel Simonpieri einen FN-Aktivisten zugelegt, den seine Gegner als „LePenist light“ bezeichnen. Der hier aufgewachsene Simonpieri hat auf die alte Klientelwirtschaft der Konservativen zurückgegriffen, die die Stadt fünfundvierzig Jahre fest im Griff hatten und denen er bereits einen Sitz im Stadtrat verdankte.
Die andere, Vitrolles, zu Füßen eines alten verlassenen Dorfes, hat 45000 Einwohner und ist eine Aneinanderreihung isolierter Wohnviertel, eine aus Einfamilienhäusern und kleineren Wohnblöcken gebildete Stadtlandschaft, die sich um ein gewaltiges Einkaufszentrum gruppiert und im Fadenkreuz der Autobahnen Lyon-Marseille und Marignane-Aix-en- Provence liegt; eine gesichtslose Retortenstadt amerikanischen Stils mit einer bunt zusammengewürfelten Bevölkerung, der in den siebziger Jahren eine große industrielle Zukunft prophezeit worden war, die sich nie erfüllt hat: Mit der geballten Kraft großer finanzieller Mittel wurde die zwölfjährige sozialistische Amtsführung von Bernard Tapie durch Catherine Mégret beendet, die für ihren Mann – hierher beorderter Pariser und zweiter Mann in der Parteihierarchie – in die Bresche gesprungen war. Da weder der voraussichtliche Nachfolger Le Pens noch seine Frau in der Stadt leben, ruhen die Amtsgeschäfte in den Händen des Stellvertretenden Bürgermeisters, einem hundertfünfzigprozentigen LePenisten.
Wie unterschiedlich die Städte auch sein mögen, das Parteiprogramm des FN hebt vier Prioritäten hervor: Vorrang des Nationalen, Sicherheit, Steuersenkung und kulturelle Restauration.
Der Vorrang des Nationalen nach der Vorstellung des FN, der Ausdruck einer Apartheid à la française, richtet sich in erster Linie gegen die Immigranten aus dem Maghreb, sodann gegen alle Schwarzafrikaner, ob sie nun französische Staatsbürger sind oder nicht. Jedes Mittel ist recht, um Diskriminierungen und soziale Spannungen zu schüren und aufrechtzuerhalten. Das beste Beispiel dafür ist die spektakuläre Ankündigung von Vitrolles' Bürgermeisterin Mégret, die Geburt eines jeden französischen Kindes von in Europa geborenen Eltern mit 5000 Franc zu honorieren. Die Europaklausel ist keine Verneigung vor EU-Recht, sondern der Tatsache geschuldet, daß viele Wähler des FN, aber auch gewählte Vertreter wie der Bürgermeister von Marignane, Daniel Simonpieri, italienischer, spanischer oder portugiesischer Herkunft sind und oft den größten Eifer an den Tag legen, die Türen der Integration hinter sich zuzuschlagen.
Zwar widerspricht dieser zutiefst demagogische und illegale Vorstoß dem republikanischen Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und wird einer gerichtlichen Prüfung nicht standhalten, doch war die Wirkung der Ankündigung während des Wahlkampfes wohlkalkuliert; ein Beispiel, dem zu folgen die drei anderen Städte sich fest vorgenommen haben – wenn sie erst das nötige Geld dazu haben. Vorerst hat man in Marignane die gesonderte Schulspeisung für islamische Kinder abgeschafft, in Toulon die Gebühren für kinderreiche Familien erhöht, in Orange die Nachbarschaftshäuser geschlossen, in Vitrolles die Streetworker entlassen und überall die Besuchsgenehmigungen für Ausländer verweigert. Was die ethnische und soziale Ausgrenzung auf dem Wohnungsmarkt anbelangt, so haben die FN- geführten Städte, mit Ausnahme von Toulon, zwar keine Kontrolle über die Vergabe von Sozialwohnungen, doch herrschen dort die gleichen Verhältnisse wie fast überall, und in einigen Stadtvierteln werden Wohnungen nicht an Immigranten verkauft.
Es durfte nicht überraschen, daß der FN vom Vorrang für das Nationale schon bald zum Vorrang für die Familie übergegangen ist: Angefangen bei der Weitergabe von Wählerstimmen durch Bruno Mégret und, erst kürzlich, Jean-Marie Le Chevallier an ihre jeweilige Ehefrau, bis hin zur Einstellung von Familienangehörigen in den Stadtverwaltungen – an Beispielen für Vetternwirtschaft herrscht kein Mangel. Das hat zwar Tradition, und nicht nur auf kommunaler Ebene, widerspricht aber dem Prinzip der „sauberen Hände“, mit dem der FN angetreten war. Gleiches gilt für die Unterschlagungsaffären, die bereits hier und da aufscheinen.
Zweite Priorität: die Sicherheit. Da in keiner der vier Städte die Kriminalitätsrate besonders hoch ist oder signifikant ansteigt, werden die Zahlen manipuliert und eine kriminelle „Gewalt“ heraufbeschworen, die im wesentlichen jedoch in gewaltlosen Delikten wie Scheckdiebstahl oder Scheckbetrug und Fahrzeugeinbrüchen besteht – vorzugsweise in den riesigen Einkaufszentren, die für die Ärmsten eine ständige Verlockung zum Diebstahl darstellen. Ziel ist es, den Eindruck einer hochgradigen Bedrohung aufrechtzuerhalten, die die Wahl des FN rechtfertigt, und gleichzeitig die Ordnungsmacht ostentativ zur Schau zu stellen. Einzuschüchtern und zu beruhigen, das ist die Aufgabe der örtlichen Polizeikräfte, die, personell verstärkt5 , in allen vier Städten massiv präsent sind.
Ähneln sie tagsüber der Nationalpolizei, mit der sie jedoch häufig aneinandergeraten, verwandeln sie sich nachts in schwerbewaffnete Hundestaffeln im Ninja-Outfit: mit Helmen (statt Kapuzenmützen), Springerstiefeln und schwarzen Kampfanzügen. Sie rekrutieren sich aus den rechtsextremen Sympathisantenkreisen von Vitrolles, Orange und Marignane, werden von Muskelpaketen aus den eigenen Reihen ausgebildet, ähneln weniger einer Polizei als einer Miliz und schüren die Angst, provozieren die Jugendlichen und verstärken die Gesichtskontrollen. Es geht mehr darum, den „anständigen Leuten“ eine Demonstration der neuen Ordnung zu bieten, als Aufgaben der Überwachung und der Prävention zu erfüllen.
Die Senkung der Kommunalsteuern, auf die sich ihr Wirtschaftsprogramm für Städte und Gemeinden beschränkt, ist die dritte Achse der FN-regierten Gemeinden. Sie ist – bei einer Wählerklientel von kleinen Grundstücksbesitzern und angeschlagenen Unternehmern und Kaufleuten, denen die Grund- und Gewerbesteuern der häufig stark verschuldeten Gemeinden schwer zu schaffen machen – ein äußerst sensibles Thema. Angesichts des Fehlens von eigenen Initiativen und von Investoren, die man gar nicht erst anzulocken versucht, hätte eine Steuersenkung bestenfalls symbolischen Wert und würde mit dem Verzicht auf alle längerfristigen Projekte erkauft sowie mit Einsparungen in anderen, insbesondere soziokulturellen Bereichen.
Vor allem der geplante Personalabbau bietet die Gelegenheit für eine Gleichschaltung der Kommunalverwaltung: Leitende Angestellte, die sich eigene Ansichten leisten, werden entlassen, zur Friedhofsverwaltung abgeschoben, unter Druck gesetzt – und sogar, wie in Orange, in den Selbstmord getrieben oder, wie in Toulon, mit Verleumdungskampagnen überzogen; Planstellen werden gestrichen, unbotmäßige Angestellte entlassen oder zur Müllabfuhr strafversetzt und durch eifrige Beamte aus den Reihen der Partei ersetzt. Die Begleitumstände dieser Maßnahmen sind häufig abscheulich, auf legales Vorgehen wird nicht viel Wert gelegt.
Man spart an allem, drückt die Ausgaben für Instandhaltung und Modernisierung der städtischen Einrichtungen und senkt künstlich die Abgaben für Hausmüll und Wasser. Der FN-Bürgermeister, ein „Doktor Schlagloch“, hat nicht den Ehrgeiz, seinem kommunalen Gastspiel durch große Bauvorhaben ein Denkmal zu setzen. Vielmehr pflegt er Tag für Tag seine Wählerschaft, indem er sich auf die Erfüllung von Sonderwünschen einzelner Personen konzentriert: Hier in einer Straßenlaterne eine Glühbirne auswechseln, dort ein Loch im Gehweg füllen oder anderswo eine kleine Bank aufstellen. An die Stelle kollektiven Handelns tritt der individuelle Dienst am „Kunden“: „Kommen Sie zu uns, wir lösen Ihre Probleme“.
Was die Kulturpolitik betrifft, so bleibt sie das bevorzugte Aktionsfeld, auf dem mit städtischen Fördergeldern die Parteiideologie am werbeträchtigsten in Szene gesetzt werden kann.
Gezielte Provokationen
ES geht zum einen darum, die Werte einer Moralordnung aus der Vichy- Zeit und konservative Denkansätze zu fördern: Arbeit, Familie, Vaterland und Prinzipientreue. In Toulon erfolgte das offizielle Verbot eines Konzerts von Nique Ta Mère („Fick deine Mutter“, Beur-Slang) genau eine Woche vor dem Muttertag. Worin sich das Faible von Extremisten für den pomphaften Symbolismus einer zur Karikatur verkommenen Vergangenheit ausdrückt. In Orange, erzählt der Leiter von Alerte Orange, Serge Julien, „wurde mit einer feierlichen Zeremonie die in einen Park verbannte Statue eines Helden der Stadt, der sich 1096 während des Kreuzzugs bei der Vertreibung der Sarazenen hervorgetan hatte, in die Innenstadt zurückgebracht. Das war Anlaß zu einem öffentlichen mittelalterlichen Dorffest – nur daß dort ausschließlich Schweinefleisch angeboten wurde! Der Haudegen des christlichen Abendlandes nannte sich Rambaud II.“ Also schon damals!
In Toulon, sagt maliziös lächelnd der Präsident der Liga für Menschenrechte, Gérard Estrangon, „hat man – ohne den Künstler, der jetzt deswegen prozessiert, darüber zu informieren – das einzige Werk moderner Kunst mittels Preßlufthammer ,abmontiert‘ und durch ein Olivenbäumchen ersetzt; bei einem ortsansässigen Bildhauer wurde eine Statue in Auftrag gegeben, die einen großen Sohn der Stadt darstellt, den Schauspieler Raimu, der bekanntermaßen mit Vichy sympathisiert hat. Das Ergebnis ähnelte einem Gartenzwerg in Gestalt eines feisten Kneipenwirts; noch zögert man, ihn auf der Hafenpromenade vor dem alten Rathaus anstelle einer Bronzestatue aufzustellen, die den Genius der Seefahrt verkörpert, von den Stadtoberen des FN jedoch für einen Seefahrer gehalten wird, nach dessen historischen Wurzeln sie fahnden!“
In Vitrolles beschloß der Gemeinderat, den städtischen Ballungsraum in Vitrolles-en-Provence umzubenennen, obwohl er geradewegs aus den Außenbezirken von Los Angeles hierher verpflanzt zu sein scheint. Überall werden provenzalische Fahnen gehißt und prangt das Wappen der Stadt. Insbesondere wird ostentativ dafür gesorgt, daß rechtsextreme Literatur und Zeitschriften auf Buchmessen und in den Bibliotheken ausliegen, die eifrige Zensoren von Werken weltoffener und freigeistiger Gesinnung gereinigt haben, ja sogar von Kinder-Comics, die multikulturelle Ansichten verbreiten. Die Jugendorganisation des Front National hat versucht, Rap und Rai zu verunglimpfen, doch trat sie dann den Rückzug an, aus Angst, unter den Jugendlichen an Terrain zu verlieren.
Man zögert nicht, Auseinandersetzungen mit renommierten Kultureinrichtungen vom Zaun zu brechen, und scheut auch vor ihrer Zerschlagung nicht zurück – ChÛteauvallon in Toulon, Chorégies in Orange, Sous-Marin in Vitrolles. Es werden denjenigen Verbänden die Subventionen gekürzt, die sich in den Vierteln, die von Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung am stärksten betroffen sind, für ein Minimum an Aktivitäten und sozialem Zusammenhalt engagieren und Spannungen mildern. „Alles, was der Integration dient, wird geschlossen, seien es Gemeindezentren oder Einrichtungen, die sich um die Eingliederung kümmern“, stellt Alain Bidot fest, der Präsident von Alarme citoyens in Marignane. So als wollte man die Situation destabilisieren, die Konfrontation von Gemeinschaften, Stadtvierteln, Gesellschaftsschichten und Altersgruppen schüren, eine künstliche Verschärfung des Zusammenlebens erzwingen und die bedrohliche Atmosphäre jenes versteckten Bürgerkrieges erzeugen, den der FN in regelmäßigen Abständen ankündigt.
In Aygues, einem im Besitz der Sozialwohnungsbehörde des Departements befindlichen Wohnviertel von Orange, schreitet die Ghettoisierung voran, Kleinkriminalität breitet sich aus; die überwiegend aus Immigranten bestehende Bevölkerung mit einem hohen Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern sieht sich von ihrer Stadtverwaltung im Stich gelassen, die jede Unterstützung verweigert und nicht einmal die öffentliche Sicherheit gewährleistet. Hier erfüllt eine örtliche Organisation, Oustao de l'Aygues, seit 1983 soziale Aufgaben und Dienstleistungen für die Bevölkerung, die unter schwierigsten Verhältnissen in einer verödeten Umgebung lebt. Sie stellt Kontakte zwischen den Bewohnern und mit dem Vermieter her, sorgt für Kinderkrippen, Schulaufgabenhilfe und sogar Postdienste.
Nach Ansicht der Verbandsleitung „besteht die dezidierte Absicht, die Situation zu destabilisieren, den sozialen Zusammenhalt zu zerstören und das unerwünschte Zentrum zu schließen. Nachdem alle kommunalen Subventionen gestrichen worden sind, wird das Zentrum nun provisorisch von den Sozialdienststellen des Departements unterstützt. Demokratische Verhältnisse sind praktisch abgeschafft, man hat sich der FN-geführten Stadtverwaltung zu fügen. Deren Gegner haben keinerlei Bürgerrecht, ausgenommen das, sich beschimpfen und beleidigen zu lassen.“
Tatsächlich zieht die Streichung kommunaler Subventionen auch die Einstellung der Zahlungen des Departements und der Region nach sich, da sie sich an den kommunalen Entscheidungen ausrichten. So werden die Vereinigungen finanziell ausgetrocknet und zur Aufgabe gezwungen, es sei denn, daß andere Körperschaften für die Kommunen einspringen, wie bei Chorégies in Orange, wodurch sich das Budget der Stadt um den gleichen Betrag verringert. Unterdessen subventioniert die Stadt ihr nahestehende Vereinigungen, diese schöpfen die Subventionen der Departements und Regionen ab und zahlen sie unter dem Deckmantel von Gebäudemieten ans Rathaus zurück.
Für die Durchführung seines geplanten „nationalen Eroberungsfeldzugs“ entwickelt der FN überall eine Strategie der Spannung. Da sie die konkreten Probleme der Stadt und der Menschen nicht zu lösen imstande sind, schüren und verschärfen die FN-Volksvertreter die Konflikte. Sie erwecken den Anschein fieberhafter kommunaler Aktivitäten, beschränken sich jedoch in Wirklichkeit auf das Verwalten des Alltags und suggerieren ihren Gefolgsleuten und Wählern den Mythos allgegenwärtiger Bedrohung: Konflikte zwischen den Generationen, zwischen Immigranten und „ursprünglichen“ Franzosen, innerhalb der Kommunalverwaltung und mit den Sozialverbänden, zwischen der Stadt und dem Rest des Landes.
Jedes Mittel ist recht: Drohungen, Erpressung, Verleumdung, Provokation, Einschüchterung und nicht zuletzt Gewaltanwendung. Die ausbrechenden Konflikte werden in den meisten Fällen mit Schützenhilfe der Medien aufgebauscht und münden in einer Flut von Gerichtsverfahren, auf die die FN-Kommunen auf Kosten ihrer Wähler außerordentlich gerne zurückgreifen. „Offensichtlich dient der Medienrummel um die Prozesse dazu, die Stimmung anzuheizen“, meint Benoit Candon, Anwalt der Vereinigungen, die dem FN die Stirn bieten.
Weil die Zahl ihrer Anhänger vor Ort nicht ausreicht, läßt man sie bei jeder Gelegenheit von auswärts kommen, um die eigene Stärke zu demonstrieren und um einzuschüchtern. „In Vitrolles“, berichtet Alain Castan, der die Widerstandsbewegung der Bürgervereinigungen der Stadt koordiniert, „hat die Polizei nach den Wahlen Jagd auf verdächtig Aussehende gemacht und angeregt, Stadtteilmilizen mit Hunden aufzustellen, angeführt von Schutzleuten des DPS, dem Ordnungsdienst des FN.“
Der offen propagierte Vorrang für das Nationale hat der Fremdenfeindlichkeit und dem Rassismus Tür und Tor geöffnet. „Auf den Marktplätzen“, sagt Natalie Lulien von der Bewegung Ras-l'Front, „erlebt man jetzt gezielte Provokationen. Einige trauen sich, in aller Öffentlichkeit zu behaupten, es gebe zu viele Araber und sie seien für die Unsicherheit und die Kriminalität verantwortlich, obwohl die hier eher niedriger ist als anderswo. Im Schatten der scheinbar seriösen politischen Führer betreiben ihre Handlanger die Gerüchteküche und suggerieren Gefahr für Leib und Leben, sobald irgendwo ein Dutzend nordafrikanischer Jugendlicher diskutierend zusammensteht.“
Mit bestechender Präzision beschrieb der amerikanische Universitätsprofessor William Sheridan Allen die Eroberung einer deutschen Kleinstadt, Thalburg, durch die Nazis in den letzten Jahren der Weimarer Republik und stellte fest: „Es ist klar, daß auf lokaler Ebene ganz besonders günstige Bedingungen für den Wahlerfolg der Nazis und die Machtübernahme durch die Partei gegeben waren. (...) Doch auch die wirtschaftliche Krise trug dazu bei. (...) Es steht außer Zweifel, daß die wachsende Verzweiflung der Arbeitslosen, die über immer längere Zeiträume hinweg keine Arbeit fanden, das demokratische Bewußtsein vieler Bürger getrübt hat. (...) Gewalt und politische Spannungen waren maßgebliche Faktoren, die der Übernahme der Stadt durch die Nazis den Weg bereiteten. Sie wurden mit bemerkenswertem Geschick von der nationalsozialistischen Propaganda ausgenutzt. Gegenüber dem absurden Reigen aus Unfähigkeit und politischem Hickhack gelang es den Nazis, sich den Anschein einer starken und geeinten Partei zu geben, die wußte, was sie wollte. Ihre Propaganda spekulierte auf die Bedürfnisse des einzelnen und die Sorgen und Ängste aller; und in der Praxis hatten sie all die im Visier, die noch zögerten, gleich welcher Gruppe sie angehörten. Der Boden für eine Machtübernahme war also bereitet.“6
Die Fünfte Republik ist nicht Weimar und der Front National nicht die NSDAP. Fünfzehn Jahre nach dem ersten Durchbruch des FN bei Wahlen stehen 10 Prozent der insgesamt vierzig Millionen Wahlberechtigten hinter ihm – ein bereits bei den Präsidentschaftswahlen 1988 erzieltes Ergebnis. In solch einem Zeitraum hatten die Nazis ihren Aufstieg und Fall bereits hinter sich – ihnen genügten vier Jahre, um von 2,6 Prozent der Stimmen im Mai 1928 auf 43,9 Prozent im März 1933 zuzulegen. Vergleichbar aber sind die Gründe für den Erfolg: Die Wegbereitung durch die Unfähigkeit der etablierten Parteien, sich insbesondere den durch Dauerarbeitslosigkeit geschaffenen Problemen zu stellen, und die Fähigkeit der Rechtsextremen, gleichzeitig Mittelklasse und Proletariat anzusprechen, deren naturgemäßer Gegensatz aufgehoben wird in der gemeinsamen Mobilisierung gegen etablierte Politiker, vaterlandslose Globalisierung und Immigranten, die Arbeitsplätze okkupieren und für die Unsicherheit und Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Wohnvierteln verantwortlich sind.
In einem Artikel von 1986, „La preuve par Vitrolles“ („Der Beweis durch Vitrolles“), gab Alain Rollat, ausgehend von der Studie einer örtlichen Arbeitsgruppe, eine treffende Darstellung der Gründe für die Erfolge des Front National, der erstmals die Sozialisten mit 27,47 Prozent der Stimmen überflügelt hatte.7 Aus den gleichen Gründen erzielen sie heute mehr als 50 Prozent und liegen insgesamt in der Region Provence-Côte d'Azur seit langem über 30 Prozent. Die Bedrohung reicht weit zurück, und ihre Wurzeln sind tief.
Mit der Eroberung von vier provenzalischen Städten ist ein Damm gebrochen. Die programmatischen Themen des FN sind zur Normalität geworden und bestücken die Reden und das Handeln von zahlreichen Verantwortlichen und Stadtverwaltungen: Nichts ähnelt der Amtsführung in Toulon mehr als die in Nizza. Unter der gleichen Sonne, in „LePenien“ oder anderswo zu leben, macht für viele Leute keinen Unterschied mehr. Sie sind längst taub für jede vernunftorientierte Kritik an der Ideologie einer Partei, die sie in Sicherheit wiegt, wo sie ihnen angst machen müßte. Das ist der Grund, weshalb die von ihr ausgehende Bedrohung für die Demokratie auch weiterhin ernstgenommen werden muß.
dt. Christian Hansen