17.04.1998

Licht auf die Schattenarmee

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Licht auf die Schattenarmee

IN den ersten drei Monaten des Jahres 1998 haben die Massaker unter der albanischen Bevölkerung der Drenica etwa neunzig Tote und Hunderte von Verwundeten zurückgelassen. Mindestens 15000 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, sind aus der armen bäuerlichen Region geflohen. Bei den Polizei- und Armee-Einheiten aus Belgrad soll es nur vier Tote und zwei Verwundete gegeben haben. Die serbischen Medien behaupten, die Zusammenstöße seien Folge der Provokationen einer fast unbekannten Untergrundorganisation: der „Befreiungsarmee für Kosova“, auf albanisch Ushtria Clirimtare e Kosoväs (UCK).

Die UCK machte erstmals im Februar 1996 von sich reden, als sie in einem Bekennerschreiben die Verantwortung für die ersten Bombenattentate übernahm; diese waren gegen Polizeistationen gerichtet, aber vor allem gegen Lager für serbische Flüchtlinge, die man seit 1995 quasi zwangsweise in den Kosovo umgesiedelt hatte. Die Bomben hatten jedoch nur Sachschäden angerichtet.

Da die Kommuniqués der UCK stets per Fax bei serbischen Medien eingingen, hieß sie bald auch „Organisation Fax“. Im April 1997 wurde dann das Grundsatzprogramm der UCK öffentlich gemacht, und zwar sowohl von der Deutschen Welle als auch von einer serbischen Zeitung in Priština.1 Eine weitere Informationsquelle war Zäri i Kosoväs, das in Oberwil (Schweiz) erscheinende Publikationsorgan der Volksbewegung des Kosovo (LPK, auf albanisch Lävizja Popullore tä Kosoväs). Die LPK wurde 1981 in Priština gegründet, auf dem Höhepunkt der albanischen Studentenproteste, die auch die ersten serbischen Unterdrückungsmaßnahmen auslösten. Die Bewegung ist aus dem Zusammenschluß von vier nationalistischen Splittergruppen der extremen Linken entstanden. 1982 konstituierte sie sich in Deutschland als Volksbewegung für die Republik Kosovo (LPRK); das Wort „Republik“ wurde dann aber weggelassen, nachdem die Kosovarer am 30. September 1991 ebenjene Republik ausgerufen hatten.

In letzter Zeit waren die Verlautbarungen der UCK in Priština in der unabhängigen Tageszeitung Koha Ditore nachzulesen. „Komunikatä no 44“ vom 2. März 1998 wurde auch in Bern, Paris und anderen Hauptstädten verbreitet. Glaubt man den bislang publizierten Texten, so hat die UCK im Kosovo Hunderte von bewaffneten Aktionen durchgeführt. Am 18. März forderte sie in ihrem Kommuniqué Nr. 46 die Verschiebung der Wahlen in der albanischen Gemeinschaft, die für den 22. März vorgesehen waren. Sie warf Präsident Ibrahim Rugova vor, „Zwietracht zu säen“, und rief die Bevölkerung auf, die Wahlen zu boykottieren und sich der UCK anzuschließen.

In einer geheimen Publikation heißt es allerdings, das Kürzel UCK sei bereits im November 1994 in einer Meldung der serbischen Zeitung Vecerni Novosti aufgetaucht, die am 29. November von dem albanischen Blatt Rilindja wiedergegeben worden sei. Demnach soll die Organisation schon 1992 gegründet worden sein. Die UCK habe sich schon zu dem gescheiterten Anschlag vom 9. November 1994 auf Lutfi Ajazi, einen Offizier der serbischen Geheimpolizei, bekannt, aber auch zu weiteren Anschlägen, die bereits 1993 stattgefunden hatten, etwa dem Überfall in Glogovc, der zwei serbische Polizisten das Leben gekostet hatte. Für diese Taten sind Ende 1997 neunzehn junge Albaner – ohne Beweise – verurteilt worden.

OB diese Darstellung stimmt, weiß man nicht. Sicher ist nur: In der politischen Landschaft nach 1989 – als die Machthaber in Belgrad rechtswidrig den Autonomiestatus des Kosovo aufhoben – bedeutet das Auftauchen einer Organisation, die den bewaffneten Kampf propagiert, etwas völlig Neues. Unter der Führung des berühmten, inzwischen verstorbenen Anton Çeta hatten sich die Kosovo- Albaner vom Grundsatz der Blutrache abgewandt. Das letzte aufgrund der „Blutschuld“ begangene Verbrechen hatte sich 1990 ereignet. Und die Strategie des gewaltlosen Widerstands, die Ibrahim Rugova propagierte, hatte in der Bevölkerung überwiegend Zustimmung gefunden.

Allerdings versteht sich die UCK selbst als eine „nicht terroristische“ Organisation. So verkündet sie zwar, sie werde die Toten der Drenica rächen, erklärt aber zugleich, sie wolle sich nicht gegen das serbische und montenegrinische Volk wenden; für die Menschen bestehe keine Gefahr, heißt es im Kommuniqué Nr. 44. Sie seien allerdings gut beraten, „ihre Söhne nicht in den Kosovo zu schicken“. Die UCK kämpfe nicht gegen unschuldige Einwohner, sondern gegen den Terrorismus Belgrads und gegen den Ethnozid im Kosovo.

Bis 1993 hatte keine albanische Bewegung die serbische Zivilbevölkerung im Kosovo angegriffen. Umgekehrt gilt das keineswegs: Seit 1989 wurden Hunderte albanische Zivilisten kaltblütig umgebracht, viele kamen auch unter der Folter zu Tode.2 Die UCK hat sich allerdings offen zur Ermordung von mindestens elf albanischen „Kollaborateuren“ und Dutzenden von serbischen Polizisten und Militärs bekannt; das gilt auch für den Ende 1996 verübten Anschlag auf den von Belgrad eingesetzten Rektor der Universität Priština, Radivoje Papović.

Nun gibt es allerdings eine erstaunliche Tatsache, jedenfalls für ein Land mit zwei Millionen Einwohnern, die sehr enge familiäre und zwischenmenschliche Bindungen unterhalten. Offenbar hat noch kein Mensch die UCK je gesehen. Das gilt zumindest bis zum 28. November 1997, als bei der Beerdigung eines albanischen Opfers drei Männer auftauchten, von denen einer maskiert war. Sie bekannten sich zur UCK und riefen die Bevölkerung zum Handeln auf.

Zuvor hatten die meisten Menschen die Existenz dieser Organisation bestritten; manche sahen in ihr sogar einen Trick der Gegenseite. So erklärte Ibrahim Rugova am 20. November 1997 in Paris: „Es handelt sich um einen ganz üblen Trick der Serben.“ Indem er einfach bestritt, daß die UCK innerhalb der albanischen Gemeinschaft existiert, vermied Rugova eine doppelte Falle: Hätte er sich von der Organisation distanziert, hätte er wohl die Sympathien der engagiertesten Kosovo- Albaner verloren; hätte er sie als Teil der albanischen Gemeinschaft gesehen, wäre ihm womöglich von der internationalen Gemeinschaft eine Komplizenschaft mit der UCK vorgeworfen worden.

TATSÄCHLICH ist diese Kosova-Befreiungsfront nach wie vor ein Phantom. Nach manchen Quellen hat sie 200 bis 400 Kämpfer und etwa 5000 Helfer; doch solche Angaben sind nicht überprüfbar, auch nicht in Makedonien, das als das Hinterland der Organisation gilt. Auch Faxe sind keine Beweise. Augenzeugen aus der Drenica versichern, hier sei eine regelrechte serbische Armee angerückt, die niemand aufhalten konnte, schon gar nicht die wenigen schlecht bewaffneten Männer, die ihr gegenüberstanden.

Vor Ort jedenfalls gibt es viele, die sich mit der UCK als Symbol identifizieren: „Ob es sie gibt oder nicht“, hört man in Tetovo, „heute sind alle Albaner für die UCK“. „Wir wollen keinen Krieg, und wir haben keine Waffen“, meint ein 55jähriger Lehrer, „aber wenn es keine andere Lösung gibt ...“ Und seine Frau, eine Rechtsanwältin, erklärt feierlich: „Wir sind bereit zu sterben.“ Von Studenten ist zu hören: „Wir werden nicht zusehen, wie Milošević 90 Prozent der Albaner im Kosovo abschlachtet“. Und die radikaleren unter ihnen formulieren es noch deutlicher: „Wenn die USA und Europa nichts unternehmen, werden wir zu den Waffen greifen.“ Angeblich gibt es schon Listen, auf die sich Albaner als „Wehrpflichtige“ eintragen können.

Ist die UCK ein Produkt der Radikalisierung? Arber Xhafäri, Vorsitzender der Demokratischen Partei der Albaner in Makedonien (PDSH), hält sie jedenfalls „für das Resultat der Unterdrückung im Kosovo und, in geringerem Maße, in Makedonien. Die albanische Frage ist eben nicht gelöst. Nach der Auflösung Jugoslawiens hat jede Gemeinschaft das Recht auf Selbstbestimmung bekommen, nur die Albaner nicht, weil sie anders, weil sie keine Slawen sind.“

Auf die Frage, ob nun eher die UCK oder das Regime in Belgrad die Gunst der Stunde nutzen könnte, meint Xhafäri: „Ich glaube, die UCK ist ein letztes Resultat aus dem Aulösungsprozeß des alten Jugoslawien. Nach den Massakern in der Drenica können wir nicht länger freundlich bleiben, wir müssen die Tragödie dieser Menschen in unsere Politik einbeziehen. Es wird vom Verhalten der internationalen Gemeinschaft gegenüber Rugova abhängen, welchen Spielraum wir gegenüber der UCK haben. Falls Rugova verliert, bietet die UCK eine Perspektive. Dann beginnt die militärische Variante. Schrittweise, denn die Albaner besitzen zwar Waffen, aber kaum jemand denkt bislang in militärischen Begriffen. Dann wird unvermeidlicherweise die Spirale der Gewalt einsetzen.“

MARIE-FRANÇOISE ALLAIN

Fußnoten: 1 Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. April 1997. 2 Zur Erinnerung: Von 1989 bis 1993 wurden sogar 23 albanische Schüler, im Alter von 11 bis 16 Jahren, getötet; von 1981 bis 1989 hatte es vier Morde an serbischen Zivilisten gegeben. Siehe Marie-Françoise Allain und Xavier Galmiche (Hrsg.), „La Question du Kosovo: entretiens avec Ibrahim Rugova“, Paris (Fayard) 1994.

Le Monde diplomatique vom 17.04.1998, von MARIE-FRANÇOISE ALLAIN