17.04.1998

Migranten als erste Opfer der Krise in Südostasien

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Migranten als erste Opfer der Krise in Südostasien

Mehrere Millionen Menschen sind seit dem vergangenen Sommer in Südostasien von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit betroffen. Opfer sind vor allem die ausländischen Hilfsarbeiter, die zu unerwünschten Personen erklärt werden. Damit bezahlen sie als erste für die Fehler der Regierungen, die sie ins Land geholt hatten, und für die mangelnde Weitsicht der Unternehmen, die sie einstellten.

Von SOLOMON KANE und LAURENT PASSICOUSSET *

AN den Bau des Chalermphrakiart-Stadions in Bangkok wird sich Chen Ra noch lange erinnern. 42 Monate lang hat der 22jährige Khmer täglich 14 Stunden dort gearbeitet, und das für einen lächerlich geringen Lohn. Jetzt wurde er von seinem thailändischen Chef entlassen. An diesem Tempel des Leistungssports, mit Tribünen für 60000 Zuschauer und topmodernen Sportanlagen ausgestattet, werden Tausende Arbeiter zehn Jahre lang gebaut haben, damit die 13. Südostasien-Spiele im Dezember 1998 in einem würdigen Rahmen präsentiert werden können.

Die meisten der illegal oder regulär eingereisten Ausländer auf der Stadionbaustelle waren Tagelöhner, die aus den ärmsten Staaten der Region kamen. Eben wie Chen Ra, der aus einem Dorf im Nordwesten Kambodschas stammt. Sechs Jahre nach seiner Ankunft in Thailand zählt er heute zu den Hunderttausenden von Unerwünschten, jenen Hilfsarbeitern des wirtschaftlichen Fortschritts, die man jetzt auffordert, sich andernorts ausbeuten zu lassen. Am 19. Januar hat die Regierung angekündigt, in den kommenden sechs Monaten 300000 Einwanderer auszuweisen. Rund 700000 weitere Migranten sollen bis Anfang 1999 das Land verlassen haben. Dabei waren es die thailändischen Unternehmen, die sie während der letzten zehn Jahre ins Land gerufen hatten, als die Wirtschaft mit einer jährlichen Wachstumsrate von über 10 Prozent einen Rekordboom erlebte. „1992 kam ein Mann in unser Dorf“, erinnert sich Chen Ra. „Er sagte, wenn wir 2500 Baht1 aufbringen, gibt er uns die Chance, in Thailand zu arbeiten und viel Geld zu verdienen. Wir haben drei Ferkel verkauft, um die Fahrt zu bezahlen, mit mir zusammen sind dem Anwerber achtzehn Jungen und Mädchen aus dem Dorf gefolgt.“

Die kambodschanischen Jugendlichen, die der maekul, der thailändische Anwerber, rekrutiert hat, werden gleich nach der Ankunft im „gelobten Land“ auseinandergerissen. Chen Ra und zwei seiner Gefährten landen in einer Kunstschmiedewerkstatt in einem Vorort von Chon Buri, einer östlich von Bangkok gelegenen Stadt. Unter erbärmlichen Bedingungen verdienen sie 30 Baht pro Person, das ist knapp ein Dollar für einen zwölfstündigen Arbeitstag. „Zweieinhalb Jahre lang habe ich an nichts anderes gedacht, als nach Bangkok abzuhauen“, erzählt der junge Mann. Im Juli 1994 schafft er es. Er läßt sich auf der Baustelle des Chalermphrakiart-Stadions anheuern. Da er Ausländer ist und keine Arbeitspapiere besitzt, wird er vom Vorarbeiter auf 50 Baht am Tag taxiert. „20 mehr als in Chon Buri“, jubelt Chen Ra, der noch nicht weiß, daß diese Summe weit unter dem üblichen Mindestlohn in der Hauptstadt liegt.2

Der Khmer-Bauer zählt zu den 1,2 Millionen ausländischen Hilfsarbeitern des thailändischen „Wirtschaftswunders“. Solange die Wirtschaftslokomotive unter Volldampf lief, waren sie für die Volkswirtschaften der Tiger-Staaten unersetzlich. Seit vergangenen Sommer aber sind sie die ersten Opfer der Rezession und Arbeitslosigkeit. In Thailand trifft es die Arbeiter aus Kambodscha, Birma und Laos, aus Sri Lanka und aus der Provinz Yunnan (Südchina). Alle arbeiteten in unterbezahlten Wirtschaftszweigen. Und in Jobs, die keine Qualifikation erfordern und die in Südostasien unter die Kategorie der „3 D“ fallen, was für „dirty, difficult and dangerous“ steht.3

Allein in der Provinz Ranong, die an der Andamanensee im thailändisch-birmesischen Grenzgebiet liegt, stammen mehr als zwei Drittel der 143000 Männer, die auf den Trawlern arbeiten, aus Birma.4 Weitere Ausländer arbeiten auf den Kautschuk-Plantagen im Süden des Königreichs oder in den Fabriken an den Küsten, die Fische und Meeresfrüchte verarbeiten. Oder eben bei den großen Infrastrukturprojekten in den städtischen Zentren, wo mittlerweile freilich die meisten Arbeiten infolge von Bankrotten oder Kapitalmangel eingestellt wurden. Das gilt auch für den geplanten Bau einer Hochbahn, die mit einem 60 Kilometer langen Netz den Verkehr in Bangkok entlasten sollte.

Import-Export-Handel mit Hilfsarbeitern

INSGESAMT sollen innerhalb der nächsten zwölf Monate eine Million illegal oder rechtmäßig zugewanderte ausländische Arbeiter gezwungen werden, Thailand zu verlassen. Tausende, die den massiven Währungsverfall und den schwindelerregenden Preisanstieg mit voller Wucht zu spüren bekamen, haben bereits von selbst ihre Bündel geschnürt. Gewohnt, dem Druck der Verhältnisse nachzugeben, verlassen sie freiwillig ihre Wohnviertel in der Nähe der Baustellen, Werkstätten und Fabriken, in denen sie einst gearbeitet haben. Einige kehren trotz des in der Heimat herrschenden Elends zurück. Und auch trotz der politischen Risiken, wie die Flüchtlinge, die zu den ethnischen Minderheiten Shan und Karen gehören. Auch sie, die von der in Birma herrschenden Militärjunta verfolgt werden, zählen jetzt zu den Ausländern, die im Königreich Thailand unerwünscht sind.

Andere Importländer von Arbeitskräften sind ebenfalls nicht zimperlich und gehen mit harter Hand gegen ihre Zuwanderer vor. Mit Ausnahme von Japan und Taiwan greifen alle Regierungen in der Region mehr oder weniger massiv auf restriktive Maßnahmen zurück. In den am weitesten entwickelten Ländern des Asean (Verband Südostasiatischer Staaten)5 gelten Ausländer ohne Qualifikation jetzt als unerwünschte Personen und werden meist ohne Abfindung entlassen. Von Singapur über Chiang Mai bis nach Kuala Lumpur haben viele zahlungsunfähige Unternehmer keinerlei Skrupel, die Illegalen wegzuschicken, ohne den Lohn für die letzten Arbeitswochen auszuzahlen.

In Hongkong wurde der Monatslohn der 170000 „maids“ eingefroren, die zu 80 Prozent von den Philippinen, aber auch aus Indonesien und Thailand stammen.6 Bis auf weiteres erhalten diese Hausbediensteten lediglich 3850 Hongkong-Dollar (etwas weniger als 500 US-Dollar), obwohl die Lebenshaltungskosten in den letzten Monaten stark gestiegen sind.

Süd-Korea, Mitglied der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), hat schon mindestens 10000 Ausländer ausgewiesen und darüber hinaus angekündigt, im Laufe des Jahres die meisten der 230000 Zuwanderer zum Verlassen des Landes zu zwingen, darunter vor allem die 146000 Illegalen.7 Ziel der Regierung ist es, so Arbeitsplätze für jene 600000 Südkoreaner zu gewinnen, die 1997 entlassen wurden.

Malaysia handelt nach demselben Muster. Eine Gruppe unter den insgesamt zwei Millionen ausländischen Arbeitnehmern kann zunächst allerdings noch mit Nachsicht rechnen: Presseberichten zufolge will Kuala Lumpur im Namen der sakrosankten Freundschaft zwischen Malaysia und Indonesien einen Gutteil der 800000 im Land lebenden Indonesier schonen. Dafür plant die Regierung, die 250000 Migranten aus Bangladesch und Indien des Landes zu verweisen.

Im Dienstleistungsbereich soll jedoch die Jagd auf Zuwanderer, ganz gleich welcher Nationalität, schonungslos betrieben werden. So verkündete unter anderem die Tageszeitung Malaysia Star am 9. Februar 1998 unter Berufung auf regierungsoffizielle Quellen: „Künftig wird Ausländern die Beschäftigung in Einkaufszentren, Supermärkten, Imbißketten, Restaurants und Kantinen, auf Nachtmärkten, in Wäschereien, Friseursalons, beim Rasenpflegen sowie als Parkarbeiter untersagt.“

Die Regierung in Kuala Lumpur will die rechtmäßig eingereisten Ausländer in Wirtschaftsbereiche umlenken, die von der Krise weniger betroffen sind, in denen aber auch schlechter bezahlt wird. Diese „privilegierten“ Arbeiter sollen in die Landwirtschaft und in die gewerbliche Industrie geschleust werden, wo laut Angaben der Regierung 60000 beziehungsweise 20000 Stellen frei sind.

Die Vorsicht, die Malaysia im Unterschied zu Süd-Korea und Thailand praktiziert, bezeugt weniger Mitgefühl als vielmehr wirtschaftlichen Realismus. Denn es gibt da die Erinnerung an eine ähnliche Situation Mitte der achtziger Jahre. Damals wurden 200000 Ausländer wegen vorübergehender wirtschaftlicher Schwierigkeiten ausgewiesen. Als die Konjunktur wieder ansprang, konnte man sie nicht wieder ins Land zurückholen. Diese in Malaysia relativ gut ausgebildeten Arbeitskräfte hatten inzwischen bessere Jobs in Japan und Taiwan gefunden. Diese Erfahrung erklärt, warum das Land jetzt eine gewisse Zahl ausländischer Arbeiter auf seinem Gebiet behalten will, obwohl eine Reihe gigantischer Infrastrukturprojekte, darunter der Bau des Staudamms und Wasserkraftwerks von Bakun im Staat Sarawak, auf unbestimmte Zeit verschoben wurde.

Während es in der gesamten Region immer mehr Arbeitslose und immer weniger freie Stellen gibt, versuchen die Herkunftsländer der Arbeitskräfte ihre Auswandererzahlen deutlich zu erhöhen. Denn diese Arbeiter sind wichtige Devisenbringer. Länder wie Vietnam und Laos, die ärmer sind als die Aufnahmestaaten der Arbeitsemigranten, sind Neulinge der regionalen Wirtschaftsszene. Andere, wie etwa Indonesien, sind derzeit von schwerwiegenden sozialen Unruhen geschüttelt. Sie alle wollen dem philippinischen Vorbild nacheifern: Allein 1994 flossen von den ausgewanderten philippinischen Arbeitern (beziehungsweise vornehmlich Arbeiterinnen)8 , 2,7 Milliarden Dollar in die nationale Volkswirtschaft zurück, was immerhin 20 Prozent der Zahlungsbilanzzuflüsse ausmacht.9

Im vergangenen Jahr hat Vietnam, so die offiziellen Zahlen über die legalen Migranten, 17000 Arbeiter im Ausland untergebracht. In diesem Jahr wollen die vietnamesischen Behörden die Zahl der Auswanderer „wenigstens verdoppeln“.10 Dabei haben sie vor allem Süd-Korea (trotz dessen neuer protektionistischer Arbeitsmarktpolitik), Japan, Taiwan, den Nahen Osten und Osteuropa im Visier. In die gleichen Zielländer streben die indonesischen Arbeiter, die der massivsten sozioökonomischen Depression in der Region ausgesetzt sind. Im Wettbewerb um den Export unqualifizierter Arbeitskräfte stellt Jakarta bei weitem das größte Kontingent. Allein in Hongkong will man 24000 bis 70000 Hausangestellte unterbringen.

Auch Thailand, das Arbeitskräfte sowohl importiert als auch exportiert, verstärkt seine Bemühungen im Wettstreit um die Ausbeutung der nationalen Arbeitskraft. Für ein Land, in dem es laut Prognose des Nationalen Komitees für den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zum Jahresende mehr als zwei Millionen Menschen ohne Beschäftigung geben könnte, gibt es einfach keine andere Wahl. In den nächsten Monaten dürfte die Zahl der thailändischen Auswanderer von 400000 auf 600000 steigen. Wie Vietnam will auch Thailand dem philippinischen Beispiel folgen und seine Bemühungen nicht auf die reichsten Nachbarländer (Taiwan, Brunei, Singapur, Hongkong und Japan) begrenzen, sondern auch auf Regionen des Nahen Ostens ausdehnen, die seit dem Golfkrieg in Vergessenheit geraten waren.

Thailand will, wie alle anderen Exportländer, seine Arbeitskräfte regelrecht verkaufen. Dabei hat sich der Minister für Arbeit und Soziales im Dezember vergangenen Jahres, während der 12. regionalen Versammlung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Bangkok, als gewiefter Händler hervorgetan: Trairong Suwannakhiri animierte seine Kollegen aus den Golfstaaten, aber auch aus China und Australien, sich persönlich von der „guten Qualität der thailändischen Arbeiter“ zu überzeugen, und pries deren zahlreiche Vorzüge an: „Sie arbeiten hart und zäh, und sie lassen mit sich handeln.“ Da auch die anderen Regierungen der Region angesichts der gnadenlosen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt die gleichen „Verkaufsargumente“ ins Feld führen, haben die südostasiatischen Arbeitsmigranten kaum etwas zu erhoffen: weder die Einhaltung der gesetzlich festgelegten Mindestlöhne noch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, noch die Anerkennung ihrer gewerkschaftlichen Rechte.

dt. Erika Mursa

* Journalisten

Fußnoten: 1 Im September 1992 entsprachen 25 Baht einem US-Dollar, am 12. Februar 1998 43,2 Baht einem US- Dollar. 2 Nach Angaben der für Investitionen zuständigen Regierungsbehörde liegt der tägliche Mindestlohn seit dem 1. Oktober 1996 in Bangkok, in fünf angrenzenden Provinzen und in Phuket (im Südwesten des Landes) bei 157 Baht. In den sechs Provinzen Chiang Mai, Chonburi, Nakhon Ratchasima, Pan Nga, Ranong und Sarburi beträgt er nur 137 Baht und in den sechzig restlichen Provinzen 128 Baht am Tag. 3 „Schmutzig, schwer und gefährlich“. 4 Nach Angaben der Fischereibehörde. 5 Der Verband Südostasiatischer Staaten (Asean) zählt neun Mitgliedsländer: Brunei, Indonesien, Laos, Malaysia, Birma, Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam. 6 Siehe die Hongkonger Tageszeitung South Morning China Post vom 4. Februar 1998. 7 Laut Schätzungen des südkoreanischen Justizministeriums. 8 Sechs von zehn ausgewanderten Arbeitskräften aus diesem Land sind Frauen, so die Nationale Kommission zur Rolle der philippinischen Frauen. 9 Nach Angaben der philippinische Regierung von 1996. 10 Diese Zahlen veröffentlichte die Tageszeitung NhÛn DÛn (Organ der Kommunistischen Partei Vietnams) am 21. Januar 1998.

Le Monde diplomatique vom 17.04.1998, von SOLOMON KANE und LAURENT PASSICOUSSET