Als das Wählen erfunden wurde
GENAU hundertfünfzig Jahre ist es her, daß das allgemeine Wahlrecht in Frankreich ausgerufen und eingeführt wurde. Doch damals waren die Wahlen keineswegs Ausdruck individueller Meinungen, vielmehr standen sie deutlich im Zeichen gesellschaftlicher Zugehörigkeiten und Abhängigkeiten. Heute gilt das Recht des Bürgers, sich in eigener, freier Entscheidung seine Vertretungsorgane zu wählen, als Herzstück der Demokratie, doch der republikanische Geist bröckelt: Die Zahl der Nichtwähler steigt, und immer mehr Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft entziehen sich heute politischer Einflußnahme.
Von ALAIN GARRIGOU *
Am 2. März 1848 wurde in Frankreich das „allgemeine Wahlrecht“ verkündet, und auch wenn die Frauen aus dieser Allgemeinheit noch hundert Jahre ausgeschlossen blieben, war dies doch eine französische Pionierleistung. Zumal in den übrigen europäischen Ländern mit dem Scheitern der Revolutionen von 1848 auch das allgemeine Wahlrecht vorläufig scheiterte. Dabei handelte es sich 1848 keineswegs um eine neue Errungenschaft, sondern lediglich um die Wiederaufnahme eines Prinzips, das bereits in der Verfassung von 1793 festgelegt, jedoch nicht umgesetzt worden war. Hierzu bedurfte es der Revolution von 1848.
Das allgemeine Wahlrecht von 1793 wurde im Rahmen der historischen Ereignisse von 1848 am 2. März des Jahres erneut proklamiert, am 5. März dekretiert und in den Wahlen vom 23. und 24. April 1848 erstmalig auch angewendet. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Frankreich auch den Frauen der Zugang zur Wahlurne gewährt.
Die Reformbankette hatten gegen die Julimonarchie, die jede Ausweitung des Wahlrechts ablehnte, lediglich eine Senkung des Wahlzensus (also der Höhe der Steuersumme, an die das Wahlrecht gekoppelt war) gefordert, nicht aber seine Abschaffung. Als in der Februarrevolution von 1848 der Bürgerkönig Louis Philippe gestürzt wurde, oblag es einer provisorischen Regierung einer ebenso provisorischen Republik, Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung in die Wege zu leiten. Die mit der Abfassung eines neuen Wahlgesetzes betrauten Juristen Cormenin und Isambert übergaben am 2. März ihre Vorschläge. Die Regierung stand unter einem enormen Zeitdruck. Cormenin verlas seinen Entwurf, aber die Debatte darüber wurde vertagt. Dennoch wurde das allgemeine Wahlrecht unmittelbar danach ausgerufen, denn es ging darum, die Aufständischen zu beschwichtigen und harte Maßnahmen abzufedern: „Die provisorische Regierung dekretiert prinzipiell und einstimmig, daß das Wahlrecht allgemein, direkt und ohne jedweden Zensus sei.“
Die Debatte fand am 4. März um acht Uhr abends im Petit Luxembourg statt: „Herr Cormenin verliest neuerlich (...). Alle Paragraphen dieses Entwurfes werden schließlich mit kleinen Änderungen angenommen (...)“, lautet das Protokoll. Um durch erste Informationen die Bevölkerung zu beschwichtigen, beschloß man, eine Notiz in Le Moniteur zu veröffentlichen. Diese besagte, daß es sich um eine verfassunggebende Versammlung handle und die gesamte Bevölkerung wahlberechtigt sei. Es gebe 900 Volksvertreter, das aktive Wahlalter liege bei 21 Jahren, das passive bei 25, die Wahl erfolge geheim und sei auf den 9. April festgesetzt. Die Nationalversammlung werde am 29. April erstmals tagen.
Am 5. März nahm die provisorische Regierung nach „einer letzten Lesung der Vorlage“ das Dekret an. War das ganze die Kopfgeburt einiger Juristen? Vom Arbeitsentwurf blieb nicht mehr viel übrig: nur die Paragraphen über das ungehinderte, an keine Bedingung gebundene passive und aktive Wahlrecht aller Bürger. Zensus und Käufe von Wahlmandaten – Symbole des gestürzten Regimes – waren abgeschafft. Der übrige Text wurde präzisiert, umgearbeitet, korrigiert. Wie viele Vertreter sollte es geben? Man simulierte im Geiste die Auswirkungen aller Entscheidungen. Wer durfte wählen? Würden die eingefahrenen lokalen Strukturen nicht die Wahlergebnisse beeinflussen? Um die Einflüsse örtlicher, respektive kirchlicher Honoratioren gering zu halten, entschied man, die Wahlen in den Kantonshauptstädten durchführen zu lassen, und änderte den Wahlmodus: Anstelle einer Direktwahl führte die Regierung eine nach Departements organisierte Listenwahl ein. (Selbstverständlich wurden damals noch nicht die gleichen Ausdrücke verwendet.)
Hinter verschlossenen Türen wurde beraten, wie man die Universalität des Wahlrechts konkret definieren könnte. Dabei ging es zuallererst darum, ob man das Wahlrecht auch solchen Personen gewähren durfte, die sich in gesellschaftlich abhängiger Stellung befanden. Soll das Heer wählen dürfen? Nein, denn wenn jeder Soldat sich zur Wahl in seine Gemeinde beziehungsweise sein Kanton begäbe, würde die Armee aufgelöst, was einer Gefahr für die nationale Sicherheit gleichkäme. Sollen auch die Dienstboten das Wahlrecht erhalten? Ja. Die Antwort fiel also differenziert aus. Tatsächlich wurden dann nicht einmal die Militärs ausgeschlossen. Ein kühnes Unterfangen.
„Hat man jemals schon so etwas gesehen? In welchem Land sind sogar die Dienstboten, die Armen, die Soldaten wahlberechtigt? Gestehen Sie, daß man sich dergleichen bisher nicht einmal im Traume imaginierte.“ Hat Cormenin diese Worte tatsächlich gesprochen? Tocqueville, der die Demokratie als zwangsläufig erachtete, hat die Worte überliefert, um Cormenin der Verantwortungslosigkeit zu bezichtigen. Mit dieser Haltung stand er mitnichten alleine, denn in seiner Schicht fürchtete man sich vor den ungebildeten und ungehobelten Volksmassen.
Einige Revolutionsvertreter waren aus nachgerade entgegengesetzten Gründen besorgt. Würden nicht gerade die abhängigen Bevölkerungsschichten den Notablen aus den Lagern der Legitimisten und Orléanisten ihre Stimme geben? Folglich kämpfte die republikanische Linke für eine Verschiebung der Wahlen, die schließlich nicht am 9. April, sondern am 23. und 24. stattfanden. Das war wenig Zeit, wollte man die Landbevölkerung mobilisieren. Innenminister Alexandre Ledru-Rollin übertrug den Departements- Kommissaren die Aufgabe, die Wähler aufzuklären, und auch die Lehrer sowie Missionare, die sich mehr durch Eifer als durch Geschick auszeichneten, wurden aufgefordert, auf diesem Feld ihren kämpferischen Beitrag zu leisten.
Dem Innenminister kam die Verschiebung der Wahlen aus einem anderen Grunde gelegen. Da die Wählerschaft mit einem Schlag von 246000 auf über 9 Millionen anstieg, fürchtete er, daß ihm die Lage entgleiten könnte: Wie sollte man diese im ganzen Lande in Bewegung gesetzten Massen in geordnete Bahnen lenken? Würde die politische Situation nicht jede Menge Gefühlsausbrüche und Ausschreitungen provozieren? Niemand, nicht einmal die entschiedensten Befürworter des allgemeinen Wahlrechts, vermochte sich vorzustellen, daß ein dermaßen gigantisches Unternehmen in der für ein emanzipiertes Volk sich geziemenden Ruhe und Würde stattfinden könnte. Ja, die Feinde der Republik hegten gar heimliche Hoffnungen, daß dieser erste Akt der nationalen Souveränität sich als eine Gelegenheit der Unruhestiftung erweisen würde.
Das Innenministerium erließ zur Durchführung der Wahlen mehrere Verordnungen an die lokalen Behörden, in denen alle technischen Details der Wahlprozedur – Wählerlisten, Stimmzettel, Urnen, Protokolle – durchgespielt wurden, mit allen damit verbundenen Maßnahmen und Modellen, bis hin zur konkreten Anleitung, wie der Wahlakt abzulaufen habe. Da, wie man feststellte, die Hälfte der männlichen Bevölkerung Analphabeten waren, wurden neben den handgeschriebenen auch gedruckte Stimmzettel zugelassen. Im übrigen sorgte man sich gar um die Ausstattung der Wahllokale – Beleuchtung, Eingang und Ausgang –, um einen reibungslosen Ablauf der Prozedur zu gewährleisten.
Feierlicher Wahlgang am Ostersonntag
OBWOHL für die Wahl zwei Tage vorgesehen waren – und bei Bedarf noch ein dritter – genügte beinahe ein einziger. Das Unternehmen war ein voller Erfolg. Einige Jahre später erinnerte sich Marie d'Agoult: „All die lebhaften Befürchtungen, zu denen dieser Tag Anlaß gegeben hatte, erwiesen sich als gegenstandslos.“ Besonders beeindruckte die Zeitgenossen, daß diese große Bewegung von Millionen Menschen sich vielfach in eine Art patriotische Feierlichkeit verwandelte. Am 23. April, dem Ostersonntag, machten sich die Wähler in geschlossenem Zug – Pfarrer und Bürgermeister an der Spitze – auf den Weg in die Kantonshauptstadt (siehe den Bericht von Tocqueville). Eine Gemeinde nach der anderen wählte, wobei die entferntestgelegenen den Anfang machten. Nur vereinzelt kam es zu Zwischenfällen. Zur Vorsicht hatte man einige Männer in den Dörfern zurückgelassen, die erst am Montag zur Wahl gingen. Viele Würdenträger hatten für die Aufrechterhaltung der Ordnung gesorgt, und es stellte sich heraus, daß dies keineswegs uneigennützig geschah: die nach einer Woche ausgezählten Resultate bestätigten die Befürchtung: drei Viertel der neu gewählten Abgeordneten gehörten zu den wenigen Auserwählten, die bereits unter der Zensusmonarchie gewählt werden konnten.
Der große Erfolg, sprich die massive Beteiligung der Bevölkerung, wurde als Bestätigung gewertet – das allgemeine Wahlrecht schien definitiv durchgesetzt. Und gerade die Mängel verstärkten diesen Eindruck. Das anfänglich gar nicht so allgemeine Wahlrecht, das erst durch die Zulassung der Frauen und durch die Verbreitung in den meisten Ländern der Erde ein wirklich allgemeines geworden ist, unterschied sich noch deutlich von dem, was wir heute darunter verstehen: Zunächst waren die Wahlen immer noch sehr von lokalen Solidaritäten und gesellschaftlichen Abhängigkeiten dominiert, und es sollte noch einige Jahrzehnte dauern, bevor im Wahlakt individuelle politische Meinungen zum Tragen kommen konnten.
Wie die schwache Beteiligung an den Wahlen im Sommer 1848 zeigte, war der schnelle Erfolg des allgemeinen Stimmrechts gleichwohl zunächst nicht unumstritten. Die Hoffnungen zudem, daß durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts die Gewalt nun endgültig der Geschichte angehören würde, erwies sich als ebenso illusionär. Denn wer beugt sich schon bereitwillig dem Urteil der Wähler, wenn dies die eigenen Lebensinteressen bedroht? Die Eliten akzeptierten lange Zeit das Gesetz der Mehrheit nur, wenn es ihnen recht gab. 1850 überarbeitete eine konservative Nationalversammlung das Wahlgesetz und schloß die als gefährlich geltenden Bevölkerungsschichten vom Wahlrecht aus.
Die Linke im Gegenzug kritisierte jene Institution, die – wie es aussah – den Mächtigen Recht gab und kein Gegengewicht zu den akkumulierten Machtbefugnissen darstellte. Die Hoffnung, daß es mit den Revolutionen, den Barrikaden, den Toten jetzt ein Ende haben würde, da das Volk endlich seine Souveränität erlangt hatte, wurden übrigens gleich in den Junitagen des Jahres 1848 zunichte gemacht, als die Arbeiter gegen die Auflösung der Nationalen Werkstätten revoltierten. Wieder gab es Barrikaden, Tote und Unterdrückung. Mußte man sich widerstandslos dem Gesetz der Mehrheit beugen? Wie sagte doch ein Arbeiter zu einem Volksvertreter, der begütigend auf ihn einredete: „Man sieht, daß Sie nie gehungert haben!“
Der Erfolg des allgemeinen Wahlrechts bestand darin, daß es die Bürger an eine Institution bindet, welche nicht einfach vorhandene Machtverhältnisse abbildet, sondern Männern, später auch Frauen, eine Würde verleiht, die ihnen ihr sozialer Status vorenthält. Wenn dieses Wahlrecht zur Befriedung der Politik beigetragen hat, dann jedoch nur langsam: zum einen spielten gesellschaftliche Veränderungen ein Rolle, und zum anderen verringerten sich die in das Wahlrecht gesetzten Erwartungen – und damit auch die Befürchtungen. Niemand stellt mehr die Legitimität der gewählten Volksvertreter in Frage, wohl aber ihre Entscheidungen. Berufungsinstanzen gleich, haben sich andere Formen politischer Aktionen und Kämpfe herausgebildet, um jene Interessen zu verteidigen, an denen man trotz des im allgemeinen Wahlrecht artikulierten Mehrheitswillens unbedingt festhalten zu müssen glaubt.
Das allgemeine Wahlrecht hat sich in dem Maße etabliert, wie die Vorhaben weniger ehrgeizig und damit weniger bedrohlich geworden sind. Die Wahlversprechen rechtfertigen sich heutzutage weniger durch politisch prägenden Willen als durch ökonomische Notwendigkeiten. Bei den Wählern mag so der Eindruck entstehen, daß sie in den alternativlosen Mehrparteienwahlen einen Teil ihrer Souveränität verloren haben oder diese gar längst an anonyme und allmächtige Marktmechanismen beziehungsweise an Globalisierungszwänge verloren haben. Zwar können wir uns mit gutem Grund freuen, daß die Katastrophenvorstellungen des Anfangs lange hinter uns liegen, aber sind sie definitiv Vergangenheit? Jedenfalls haben wir guten Grund, die politische Resignation zu fürchten, die man allenthalben spürt.1
Das allgemeine Wahlrecht – das damals als „die wahre Revolution“ (Marie d'Agoult) gefeiert wurde, – schien anfangs fragil: „Wird es Bestand haben?“ fragte Charles de Rémusat. „Das ist vielleicht die große Frage des Jahrhunderts. Wenn es Bestand hat, wird man seiner Wegbereiter immer gedenken, im Haß und in der Liebe.“ Er sollte sich irren. Gedenkfeiern widmen sich bekanntlich weniger den historischen Tatsachen und Personen als vielmehr den jeweiligen aktuellen politischen Befindlichkeiten der Feiernden, wie man etwa an dem 100. Jahrestag der Dreyfus-Affäre oder den Vichy-Gedenkfeiern beobachten kann. Das Gedenken gibt uns zumeist weniger Auskunft über die Vergangenheit als über uns selbst, denn die Geschichte ist vielfach lediglich der Austragungsort gegenwärtiger Kämpfe.
Vielleicht ist es gerade die Tatsache, daß das allgemeine Wahlrecht noch immer selbstverständlicher Teil unseres Lebens ist, die bewirkt, daß wir uns seiner Geschichte und seines Ursprungs nicht erinnern, ja nicht zu erinnern brauchen. Wenn man den Ursprung hervorhebt und die Entwicklung in einzelnen Schritten nachverfolgt – nimmt man dem Begriff im Hier und Heute dann nicht seinen Zauber, und würde es nicht vielleicht bedeuten, daß wir das Ende seiner Geschichte bereits erreicht haben?
dt. Andrea Marenzeller
* Professor für Politikwissenschaften an der Universität Paris-X-Nanterre, Autor von „Le vote et la vertu. Comment les Français sont devenus électeurs“, Paris (Presses de la Fondation nationale des sciences politiques) 1992.
Fußnote: 1 Vgl. das Dossier „Demokratie im Abseits“, Le Monde diplomatique, Mai 1997.