17.04.1998

Schottlands stille Unabhängigkeit

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Schottlands stille Unabhängigkeit

SCHOTTLAND tritt derzeit aus Englands Schatten heraus. Am 11. September 1997, fast drei Jahrhunderte nach der Abschaffung des letzten schottischen Parlaments, erklärte sich die schottische Nation mit klarer Mehrheit dafür, die politische Entscheidungskompetenz nach Edinburgh zurückzuholen. Das Schottland-Gesetz wird voraussichtlich im Sommer 1998 verabschiedet, nachdem es alle Instanzen in Westminster durchlaufen hat. Schottlands neuer politischer Status könnte der erste Schritt zur Herausbildung eines eigenen Staates sein.

Von PHILIP SCHLESINGER *

Mit dem Wahlsieg von Tony Blair am 1. Mai 1997 kam die Selbstverwaltung für Schottland und Wales wieder auf die politische Tagesordnung, nachdem vor nahezu zwanzig Jahren der Sieg der Konservativen von 1979 den letzten Versuch einer Dezentralisierung der Macht beiseite gefegt hatte. Achtzehn Jahre lang blieben die regierenden Konservativen, erst unter Margaret Thatcher und dann unter John Major, die unerbittlichen Gegner einer Selbstverwaltung in Schottland und Wales.

Die Verfassungsreform ist ein Grundstein des „Modernisierungsprogramms“ in dieser ersten Legislaturperiode der „New Labour“. Die Regierung hat dabei nicht nur eigene Parlamente für Schottland und Wales geschaffen, sie hat auch ein Gesetz zur Informationsfreiheit eingebracht und ist dabei, die europäische Menschenrechtskonvention in das Rechtssystem des Vereinigten Königreiches einzuarbeiten; der erbliche Anspruch auf einen Sitz im Oberhaus wird abgeschafft, und London wird wieder einen Bürgermeister bekommen. Befürworter einer Verfassungsreform hoffen, daß all dies schlußendlich auf eine „demokratische“ Revolution hinauslaufen wird.1 Manche Beobachter hingegen glauben, daß die weitreichende Macht, die Schottland übertragen wird, sich nicht so leicht wird eindämmen lassen und daß am Ende gar der britische Staat auseinanderbrechen könnte.2

Die Schotten erhalten ein voll handlungsfähiges Parlament, die Waliser hingegen nur eine Abgeordnetenversammlung ohne legislative Befugnisse. Vorläufig läßt sich keine Absicht erkennen, auch in England regionale Abgeordnetenversammlungen zu schaffen. Damit wird das schottische Parlament, das 1999 gewählt werden soll, ein außerordentlich mächtiges Gegengewicht zu Westminster bilden und für 5,1 Millionen Schotten den bedeutenden symbolischen Mittelpunkt darstellen, auf den sich ihre nationalen Ambitionen orientieren.

Nach dem Unionsvertrag von 1707 (das Jahr, in dem das letzte schottische Parlament aufgelöst wurde) behielt das Land sein eigenes Rechts- und Schulsystem und seine eigene Kirche. Diese drei Elemente haben im Laufe der Zeit unterschiedlich stark dazu beigetragen, daß sich eine klar umrissene nationale Kultur und Identität herausbilden konnte. Seit 1886 verfügt das Gebilde der nationalen Institutionen über eine territoriale Dimension politischer und administrativer Macht in Gestalt des Scottish Office mit Sitz in Edinburgh. Dieses Ministerium wird vom Minister für Schottische Angelegenheiten geführt, der dem britischen Kabinett angehört und dem Unterhaus in Westminster untersteht.

Schon seit langem wird die Notwendigkeit eines schottischen Parlaments auch damit begründet, daß die demokratische Kontrolle über das Scottish Office in Schottland selbst ausgeübt werden müsse.3 Weil die Schotten über etliche Attribute eines Staates verfügen, haben diese institutionellen Besonderheiten maßgeblich dazu beigetragen, daß sie eine doppelte Identität entwickeln konnten: Sie sind der Nationalität nach schottisch, aber der Staatsbürgerschaft nach britisch. Jüngste Erhebungen zeigen, daß die schottische Identität über die britische zunehmend die Oberhand gewinnt.4

Im Juli 1997 legte die Regierung unter Tony Blair ihre Denkschrift „Scotland's Parliament“ vor. Der Hauptautor Donald Dewar, der seit Jahren als Vertreter der Devolution (der englische Begriff für Dezentralisierung) bekannte Minister für Schottische Angelegenheiten, konnte damit einen verhaltenen Triumph feiern.5 Auf die Vorschläge der Regierung folgte am 11. September 1997 ein Referendum, mit dem die Wähler zwei Fragen zu entscheiden hatten: Soll es ein schottisches Parlament geben, und soll dieses Parlament die Macht haben, einzelne Steuersätze zu verändern?

Da die Konservativen im Mai 1997 alle Sitze in Schottland verloren hatten, gab es weder in London noch in Schottland eine nennenswerte Opposition, die den zentralistischen Status quo befürwortete. Über schottische Angelegenheiten, die in Edinburgh verwaltet werden, in London entscheiden zu wollen, war eine unhaltbare Position geworden. Die Koalition für eine Veränderung war nicht mehr zu stoppen: In der Volksabstimmungskampagne im August und September 1997 ergab sich erstmals ein Bündnis zwischen Labour und Liberaldemokraten (den wichtigsten Prodevolutionsparteien) und der Schottischen Nationalpartei (SNP), die für die Unabhängigkeit eintritt. Da nur diejenigen wahlberechtigt waren, die – unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit oder Geburtsort – in Schottland ansässig waren, wurde Schottland mit dieser Volksabstimmung implizit als Bürgernation definiert. Schotten außerhalb des Landes hatten kein Wahlrecht.

Eine klare Mehrheit stimmte für die politische Autonomie. Bei einer Wahlbeteiligung von 60,4 Prozent befürworteten 74,3 Prozent die Einrichtung eines schottischen Parlaments, während 63,5 Prozent dafür waren, daß die vorgeschlagene Legislative zur Festsetzung des Steuersatzes befugt sein sollte. Die Abstimmung im September 1997 war eine Umkehrung der Ergebnissen des vorherigen Referendums aus dem Jahre 1979.

Legitimiert durch das Volk, nicht durch die Krone

SOWOHL die Denkschrift zur Devolution als auch das anschließende Schottland-Statut, dessen Entwurf im Dezember 1997 veröffentlicht wurde und derzeit im Parlament von Westminster verhandelt wird, gehen zum großen Teil auf die mühevolle Kleinarbeit der Schottischen Verfassungskonferenz zurück. Dieses Gremium, das jenseits der Grenzen Schottlands kaum bekannt ist, tagte erstmals 1989. Seitdem ist es ein wichtiges Werkzeug für die Entwicklung eines gemeinschaftlichen Konzeptes von Devolution. Der krasse Zentralismus unter Margaret Thatcher hatte zu dem verbreiteten Gefühl geführt, daß Schottland durch das politische System von Westminster nicht ausreichend vertreten werde, und so die Verfassungskonferenz motiviert. Die Major-Regierung tat nichts gegen die vorherrschende Politik, beschnitt allerdings einige besonders üble Auswüchse des Zentralismus.

Die Verfassungskonferenz brachte die in Schottland dominierende Labour-Partei mit den Demokraten zusammen, umfaßte aber auch kleinere Parteien und Vertreter eines breiten Interessenspektrums, wie zum Beispiel die Gewerkschaften, die Frauenbewegung, lokale Verwaltungen und die Kirchen. Ihr politisches Anliegen war die Wiederherstellung einer Selbstverwaltung für Schottland innerhalb des Vereinigten Königreiches. Die devolutionsfeindlichen Konservativen beteiligten sich ebensowenig an der Konferenz wie die unabhängigkeitsorientierten schottischen Nationalisten von der SNP.6

Um ihre Opposition gegen den verfassungsmäßigen Status quo zu legitimieren, berief sich die Konferenz auf den Willen der schottischen Nation. Die Tatsache, daß die Konferenz „das Volk“ und nicht die durch das Parlament in Westminster repräsentierte Krone als Träger der Souveränität ansah, bedeutete eine scharfe Abgrenzung zwischen schottischem und englischem Verfassungsdenken. Um ihre Auffassung intellektuell zu unterfüttern, verwies die Konferenz auch auf die Dezentralisierungstendenzen in der EU. Die Anhänger der Selbstverwaltung berufen sich oft auf die deutschen Länder und die autonomen Regionen und Nationen in Spanien, um eine britische Anpassung an den europäischen Trend zur Subsidiarität zu fördern. Die Konferenz betonte die Bedeutung der Zivilgesellschaft, indem sie sich zum einen auf das Erbe der schottischen Aufklärung berief und zum anderen auf das Vorbild der mittel- und osteuropäischen Bürgerbewegungen. Zu wichtigen Förderern wurden auch maßgebliche und intellektuell führende Zeitungen ebenso wie schottische Rundfunk- und Fernsehjournalisten, die stets engagiert über die Selbstverwaltungsbewegung berichteten.

Über einen Zeitraum von acht Jahren gelang es der Schottischen Konferenz, einen bemerkenswert breiten politischen Konsens zu bewahren. Ihre Grundsatzpapiere und die sorgfältige Detailarbeit ihrer Ausschüsse boten die Grundlage sowohl für die 1997 erschienene Denkschrift „Scotland's Parliament“, als auch für die anschließende historische Scotland Bill mit ihren weitreichenden Regelungen.7

Mit der Devolution erlangt Schottland auf vielen wesentlichen Gebieten eine Gesetzgebungskompetenz. Ausgenommen sind die Bereiche, die Westminster vorbehalten sind, also Verfassung, Finanzen des gesamten Vereinigten Königreiches, Außenpolitik, Verteidigung, Sozialversicherung und Staatsbürgerschaft. Die Befugnisse Schottlands erstrecken sich auf so wichtige Bereiche wie Gesundheit, Erziehung, Regionalverwaltung, wirtschaftliche Entwicklung und Transport, Umwelt, Land- und Forstwirtschaft plus Fischerei, Recht und Innenpolitik sowie Sport und Künste. Zusätzlich ist Schottland befugt, bei der Einkommensteuer bis zu 3 Prozent vom Basissteuersatz abzuweichen.

Die ersten Parlamentswahlen werden 1999 stattfinden. Das Parlament wird 129 Sitze haben, von denen 73 nach dem herkömmlichen Mehrheitswahlrecht in den bestehenden Wahlkreisen des Westminster-Parlaments gewählt werden. Hinzu kommen 56 Kandidaten, die nach dem Verhältniswahlrecht, aber mittels Präferenzstimmen von Parteilisten gewählt werden, und zwar jeweils sieben in den acht Wahlkreisen des Europaparlaments.

Während im diesem Sommer die Verabschiedung des Schottland-Gesetzes bevorsteht, macht nördlich der englisch- schottischen Grenze die Herausbildung einer neuen politischen Kultur rasche Fortschritte. Das Scottish Office innerhalb der Labour-Regierung will offenbar ein volksnahes Parlament schaffen. Für Donald Dewar, Minister für Schottische Angelegenheiten, wie für Devolutionsminister Henry McLeish heißt der Schlüsselbegriff „accessibility“ (etwa: Bürgernähe). Die künftigen Praktiken des Edinburger Parlaments, das in Holyrood, neben dem königlichen Palast, beheimatet sein wird, sind damit in eindeutigem Gegensatz zum Westminster-Modell definiert.

Der Neubeginn zeigt sich auch in der deutlichen Tendenz zur Einführung eines Verhältniswahlrechts, in dem erkennbaren Bestreben der großen Parteien, etwa gleich viel Frauen und Männer ins Parlament von Holyrood zu entsenden, und in dem Wunsch, in den parlamentarischen Ausschüssen einen Konsens- und nicht etwa einen Konfrontationsstil zu pflegen. All das könnte dazu beitragen, daß sich die politische Kultur in Schottland in formaler wie atmosphärischer Hinsicht ganz eigenständig entwickelt. In solchen programmatischen Zügen wirken noch immer die Impulse der Verfassungskonferenz nach. Deutlich sichtbar ist auch das Bestreben, das in Westminster übliche System politischer Untersuchungsberichte zu überwinden, das einem inzestuösen Lobbyismus frönt. Und mit dem neugegründeten Verband der schottischen Parlamentskorrespondenten wird diskutiert, wie man in der Praxis eine größere Offenheit im Umgang mit den Medien erreichen kann. Das Scottish Office überlegt derzeit, wie der Öffentlichkeit mit Hilfe von Kabel- und Digitaltechnologien ein besserer Zugang zum Parlament ermöglicht werden kann und wie Interessengruppen und die allgemeine Öffentlichkeit dazu gebracht werden können, das geplante neue Gebäude der Legislative zu nutzen. Ein Sonderausschuß, zu dem auch parteilich ungebundene Verfassungsexperten gehören, entwirft zur Zeit einen parlamentarischen Verhaltenskodex, der sich deutlich von dem herrschenden Traditionalismus und der muffigen Förmlichkeit des Westminster-Parlaments unterscheidet.

Ab 1999 werden in Holyrood vier Parteien vertreten sein. Die Labour-Partei wird höchstwahrscheinlich die größte Gruppe bilden. Die Liberaldemokraten sind mögliche Koalitionspartner, während die Schottische Nationalpartei die Opposition bilden dürfte. Für die schottischen Konservativen werden die Wahlen im nächsten Jahr die erste Chance zur Rehabilitierung und zu einem Neuanfang bieten. Jede Partei wird sich um eine möglichst authentisch-schottische populäre Politik bemühen. Und in dem Maße, in dem spezifisch schottische Probleme in den Mittelpunkt rücken, könnten sich neuartige politische Bündnisse ergeben, die sich deutlich von den Konstellationen in Westminster unterscheiden.

Die neue Bedeutung von Edinburgh als politischer Hauptstadt schafft bereits jetzt einen Marktplatz für politische und lobbyistische Beratungsunternehmen, die sich auf ihre neuen Chancen stürzen. Geplant ist die Gründung eines Verbands der Berufslobbyisten am schottischen Parlament. Die beiden großen nationalen Sender, BBC Scotland und Scottish Television, planen eine Parlaments- und Nachrichtenberichterstattung, die den neuen politischen Themenschwerpunkten entspricht. Die Zeitungen der schottischen Medienhauptstadt Glasgow richten große Nachrichtenbüros in Edinburgh ein. Von den Londoner Medien hat Channel 4 Television im Gefolge der Devolution ein neues Büro in Glasgow eröffnet. Der Telekommunikationsriese BT setzt offenbar auf einen Zugewinn an Glaubwürdigkeit und darauf, daß ihren Informationtechnologien bei der Förderung öffentlicher Wählerbeteiligung ein wesentlicher Part zukommen könnte.

Die fixe Idee von New Labour, „britisch“ erneut zu einem „Markenzeichen“ zu machen, findet im Norden ihren bescheidenen Ausdruck in der gezielten Vermarktung des Begriffes „Schottland“.8 Die offizielle Körperschaft „Scotland the Brand“ (Schottland als Marke) untersucht gerade, wie sich die Herkunftsbezeichnung „schottisch“ bei der Werbung und äußerlichen Aufmachung schottischer Erzeugnisse ausbeuten ließe. Das offizielle neue Marketingemblem wurde im November 1997 vorgestellt: das Wort „Scotland“, im Stil einer Unterschrift, die vom Blau der Nationalfahne in ein Schottenkaro übergeht. Dieses Logo soll für das gesamte Spektrum schottischer Erzeugnisse und Dienstleistungen – Nahrungsmittel, Getränke, Textilien, finanzielle Dienstleistungen, medizinische Versorgung, Technik und Hochschulen – Anwendung finden und stößt allenthalben auf großen Zuspruch. Im Dezember 1997 hatten schon 150 Unternehmen, darunter auch führende Marken, das Logo übernommen. Damit wird sich zwangsläufig ein gewisser Verbraucher-Nationalismus entwickeln, der allerdings politisch nicht in Richtung Separatismus gehen muß.

Die schottische Devolution bedeutet mit Sicherheit eines: für zentralistische Entscheidungen im Vereinigten Königreich hat das letzte Stündlein geschlagen. Eine Folge ist, daß der britische Staat nunmehr die Belastungen der „asymmetrischen Regierung“ zu spüren bekommen wird.9 Schon ist es zwischen London und Edinburgh zu ersten bezeichnenden Scharmützeln gekommen, die sich auf die Kontrolle von Binneninvestitionen, auf die Höhe der Studiengebühren und – der wichtigste Punkt – auf die künftigen finanziellen Beiträge des Vereinigten Königreiches für Schottland beziehen. Die politische Klasse Großbritanniens wird sowohl in London wie in Edinburgh ziemlich schnell lernen müssen, wie man mit der Devolution politisch sinnvoll umgeht. Schafft sie das nicht, könnte die neue schottische Demokratie eine Dynamik entwickeln, die schrittweise auf einen unabhängigen Staat innerhalb der Europäischen Union zustrebt.

dt. Esther Kinsky

* Professor und Leiter des Media Research Institute (Institut für Medienforschung), University of Stirling, Schottland.

Fußnoten: 1 Anthony Barnett, „This Time: Our Constitutional Revolution“, London (Vintage) 1997. 2 Tom Nairn, „Faces of Nationalism: Janus Revisited“, London (Verso) 1997. 3 Lindsay Paterson, „The Autonomy of Modern Scotland“, Edinburgh University Press 1994. 4 David McCrone, „Unmasking Britannia: The Rise and Fall of British National Identity“, Nations and Nationalism, London, Dezember 1997, S. 579- 596. 5 Scotland Parliament, Cm 3658, Edinburgh, The Stationery Office. 6 Kenyon Wright, „The People Say Yes: The Making of Scotland's Parliament“, Glendaruel (Argyll Publishing) 1997. 7 Scotland Bill. House of Commons, 18. Dezember 1997. http://www.parliament.the-stationery-office.co.uk/pa/cm199798/cmbills/10 4/1997104htm. 8 Mark Leonard, Britain TM, „Renewing our Identity“, London (Demos) 1997. 9 Michael Keating: „What's Wrong with Asymetrical Government?“, Vortrag bei der Arbeitsgruppe Regionalismus des European Consortium For Political Research, Konferenz zur Devolution, Newcastle upon Tyne, Februar 1997.

Le Monde diplomatique vom 17.04.1998, von PHILIP SCHLESINGER