17.04.1998

Der Kosovo-Konflikt vor seiner Internationalisierung

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Der Kosovo-Konflikt vor seiner Internationalisierung

DIE Wahlen der albanischen Bevölkerung des Kosovo vom 22. März 1998 eröffnen eine neue Phase in einem sehr alten Konflikt. Für die serbische Obrigkeit waren die Wahlen „illegal“, aber auch albanische Gruppen hatten zum Boykott aufgerufen. Dennoch gab es eine hohe Wahlbeteiligung, die der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) eine Mehrheit im „Parlament“ brachte. Ihr Vorsitzender Ibrahim Rugova wurde erneut zum „Präsidenten“ gewählt. Dieses Ergebnis würde eine Verhandlungslösung begünstigen. Aber in Belgrad, wo inzwischen die extreme Rechte an der Macht beteiligt ist, sperrt man sich noch gegen einen internationalen Vermittler, weil man den Konflikt nach wie vor als „innerserbische Angelegenheit“ sieht. Da auch nach den Wahlen die serbische Repression nicht aufgehört hat, bleibt die Zukunft des Kosovo ungewiß.

Von JEAN-ARNAULT DERENS und SÉBASTIEN NOUVEL *

Vom Minarett der alten Moschee hat man einen guten Blick über Gnjilane1 . Die Stadt von 60000 Einwohnern liegt rund fünfzig Kilometer von Priština entfernt. Von oben gleichen die Straßen heute einem Menschenmeer, überall sieht man albanische Fahnen und Transparente: „Kosovo will den Frieden“. Die albanische Bevölkerung der Provinz versammelt sich wieder Tag für Tag zu neuen Protestmärschen, obwohl solche Kundgebungen seit der Aufhebung der Autonomie 1989 verboten sind.

„Drenica, Drenica!“ Die Demonstranten skandieren den Namen der kleinen Region, in der die Polizei und serbische paramilitärische Gruppen in den ersten Märztagen üble Massaker verübt hatten. Die Gegend, deren Territorium die Gemeinden Srbica, Glogovc und Klina umfaßt, ist nach wie vor Sperrzone und Katastrophengebiet. Frauen und Kinder sind nach Vucitrn oder Mitrovica oder über die Grenze nach Montenegro geflohen, sofern sie nicht weiterhin in den Bergen umherirren. In der Belgrader Vertretung des UN- Flüchtlingskommissariats schätzt man, daß in der Region etwa 20000 Menschen ihren Wohnort verlassen haben. Nur einige Männer sind geblieben, um die Dörfer zu verteidigen.

Von Vucitrn aus erreicht man auf einem Sandweg, der sich abseits der Straße durch die Berge windet, unter Umgehung der Polizeisperren die Dörfer Llausha und Qirez. Hinter dem Dorf Dubovcä die erste albanische Straßensperre: Man muß die Papiere vorzeigen. Waffen sind nicht zu sehen, nach einigem Nachfragen erzählen die Männer, wie wenig diese Selbstverteidigungsgruppen der Dorfbewohner ausrichten können: „Wir beobachten die serbischen Scharfschützen mit dem Fernglas, aber im Augenblick können wir nichts tun, wir warten noch auf Waffen.“ In der Drenica macht die Befreiungsarmee des Kosovo (UCK; siehe den Beitrag von Marie- Françoise Allain auf Seite 7) vor allem den Eindruck einer bäuerlichen Bewegung zur Selbstverteidigung: Sie besteht aus ein paar erschöpften und abgerissenen jungen Männern, die Gesichtsmasken tragen und nur mit alten Kalaschnikows und Jagdgewehren bewaffnet sind.

Bis zum Sommer vergangenen Jahres registrierte das Komitee zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte in Priština zwar allgemeine Unterdrückungsmaßnahmen im gesamten Kosovo, aber keine gezielten Operationen der serbischen Polizei in der Drenica.2 Die oft blindwütigen Aktionen der Ordnungskräfte richteten sich vor allem gegen Aktivisten der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) und der Menschenrechtskomitees oder auch gegen die Lehrkräfte in den autonomen albanischen Schulen. Es gab zahlreiche Hausdurchsuchungen mit der Begründung, die Familien hätten Waffen versteckt oder gehörten zur UCK; die Männer wurden verhaftet, oft auch gefoltert. Ob die Polizei dabei einem genauen Plan folgte, potentiellen Terrorismus schon im Keim zu ersticken, ist schwer zu sagen. Diese kurzfristigen Maßnahmen zielten offenbar eher darauf, die albanische Gemeinschaft unter ständiger Kontrolle zu halten. Nach den Aufzeichnungen des Komitees zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte haben die polizeilichen Gewaltakte ab Juli 1997 deutlich zugenommen, wobei die serbischen Ordnungskräfte sich auf ganz bestimmte Familienclans konzentrieren. Im Kosovo, und vor allem in einer abgeschiedenen und konservativ geprägten Gegend wie der Drenica, ist das tägliche Leben weitgehend durch die Clans bestimmt. Die größeren Ortschaften bestehen nur aus den weit verstreut an den Berghängen gelegenen Häusern von zwei oder drei Familien, wobei eine Großfamilie bis zu hundert Menschen umfaßt. Verwandschaftsbeziehungen folgen noch immer den traditionellen Regeln: Familien aus dem gleichen Dorf heiraten nicht untereinander.

Vom 24. bis zum 31. August 1997 lief ein Großeinsatz gegen die Familien Gashi und Morena in der Gemeinde Srbica, wobei rund fünfzig Polizisten und gepanzerte Fahrzeuge auf ihre Häuser vorrückten. Der vierzigjährige Sadik Halil starb an einer Schußverletzung. Selbst die ältesten Familienmitglieder wurden verhört, die jungen Erwachsenen für mehrere Tage in Polizeigewahrsam genommen. Und selbst bei entfernten Verwandten der beiden Großfamilien wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt, was selten vorkommt. Der Fahndungseifer der Polizei traf auch die Großfamilien der Krasniqi in Klina und der Ahmeti in der Ortschaft Likoshanä, in der Gemeinde Glogovc. Die Nachforschungen orientierten sich offenbar an den traditionellen Strukturen – in der Annahme, damit den Verbindungen der UCK auf die Spur zu kommen.

Am 12. September gingen zeitgleich Sprengsätze vor den Polizeidienststellen von Klina, Srbica, Glogovc, Decan und Prizren in die Luft. Eine derart spektakuläre Aktion konnte nur einer gut organisierten Bewegung gelingen. Ab Oktober 1997 wurde die Drenica-Region vollständig abgeriegelt. Am 25. Januar 1998 ging ein massives Polizeiaufgebot gegen die Häuser der Jashari-Sippe in Prekaz vor.

Diesmal sahen sich die Spezialeinheiten jedoch zum Rückzug gezwungen, weshalb sie Anfang März mit Panzern und Hubschraubern einen zweiten Vorstoß unternahmen. Das Resultat war fürchterlich. Mindestens dreißig Mitglieder des Jashari-Clans wurden getötet, darunter das Familienoberhaupt, der siebzigjährige Shaban Murat. Sein Leichnam wurde verstümmelt aufgefunden – ohne Gliedmaßen und innere Organe. Getötet wurde auch sein Sohn Adem, der mutmaßliche Führer der UCK. Die Überlebenden flohen in benachbarte Städte oder in die Berge, wo sie sich noch immer versteckt halten. Einige wurden gefangengenommen und in die Munitionsfabrik Trepca bei Prekaz gebracht, die jetzt als Gefangenenlager dient.

Mit dieser Aktion war die Polizei womöglich auf der richtigen Fährte und hat die Führungsspitze der UCK zerschlagen. Außerdem hat es den Anschein, als seien bestimmte Familien bewußt verschont worden. In Prekaz gab es ein Massaker unter den Mitgliedern der Jashari-Sippe, und die wenigen Häuser des Kadriu-Clans wurden verwüstet, während die andere große Familie der Ortschaft, die Lushtaku, unbehelligt blieb. „Die Jashari waren reich und mächtig“, meint ein Dorfbewohner. „Die Polizei will uns spalten, deshalb hat sie gegen die Jashari losgeschlagen und andere Familien in Ruhe gelassen.“ Die serbischen Medien waren bezeichnenderweise die ersten, die von einer bessa, also einer Blutfehde zwischen albanischen Familien in der Drenica sprachen. Doch die Polizei scheint es eher darauf abgesehen zu haben, die Bedingungen für die bessa zu schaffen: in dem Sinne, daß die dezimierten Clans auf die Idee kommen könnten, sich an denen zu rächen, die verschont geblieben und damit des Verrats verdächtig sind. Tatsächlich ist in den letzten ein bis zwei Jahren das teuflische Räderwerk der bessa wieder in Gang gekommen. Dabei hatte sich auf Initiative des Geisteswissenschaftlers Anton Ceta in den Jahren 1989/90 bei den Kosovo-Albanern eine breite Bewegung für die Beilegung von Blutfehden entwickelt, die als Fundament für den von Ibrahim Rugova angestrebten Aufbau einer Zivilgesellschaft gedacht war.

Gewaltlos, aber maximalistisch

DAS Netz um die Drenica-Region zieht sich immer dichter zusammen. Am 12. März treffen rund tausend Polizisten in Srbica ein; in der Nacht vom 19. auf den 20. März wird das Dorf Llausha von der Munitionsfabrik von Trepca aus unter Raketenbeschuß genommen. Verschärfte Kontrollen in der gesamte Region und das Auftauchen serbischer paramilitärischer Verbände, vor allem der „Weißen Tiger“ unter der Führung des Mafioso und Kriegsverbrechers Zeljko Raznjatović (alias Arkan), sind die Vorboten blutiger Auseinandersetzungen.

Die große Frage lautet, warum gerade in der Drenica mit so gnadenloser Härte zugeschlagen wird. Ajdin Ajdini, Französischlehrer am albanischen Gymnasium von Vucitrn, hat eine Erlärung: „Die Region ist das Herz des Kosovo, wo es schon immer Widerstand gegen die serbische Unterdrückung gab und wo schon zahlreiche Massaker stattgefunden haben, vor allem während des zweiten Balkankriegs von 1913 und am Ende des Zweiten Weltkriegs – als sich die Tschetniks3 zu Partisanen umkostümierten und ganze Dörfer liquidierten.“ Diese Erklärung ist jedoch nicht hinreichend. Vielmehr hat es den Anschein, als hätten sich einige Familienclans, darunter vor allem die Jashari, auf eigene Faust zum Kampf entschlossen. „Die UCK wurde vor zwei Jahren in Deutschland gegründet“, lautet die Auskunft ihrer Mitglieder. Viele junge Männer arbeiten im Ausland und haben etwas Wohlstand in die Region zurückgebracht. Überall in den Dörfern wurden Häuser errichtet, welche die Polizei jetzt verwüstet hat. Zudem spricht alles dafür, daß die LDK gerade die Familienclans in der Drenica besonders fest unter Kontrolle hatte.

Ging es den serbischen Machthabern vielleicht einfach nur darum, eine terroristische Bewegung zu zerschlagen, bevor sie sich ausbreiten kann, oder hofften sie, indem sie hier zuschlugen, die Schwachstellen jener Strategie des „gewaltlosen Widerstands“ auszunutzen, die von den Kosovo-Albanern unter Führung von Ibrahim Rugova acht Jahre lang verfolgt wurde? Zu den tragischen Ereignisse in der Drenica kam es genau zu dem Zeitpunkt, als sich abzeichnete, daß dieses Experiment an seine Grenzen stößt. Seit gegenüber den Albanern 1989/90 ein Apartheid-System eingeführt wurde, bestand die Gegenstrategie der LDK in der Schaffung einer „Parallgesellschaft“. Sie sollte die Funktionen des Staates ersetzen, der die Albaner ausschloß. Doch sechs Jahre nach der Ausrufung der „Republik Kosova“ ist die Lage unverändert. Der Aufbau eines parallelen Bildungssystems in albanischer Sprache, vom Kindergarten bis zur Universität, hat nichts daran geändert, daß eine politische Lösung der Krise nicht absehbar ist. Die jungen Leute gehen zum Arbeiten ins Ausland.

Doch viele Protagonisten hatten ein Interesse an der Erhaltung des Status quo – allen voran der jugoslawische Staatspräsident Slobodan Milošević. Da die Albaner die Wahlen boykottierten, vertraten die vierzig Abgeordneten aus dem Kosovo im serbischen Parlament ausschließlich die Interessen der 150000 Serben, die in der Provinz leben. Auch die serbischen Mafia-Clans hatten ein Interesse an einem Andauern der Situation. Als sich Arkan in Priština zum Abgeordneten wählen ließ, glaubten die Kosovo-Serben, den Paladin gefunden zu haben, der sie schützen werde. Aber der Mann zog es vor, einträgliche Beziehungen zu seinen Geschäftspartnern auf albanischer Seite anzuknüpfen. Der Mailänder Staatsanwaltschaft gelang es Anfang März 1998, eine cosca (Netz) der kalabresischen 'Ndranghetta zu zerschlagen, die von der Lombardei aus operierte und mit Mafiakreisen in Albanien und in der Slowakei zusammenarbeitete. Nach Angaben der Ermittler liefen die Verbindungen zwischen den italienisch-albanischen und den slowakischen Banden über den Kosovo.

An Geld fehlt es nicht im Kosovo. Es ist vielfach ehrlich verdientes Geld, das Albaner aus Deutschland und der Schweiz nach Hause schicken. Das Budget der „Republik Kosova“, die ja auf freiwillige Abgaben angewiesen ist, hat ein beachtliches Volumen. Kein Wunder, daß die UCK in ihrer ersten öffentlichen Verlautbarung im November 1997 gefordert hat, dieses Geld müsse „nutzbringend für den nationalen Befreiungskampf eingesetzt werden“. Die in der Provinz herrschende Rechtlosigkeit bietet natürlich günstige Bedingungen für illegale Aktivitäten. Diese können weder durch die „offiziellen“ sozialen Strukturen der LDK noch durch die Verbindungen von Familien und Sippen eingedämmt, sondern allenfalls regulierend und vermittelnd beeinflußt werden. Die neuen politischen Gegebenheiten in Serbo-Jugoslawien und die Erschöpfung der albanischen Bevölkerung machen es jetzt allerdings zwingend, diesen gefährlichen Status quo aufzukündigen. Ibrahim Rugova hatte mit seiner Politik versucht, die Aktionsform des gewaltlosen Widerstands mit dem maximalistischen Ziel der Unabhängigkeit des Kosovo zu verbinden. Damit war er schon seit einem Jahr auf Kritik gestoßen, vor allem bei der Parlamentarischen Partei Kosova (PPK), die den Übergang von der „passiven“ zur „aktiven“ Gewaltlosigkeit propagierte. Ihr Führer Adem Demaci forderte insbesondere, das 1992 gewählte Parlament müsse endlich zu einer Plenarsitzung zusammentreten (was aus Sicherheitsgründen nie geschehen war), und auch die Ministerien der „Republik Kosova“, die ihren Sitz in Bonn und Genf haben, müßten in die Heimat verlegt werden. Er erklärte, das Ziel eines föderativen Balkanstaates oder zumindest einer Republik Kosova innerhalb eines neuen jugoslawischen Bundesstaats zu verfolgen.

Adem Demaci ist der einzige albanische Führer, der sich auf die Seite der UCK gestellt hat. Doch seit den Massakern in der Drenica hält er sich zurück, und seine PPK hat sich an den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 22. März nicht beteiligt. Dieselbe Position bezog die Sozialdemokratische Partei Kosova (PSDK), deren Vorsitzende Luljeta Pula-Beqiri die acht Jahre des „passiven Widerstands“ folgendermaßen bilanziert: „1990, und auch noch 1992, als unsere Republik ausgerufen wurde, herrschte eine politische Aufbruchstimmung; damals hatte Präsident Rugova die Bevölkerung hinter sich. Seine Politik zielte jedoch nur auf das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft – zu dem es nie kam. Die acht Jahre seit 1990 wurden auf tragische Weise vertan. Präsident Rugova hat eine Politik gegen die Interessen der Nation verfolgt.“ Bei den Präsidentschaftswahlen war Frau Pula-Beqiri als einzige Kandidatin gegen Rugova angetreten, hatte aber am 18. März ihre Kandidatur zurückgezogen: „Die Wahlen hätten schon 1996 stattfinden sollen, doch Präsident Rugova hat sich immer geweigert, sie zu organisieren – aber sie jetzt abzuhalten, nach dem Massaker, ist einfach unanständig.“ Die Sozialdemokratische Partei zählt nach eigenen Angaben 30000 Anhänger, vorwiegend unter den früheren Bergleuten der Minen von Drepca, die 1990 wie alle albanischen Arbeiter entlassen wurden. Sie verurteilt ziemlich glaubwürdig die LDK und ihr System der Machtausübung, ihre totale Herrschaft über die Medien und ihre zweifelhaften Machenschaften.

Zum Wahlboykott hatten nicht nur die Parteien von Demaci und Pula-Beqiri aufgerufen, sondern auch der Studentenverband. Offenbar vergeblich: Die Wahlbeteiligung am 22. März war hoch. Doch mittlerweile ist der Konflikt innerhalb der LDK längst offen ausgebrochen, wie der Parteikongreß Anfang März deutlich gemacht hat, auf dem sich drei unterschiedliche Strömungen artikulierten: Die erste – vertreten durch Fehmi Agani, die „graue Eminenz“ von Präsident Rugova, der jedoch in der neuen Führungsstruktur nicht mehr auftaucht – möchte, daß die LDK eine Volksbewegung bleibt, die verschiedene politische Richtungen umfaßt. Eine zweite Gruppierung auf dem rechten Flügel der Partei tritt offen für eine großalbanische Anschlußpolitik ein, während eine dritte Strömung – um Hydajet Huseini – in etwa der alten Fraktion der politischen Häftlinge der Tito-Ära entspricht, deren politische Überzeugung noch aus der stalinistischen Enver-Hoxha-Schule stammt.

Ibrahim Rugova hat es stets verstanden, seine Macht auf den Ausgleich zwischen diesen „Enveristen“ und den „Realisten“ um Fehmi Agani zu gründen. Durch die umfassende Säuberungsaktion beim jüngsten Parteitag hat Rugova seine persönliche Machtposition gestärkt.

Er hat erkannt, daß die Zeit reif ist für ernsthafte Verhandlungen. Im Prinzip lehnen alle albanischen Parteien im Kosovo jede Form von „Autonomie- oder Sonderstatus“ ab, ihre programmatische Minimalbasis ist die Unabhängigkeit. Aber da die Unabhängigkeit auf das absolute Veto Europas und der Vereinigten Staaten stößt, stellt sich die Frage, ob die Kosovo- Albaner die Zugeständnisse akzeptieren werden, die Präsident Rugova zwangsläufig machen muß. Der Wissenschaftler Rexhep Ismajli macht sich keine Illusionen: „Die Politiker haben die Situation gar nicht mehr im Griff. Die jungen Leute warten doch nur darauf, daß sie Waffen bekommen, um zu kämpfen.“

Zweifellos müssen viele der Fragen, die in Priština heftig diskutiert werden, in Belgrad beantwortet werden. Zunächst mag es so aussehen, als habe sich der jugoslawische Präsident ohne Not in eine ziemlich ungünstige Lage gebracht: Serbien ist gezeichnet von den Kriegsjahren und hat den Verlust Slawoniens und der Krajina zu verkraften; nun drohen erneut Sanktionen und wachsende internationale Isolierung. Daß die Operation in der Drenica geplant war, steht außer Frage. Aber was waren die Ziele?

Der Belgrader Historiker Milan Protić, der den Monarchisten nahesteht, hat eine Theorie: „Slobodan Milošević heizt den Konflikt an, um der serbischen Öffentlichkeit beizubringen, daß sie notfalls den Verlust des Kosovo akzeptieren muß. Denn falls Serbien erneut mit internationalen Sanktionen gedroht wird, bleibt ihm keine Wahl.“ In Belgrad ist gelegentlich auch von einer Teilung des Kosovo die Rede: Serbien könnte die alten Klöster in der Metohija behalten und das übrige Gebiet den Albanern überlassen. Aber weder diese Lösung noch eine ethnische Säuberung, wie sie Bosnien-Herzegowina erlebt hat, wären in dieser Region durchsetzbar, wo die Albaner mehr als 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Eine weitere Hypothese lautet, Milošević könnte mit der internationalen Gemeinschaft eine Art Kuhhandel abschließen: der Kosovo geht an Albanien, dafür wird die bosnische „Republika Srpska“ Serbien zugeschlagen ...

Jenseits der Unabhängigkeit oder des Anschlusses an Albanien bleibt den Kosovo-Albanern also nur der Weg ernsthafter Verhandlungen, und zwar nicht nur über ein Autonomiestatut für die Provinz, sondern gleichermaßen über eine umfassende Neubestimmung der staatlichen Gliederung Jugoslawiens. Die serbische politische Klasse ist sich darin einig, daß „der Kosovo eine Angelegenheit der serbischen Innenpolitik ist“, wie Vuk Drašković, der Führer der Serbischen Erneuerungsbewegung, erklärt hat. Doch Milošević, seit Juni 1997 nicht mehr serbischer Präsident, sondern Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien, weiß, daß ernsthafte Verhandlungen unvermeidlich sind.

Schließlich war für Milošević auch der serbische Nationalismus nie mehr als eine Karte im Spiel um die Macht. Gefährdet wird diese Macht derzeit nicht so sehr durch die Krise im Kosovo als vielmehr durch die politische Entwicklung in Montenegro. 1992 war es für Milošević wichtig, die Fiktion eines jugoslawischen Staates als Nachfolger der untergegangenen Sozialistischen Bundesrepublik aufrechtzuerhalten, auch wenn die neue Föderation nur aus Serbien und Montenegro bestand. Durch den Grundsatz der Gleichberechtigung der beiden Föderationspartner sieht sich Milošević in einer unangenehmen Lage: Die parlamentarischen Vertreter der 650000 montenegrinischen Staatsbürger können jede Verfassungsänderung verhindern. Überdies kennt der Präsident Montenegros, der Demokrat Milo Djukanović, das Macht- und Manipulationssystem Milošević' von innen: Vor seinem politischen Bruch mit Milošević hatte er lange zu dessen Mitstreitern gehört. Insofern kann er dem jugoslawischen Präsidenten weitaus gefährlicher werden als zum Beispiel Drašković, Izetbegović oder Rugova. Das politische Überleben von Milošević wird also davon abhängen, ob es ihm gelingt, sich aus der Falle Montenegro zu befreien. Der Kosovo könnte sich dafür als Vorwand anbieten. Zwei Möglichkeiten sind denkbar: Entweder wird die früher formulierte Forderung der Albaner erfüllt, den Kosovo zur Teilrepublik innerhalb der jugoslawischen Föderation zu machen, oder aber das ganze Staatsgebilde wird von Grund auf umgekrempelt. Seit einigen Monaten ist ein für Serbien völlig neuer Begriff im Umlauf – die „Regionalisierung“. In Jugoslawien hat es nie eine Machtebene zwischen den Gemeinden einerseits und den Republiken andererseits gegeben. Vielleicht verwandelt sich der Bundesstaat jetzt in einen dezentral verwalteten Einheitsstaat, der sich aus mehreren großen Regionen zusammensetzen würde, als da sind: die Vojvodina, die Sumadija (die Region um Kragujevac), der Sandžak von Novi Pazar, und natürlich der Kosovo ...

Im Hintergrund das Problem Montenegro

DIESER Plan einer „Regionalisierung“ könnte bei weiten Teilen der politischen Klasse Serbiens Zustimmung finden. Sogar die Faschisten unter Vojislav Šešelj könnten darin eine Möglichkeit sehen, jede Erinnerung an Jugoslawien durch ein hypothetisches „Großserbien“ auszulöschen. Der Sandžak könnte als Versuchsballon für dieses Vorhaben dienen. Milošević hat akzeptiert, daß die Partei der Demokratischen Aktion (SDA), die Vertretung der Muslime (die 55 Prozent der Bevölkerung in dieser südserbischen Region ausmachen), in Novo Pazar und anderen Städten die Stadtverwaltung übernommen hat. Allerdings ist die SDA im Sandžak gespalten, und die SDA- Sandžak des Bürgermeisters von Novi Pazar, Sulejman Ugljanin, wird von den anderen Fraktionen der Kollaboration mit den Machthabern bezichtigt. Der Vorwurf scheint nicht ganz unbegründet, wenn man weiß, daß Ugljanin sein Amt nur zwei Tage nach seiner Rückkehr aus dem Exil antrat. In mancher Hinsicht könnte die Aufteilung in Regionen sich an den banovine (Banaten) der alten Karadordević- Monarchie orientieren; doch es erscheint fraglich, ob Montenegro damit einverstanden wäre, seinen Status als „souveräner Staat“4 aufzugeben, um jener „Banovina der Zeta“ zugeschlagen zu werden, zu der es bis 1941 gehörte. In der serbischen Geschichte spielt Montenegro eine mindestens ebenso bedeutende symbolische Rolle wie der Kosovo, und seine Küste bietet einen direkten Zugang zum Meer, der für die Serben so wichtig ist. Milošević dürfte das allerdings wenig kümmern: Wenn die Montenegriner seine Macht beschneiden sollten, wird er alles daransetzen, sie loszuwerden. Vielleicht liegt für Milošević der Schlüssel zur Lösung des Montenegro-Konflikts im Kosovo.

Milošević wie Rugova wissen sehr wohl, daß sie letztlich um ernsthafte Verhandlungen nicht herumkommen. Könnte es also sein, daß die Märtyrer der Drenica nur gestorben sind, um günstigere Bedingungen für diese Verhandlungen zu schaffen? Die Albaner werden nun zu weitgehenden Zugeständnissen bereit sein müssen, und die serbische Bevölkerung wird nicht das Privileg genießen, gefragt zu werden. Darüber können die neugegründeten kleinen Gruppen radikaler Serben im Kosovo ebensowenig hinwegtäuschen wie die Demonstrationen von Serben vom 19. und 23. März. Milošević wird keinen Augenblick zögern, die Serben im Kosovo ebenso seinen Interessen zu opfern, wie er es mit ihren Landsleuten in der Krajina und in Slawonien getan hat. Es sei denn, die von beiden Seiten so kunstvoll ersonnenen Szenarien gehen in einem erneuten Ausbruch der Gewalt unter.

dt. Edgar Peinelt

* Historiker und Journalisten.

Fußnoten: 1 Albanische Schreibweise: Gjilan; der Einfachheit halber werden hier die Namen der Städte in der serbokroatischen Schreibweise wiedergegeben, die Dörfer haben dagegen oft nur albanische Namen. 2 Bulletin des Komitees für die Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte, Bde. VII-3 (April-Juni 1997), VII-4 (Juli-September 1997) und VII-5 (Oktober-Dezember 1997). 3 Die Tschetniks hatten sich während des Zweiten Weltkriegs als Widerstandsgruppen formiert, die für das exilierte serbische Königshaus kämpften. Ihr Antifaschismus war allerdings gehemmt durch die Feindschaft gegen den kommunistisch geführten Widerstand der „Partisanen“. Sie vertraten einen radikalen serbischen Nationalismus, der von der Idee einer „geschichtlichen Vergeltung“ bestimmt war – sowohl gegenüber den Kroaten, die ihnen allesamt als Ustascha- Faschisten galten, als auch gegenüber den bosnischen Muslimen, die sie als abtrünnige Serben betrachteten. 4 So lautete die Formulierung bei der Volksabstimmung von 1992, in der sich die Montenegriner dafür aussprachen, Teil der neuen jugoslawischen Föderation zu werden.

Le Monde diplomatique vom 17.04.1998, von JEAN-ARNAULT DERENS und SÉBASTIEN NOUVEL