17.04.1998

Alte Rechte ratlos

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Alte Rechte ratlos

Von IGNACIO RAMONET

MIT den Stimmen der Neofaschisten vom Front National (FN) ließen sich am 20. März führende Politiker der Union pour la démocratie française (UDF) in mehreren französischen Regionen zu Präsidenten der Regionalräte wählen. Dieser Vorgang offenbart auf spektakuläre Weise, wie weit der Verfall der Rechten bereits vorangeschritten ist.

Seit Jacques Chirac im Oktober 1995, fünf Monate nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten, sein Wahlprogramm (mit dem zentralen Slogan: „Wider den gesellschaftlichen Bruch“) verratend auf eine ultraliberale Politik umschwenkte, war klar, daß die Rechte gedanklich am Ende ist. Ihr fehlt ein Leitgedanke, eine Ausrichtung, eine Identität. Der Mißerfolg bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Mai 1997 bewirkte einen weiteren Vertrauensschwund, und der Parteiapparat zeigte erste Auflösungserscheinungen; ohne Führung, ohne Organisation und ohne Programm machte sich die Rechte an eine bedeutungsschwer angekündigte „Neugründung“.

Eine solch tiefgehende Verunsicherung war nicht vorherzusehen gewesen. Immer wieder hatte die Rechte hervorgehoben, welchen Schock die drei Schwellenereignisse am Ende der achtziger Jahre (Fall der Berliner Mauer, Golfkrieg, Zusammenbruch der Sowjetunion) der Linken versetzt hatten. Doch man erkannte nicht hinreichend, daß der Abschluß des Kalten Krieges (1948-1989) und der Nachkriegszeit (1945-1991) paradoxerweise auch die Rechte in Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit stürzen mußte. Ist es ein Zufall, daß die italienische Christdemokratie nach 1991 zerbrochen ist? Oder daß die britischen Konservativen 1997 die vernichtendste Niederlage ihrer Geschichte erlitten? Mit Ausnahme von Deutschland und Spanien kann die Rechte heute in keinem EU-Land mehr allein regieren.

Zu diesen Traumata kommen noch die Auswirkungen der drei großen Umwälzungen, die wir derzeit erleben: der technologischen (Computer und Datenverarbeitung), der ökonomischen (Globalisierung und Finanzmärkte) und der soziologischen (massenhafte Ausgrenzung, Identitätskrisen, Umbildung der Machtstrukturen). Diese ganzen Erschütterungen haben auch die Rechte – mag sie die Globalisierung noch so in den Himmel loben – in höchste Verwirrung gestürzt, ja, sie haben sie unfähig gemacht, eine Perspektive zu entwickeln.

Darüber hinaus haben besagte Umbrüche (in Verbindung mit der Wirtschaftskrise und der Wirtschaftspolitik für ein liberales Europa) zu einer Explosion der Einkommensunterschiede und zu sozialen Plagen wie Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut geführt. In der Europäischen Union gibt es 18 Millionen Arbeitslose und 50 Millionen Arme. Da ist es nur natürlich, daß die Gewalt zunimmt, daß sich die Bürger von der Politik, wo sie nur Geschäftemacherei und Korruption am Werk sehen, im Stich gelassen wähnen, und daß eine allgemeine Unsicherheit um sich greift.

Vor diesem wirtschaftlichen Hintergrund und auf diesem durch Angst und Verunsicherung geprägten sozialen Boden vollzieht sich der Aufschwung von Parteien, die aus faschistischen Strömungen erwachsen sind. In Österreich erreichten die Freiheitlichen des Jörg Haider 22 Prozent der Wählerstimmen und 41 Parlamentssitze; in Norwegen stieg die Fortschrittspartei von Carl Igar Hagen mit 15 Prozent Stimmenanteil und 25 Parlamentsabgeordneten zur zweitstärkten politischen Kraft auf; in Italien errang die Nationale Allianz von Gianfranco Fini 15,7 Prozent der Stimmen und 53 Parlamentssitze; im belgischen Flandern konnte der Vlaams Blok von Filip Dewinter mit 12,3 Prozent Stimmenanteil 11 Abgeordnete ins Bundesparlament entsenden.

In Frankreich propagiert der Front National von Jean-Marie Le Pen die Blut- und Boden-Ideologie, die Erneuerung der Nation (im ethnischen Sinn des Wortes), die Einführung eines autoritären Regimes (um die Unsicherheit zu bekämpfen, wie sie sagen), die drastische Senkung der Einkommensteuer, die Ausweisung von drei Millionen Ausländern, die Rückkehr der Wirtschaft zum Protektionismus sowie die der Frauen an den Herd. Nach einer Umfrage von 1996 soll „mehr als ein Viertel aller Franzosen die Ideen des Front National gutheißen“1 .

DIESE Partei – die als einzige nicht aus der Résistance hervorgegangen ist, sondern Vichy und die Kollaboration beerbt hat – machte aus ihrem Rassismus, ihrem Ausländerhaß und ihrem Antisemitismus noch nie einen Hehl. Sie verkörpert die Negation der republikanischen Wertvorstellungen schlechthin. Doch anders als die meisten anderen politischen Gruppierungen ist sie eine klassenübergreifende Partei, in der sich Bürger und Proletarier, Kleinunternehmer und Arbeitslose sammeln. Sie scheut nicht die Problemviertel, sondern bietet den dort lebenden, notleidenden Menschen Solidarität und Wärme. Ihre Aktivisten zeigen die gleiche Hingabe und Aufopferung, die früher die militanten Kommunisten ausgezeichnet hat.2 Deshalb gewinnen ihre Kandidaten bei den Wahlen gleichbleibend um die 15 Prozent der Stimmen, und in einigen Regionen (Provence-Alpes-Côte d'Azur, Elsaß) nimmt ihr Einfluß sogar zu.

Das Ganze geht so weit, daß sogar Linke für sie stimmen und immer mehr Aktivisten der bürgerlichen Rechten dem FN beitreten. Nach einschlägigen Untersuchungen entstammt lediglich 1 Prozent der Parteifunktionäre aus der extremen Rechten, 40 Prozent hingegen aus „gaullistischen Bewegungen“3 . Schon suchen bekannte Persönlichkeiten ganz offen die Unterstützung des Front National. Und zwar mit dem Argument (als schlimme Folgeerscheinung der Thesen von François Furet und des „Schwarzbuchs des Kommunismus“ von Stéphane Courtois), die Sozialistische Partei sei mit der KP schließlich auch ein Bündnis eingegangen. „Es ist unmoralischer, die Stimmen der Kommunisten zu akzeptieren, die in Europa Millionen von Menschen umgebracht haben, als die Stimmen des Front National“, meint etwa Michel Poniatowski.4

Genau dieser Gedankengang hat die traditionellen Rechtsparteien in Deutschland Anfang der dreißiger Jahre dazu verleitet, die nationalsozialistische Partei, die sich ihnen in verführerischstem Gewande präsentierte, zu ihrem Bündnispartner zu machen. Wir wissen, was damals aus den Rechtsparteien wurde. Wir wissen auch, was mit der Demokratie geschah.

Fußnoten: 1 Le Monde, 13. April 1996. 2 Vgl. Mark Hunter, „Un Am1ericain au Front. Enquête au sein du FN“, Paris (Stock) 1998. 3 Sofres, „L'État de l'opinion“, Paris (Le Seuil) 1991. 4 Libération, 20. März 1998.

Le Monde diplomatique vom 17.04.1998, von IGNACIO RAMONET