Solange die Löwen keine eigenen Historiker haben
Von MARCEL MANVILLE *
DER erste Artikel des königlichen Edikts vom Mai 1664, der die Westindische Gesellschaft begründete, hatte erklärt: „Die Errichtung der Kolonien erfolgt zu Ehren Gottes, denn wir bringen den Eingeborenen den wahren Glauben.“ Die erste Sklavenrevolte erfolgte im Juli 1665. Die damaligen „marrons“1 wurden von Francisque Fabulet angeführt, der – wie damals üblich – den Namen seines Herrn trug. Ein gewisser Sechou, Sklave des Antoine de la Prairie, wurde zum Tode verurteilt, gehängt und gevierteilt, woraufhin man „seine Gliedmaßen an öffentlichen Straßen zur Schau stellte“. Angeklagt hatte man ihn, er habe die aufständischen Sklaven angeführt und weglaufen wollen, um sich den (wenigen verbliebenen) karibischen Indianern anzuschließen, die der Vernichtung entronnen waren.
Der 1685, also zwanzig Jahre später, verabschiedete „code noir“ sollte das seit Beginn des Sklavenhandels existierende juristische Vakuum füllen. Dieses Werk Minister Colberts bestand aus 60 Artikeln, die erstmals den rechtlichen Status eines Sklaven festschrieben: die Pflicht (der Herrn), die Sklaven zu taufen und in der katholischen Religion zu unterweisen; das Verbot, ohne Erlaubnis des Herrn zu heiraten; das Verbot, Waffen oder größere Stöcke zu tragen, das Verbot – unter Androhung der Peitsche –, Zuckerrohr zu verkaufen. Ein Sklave, hieß es in den Bestimmungen, besitzt nichts außer dem, was auch sein Herr besitzt. Ein Sklave, der seinen Herrn oder seine Herrin schlägt, wird mit dem Tode bestraft. Einem entlaufenen Sklaven werden nach dem ersten Versuch die Ohren abgeschnitten. Wird er rückfällig, hackt man ihm einen Fuß ab. Ein dritter Fluchtversuch wird mit dem Tode bestraft.
Am Rand der Geschichte
DIESE Statuten, die erlassen wurden, weil sich der Hof Ludwigs XIV. durch Berichte vom harten Los der Sklaven hatte rühren lassen, änderten gleichwohl nichts Wesentliches an den Lebensumständen dieser Menschen, die man nach wie vor wie bewegliche Habe behandelte. „Eher sollen die Kolonien untergehen, als daß wir unsere Prinzipien antasten“, hatte der Revolutionsführer Maximilien Robespierre ausgerufen, der 1794 erstmals die Abschaffung der Sklaverei durchsetzte. Als dann jedoch die Siedler, die Reichen und die erst bonapartistisch, dann kaiserlich und schließlich monarchistisch gesinnte Bourgeoisie Druck machten, wurde die Sklaverei 1802 wieder eingeführt und blieb bis 1848 in Kraft.
Im Rahmen einer „zweiten französischen Revolution“ machte endlich – am Vorabend einer anderen, der industriellen Revolution – das vom Abgeordneten Victor Schoelcher durchgebrachte Dekret vom 27. April 1848 die Neger zu freien Menschen. Zwei Monate dauerte es damals, bis die Neuigkeit in Amerika eintraf, und so stand der Gouverneur Rostoland in Saint-Pierre (Martinique) noch am 22. Mai 1848 einer (letzten) Sklavenrevolte gegenüber, weshalb dieser Tag seit dem Wahlsieg der Linken im Jahre 1981 in Martinique ein Feiertag ist.2
Schon seit langer Zeit finden sich in fast allen Gemeinden von Martinique, Guadeloupe und Guyana nach Victor Schoelcher benannte Straßen. Dieser große Abolitionist war der Auffassung, es sei nicht seine Schuld, daß jeder Fortschritt der Freiheit mit Blut befleckt ist. Doch ohne seine Leistung herabmindern zu wollen, muß man zugeben, daß bei den Opfern und ihren Nachfahren Anerkennung und Dankbarkeit, so wichtig sie auch sein mögen, gegenüber der Erinnerung leicht in den Hintergrund treten.
Wir werden niemals akzeptieren können, daß man uns etwas angetan hat, was Montesquieu folgendermaßen beschrieben hat: „Nachdem die Völker Europas die Völker Amerikas vernichtet hatten, mußten sie die Völker Afrikas versklaven, um sich ihrer zwecks der Urbarmachung der riesigen Ländereien bedienen zu können: Der Zucker wäre zu teuer, würden die Pflanzungen, die ihn hervorbringen, nicht von Sklaven bewirtschaftet.“3 In Europa hat man diesen ersten Völkermord großzügig unter den Teppich gekehrt, und es wäre heute – in diesen Zeiten reuiger Besinnung – angemessen, ihm in der Geschichte der Menschheit einen wichtigen Platz einzuräumen.
„Solange die Löwen nicht ihre eigenen Historiker haben, werden in den Jagderzählungen weiterhin die Jäger verherrlicht“, sagt ein altes afrikanisches Sprichwort, das der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano4 häufig zitiert. Was man die „Entdeckung“ Amerikas durch Christoph Kolumbus genannt hat, war für ihn die „Beerdigung Amerikas durch Europa“: die Vernichtung der Indianer und die Einführung der Sklaverei.
Schweiß, Blut und Tränen unserer glorreichen Urgroßväter, denen man ihre afrikanische Heimat, ihre Sonne und ihre Götter entrissen hatte, verdienen es, auf ewig in Ehren gehalten zu werden. Die Sklaverei war das erste Verbrechen gegen die Menschheit, lange vor dem Martyrium der Armenier und Juden, der Kambodschaner und Ruander: ein ungeheurer, sich über mehrere Jahrhunderte erstreckender menschlicher Aderlaß. „Ein Verbrechen gegen die Menschheit ist dann gegeben, wenn man jemanden allein aufgrund der Tatsache tötet, daß er geboren wurde.“ So formulierte es André Frossard, ein Mitglied der Académie Française, als Zeuge beim Prozeß gegen den Nazi-Schergen Klaus Barbie.5
Für die Deportation von 30 Millionen schwarzen Sklaven, die in über drei Jahrhunderten nach Nord- und Südamerika gebracht oder auf dem afrikanischen Kontinent gehandelt wurden, müssen Frankreich, Europa und die internationale Gemeinschaft heute geradestehen, damit diese Gedächtnislücke nicht bis ins dritte Jahrtausend bestehen bleibt.
Die Reue sollte sich dabei auch auf das Los der schwarzen Bevölkerung und der Amero-Indianer erstrecken, die immer noch der Verachtung und Diskriminierung zum Opfer fallen. Doch dabei darf man es nicht belassen. Fünf Jahrhunderte nach Kolumbus können wir uns nicht mit einem mißmutigen Wiederkäuen der Vergangenheit begnügen, während wir, die Antillenbewohner, doch eine ungeheure Aufgabe zu bewältigen haben: noch immer gelten wir heute häufig als „Bastarde“ Europas und Afrikas.
Vor 150 Jahren wurde die Sklaverei abgeschafft: Doch jenseits aller rechtlichen Querelen müssen wir kolonialisierten Menschen uns immer noch dieselben Fragen stellen: wir, die wir die Dritte Welt darstellen, diese am Rand der Geschichte verbliebene Welt, der ausgegrenzte dritte Teil, der darum kämpfen muß, sein Recht auf Sonne durchzusetzen. Frantz Fanon, der aus Martinique stammende Verfasser der „Verdammten dieser Erde“, den die Intellektuellen weltweit zu den 50 entscheidenden Denkern unseres ausgehenden Jahrhunderts zählen – neben Albert Camus, Jean-Paul Sartre und Paul Valéry –, dieser Frantz Fanon hat uns in seinem politisch-moralischen Testament aufgerufen: „Wir müssen uns völlig ändern, eine neue Denkweise entwickeln, einen neuen Menschen zu schaffen versuchen, damit die Unterjochung des Menschen durch den Menschen auf ewig ein Ende hat.“ Frantz Fanon bleibt eine nie versiegende Quelle für all diejenigen, die überall auf der Welt mehr sein wollen als Buchhalter der verlorenen Hoffnung, der moralischen Knechtung, der Resignation und des Rückzugs auf sich selbst – für alle, die der Zukunft ins Auge blicken und zur politischen Souveränität gelangen wollen.
Wir werden Tag und Nacht voranschreiten auf der Suche nach dem neuen Menschen, hat es Frantz Fanon, mein Weg- und Kampfgefährte, einmal formuliert. Die ehemaligen Kolonialterritorien der Antillen und Guyanas sind trotz des Gesetzes vom 16. März 1946, welches sie zu überseeischen Departements machte, noch nicht zur politischen Großjährigkeit gelangt. Die Schuld an diesem Anachronismus darf nicht, wie wir es zu häufig tun, allein dem französischen Staat angelastet werden.
Kein Kolonialherr ist lebensmüde. Kein Kolonialherr wird je von sich aus verfügen, daß die Kolonialisierten ein Recht auf nationale Unabhängigkeit haben sollen. Im übrigen sollte man auch den Verrat des Klerus nicht unterschätzen, der seiner Verantwortung nicht nachkam, ebenso wie den Verrat eines Teils unserer einheimischen Politikerkaste, die sich seit 1848 im Sessel zurücklehnt, anstatt sich auf die – nicht ungefährliche – Seite der Hoffnung zu schlagen.
Schlimmer als die Schmach der Ketten ist es, ihr Gewicht nicht einmal mehr zu spüren. Unsere am Rand der Geschichte verbliebenen Völker müssen sich aufmachen, um in ihren Territorien das Recht auf nationale Unabhängigkeit durchzusetzen. Drei Jahrhunderte Kolonialherrschaft lassen sich nicht einfach hinwegfegen. Die Erfahrung lehrt jedoch, daß Assimilierung und Dezentralisierung immer nur Behelfslösungen sind.
Die Vision Victor Schoelchers
ALL diejenigen, die bei uns „urbi et orbi“ erklären, man müsse zuerst industrialisieren und die Wirtschaft entwickeln, irren sich gewaltig. Die Kolonialmacht wird sich kaum dazu bewegen lassen, auf den Antillen und in Guyana Bedingungen zu schaffen, die unseren vor Ort erzeugten nationalen Produkten die Chance ließen, gegenüber den aus Frankreich importierten wettbewerbsfähig zu sein. Trotz der Werbekampagnen, heimische Erzeugnisse zu kaufen, wird kein Unternehmen auf Martinique je imstande sein, mit den billigen Tomaten und Gemüsen zu konkurrieren, die bei uns allnächtlich von der Luftfracht-Boeing „Pelikan“ herübergebracht werden ...
Victor Schoelcher hatte dennoch im vergangenen Jahrhundert diese Vision: „Betrachtet man die Kleinen Antillen und all diese dicht bei dicht liegenden Inseln, so stellt sich der Gedanke ein, daß sie eines Tages eine einzige Nation mit einer gemeinsamen Flotte und unter einer Fahne bilden können. Dies ist nicht heute zu verwirklichen, doch morgen gewiß.“
Wie einmal Aimé Césaire als Abgeordneter für Martinique in der französischen Nationalversammlung gesagt hat, gab es in der Karibik immer schon „Unabhängigkeitsepidemien“. Zwar hat auch dieser große Dichter für sich hieraus nicht alle Konsequenzen gezogen... So erhält Frantz Fanon das letzte hoffnungsvolle Wort: „Dekolonialisierung bedeutet eigentlich die Schaffung neuer Menschen. Der kolonisierte Gegenstand wird zum Menschen in dem Prozeß selbst, durch den er seine Befreiung erwirkt.“
dt. Margrethe Schmeer
* Rechtsanwalt aus Martinique, Vorsitzender des Cercle Frantz- Fanon.