17.04.1998

Der klandestine Idealist

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Der klandestine Idealist

Von URI AVNERY *

DAS erste Bild, das ich vor Augen habe, wenn ich an Henri Curiel denke, läßt mich unwillkürlich lächeln. Es war in der heißen Phase des Algerienkriegs. Ich hatte Henri in einem kleinen Pariser Bistro getroffen, wir unterhielten uns bis spät in die Nacht. Gegen drei Uhr morgens bot er an, mich zu meinem Hotel nahe der Place de l'Etoile zu fahren.

In seinem kleinen verbeulten Auto – ob Ente oder Volkswagen weiß ich nicht mehr – kurvten wir durch die Nacht. Zu jener Zeit glich Paris einer Stadt im Belagerungszustand: Überall vollbesetzte Polizeibusse, mit Sirenen, die das Blut in den Adern gefrieren ließen. Plötzlich tauchte aus einer Seitenstraße an der Place de l'Etoile ein Wagen auf. Um Haaresbreite schrammten wir an einem Unfall vorbei. Curiel meinte nur: „Ein Glück, daß nichts passiert ist. Ich habe das Auto voll mit FLN-Flugblättern.“

In dem Moment war mir das Übermäßige seines Humors noch nicht völlig bewußt. Ein Zusammenstoß hätte die Polizei ins Spiel gebracht, Curiel wäre verhaftet und gefoltert worden, das gleiche Schicksal hätte zweifellos mir geblüht. Er aber schien völlig gelassen. Es war sein tägliches Geschäft.

Henri Curiel war ein einzigartiger Mensch. Als ich von seiner Ermordung erfuhr, fiel mir Hamlet ein: „He was a man, take him for all in all, I shall not look upon his like again.“1 Wenn man ihn im Café sah, wäre man nie auf solche Gedanken gekommen: Ein magerer, ja asketischer Mann, die Augen hinter dicken Brillengläsern, uneitel bis zur Unscheinbarkeit, eher Literaturprofessor als professioneller Revolutionär. Niemand hätte vermutet, daß dieser Mann in Dutzende von Befreiungskämpfen verwickelt war und daß er von ebenso vielen Geheimdiensten gehaßt und bedroht wurde.

Über seinen Idealismus verlor er kein Wort, er war ihm eine Selbstverständlichkeit. Curiel wurde nie laut, er setzte auf die fast computerlogische Klarheit seiner Intelligenz statt auf demagogische Effekte. Er verlor nie die Hoffnung und gab nie auf. Nach jeder seiner zahllosen Enttäuschungen startete er einfach den nächsten Versuch. Nie ließ er seine Überlegungen von Leidenschaft bestimmen, nie sein Urteil durch persönliche Rücksichten trüben. Er war das fast vollkommene Modell eines für seine politischen Ideale kämpfenden Menschen. Sein persönliches Beispiel lehrte mich Entschlossenheit, Geduld und Beharrlichkeit.

Das erste Mal traf ich ihn Anfang der fünfziger Jahre. Der blutige Algerienkrieg war in vollem Gange. Die Ben-Gurion-Regierung in Israel war mit Frankreich verbündet, das die militant antiarabische Politik Israels mit Waffen und atomarem Know-how honorierte. Gemeinsamer Feind war die arabische Unabhängigkeitsbewegung, vor allem der ägyptische Präsident Gamal Abd el-Nasser. Die Franzosen, die sich weigerten, das Offensichtliche zur Kenntnis zu nehmen, daß hier eine algerische Nation um ihre Unabhängigkeit kämpfte, hielten Nasser für den Anstifter der Unruhen. Daher ihr Schulterschluß mit den Israelis, die ihrerseits das Offensichtliche nicht akzeptieren konnten: daß es eine palästinensische Nation gab, die sich nicht auf den Flüchtlingsstatus reduzieren lassen wollte. Auch Israel sah in Nasser die Wurzel allen Übels. Schimon Peres hat damals, als wichtigster Mitarbeiter von Ben Gurion, von einer Allianz gesprochen, „die sich mehr auf gemeinsame Ideale denn auf wechselseitige Interessen gründet“.

Henri Curiel und ich sahen das genau umgekehrt. Er hielt es damals für seine Pflicht, die algerische Befreiungsbewegung mit allen Mitteln zu unterstützen. Und ich verbreitete als Herausgeber der israelischen Zeitschrift Haolam Hazeh die ketzerische Ansicht, Israel müsse sich in der Region integrieren, in der wir leben, also auch die Unabhängigkeitsbestrebungen arabischer Staaten wie Ägypten, Algerien oder Irak unterstützen. Deshalb und aus Protest gegen das französisch-britisch-israelische Sues-Abenteuer von 1956 hatten wir mit der Semitischen Aktion ein neues politisches Zentrum ins Leben gerufen.

Es war klar, daß Henri Curiel und ich vom ersten Moment an eine gemeinsame Sprache fanden. Als ich ihm von unseren Aktivitäten in Israel erzählte, drängte er mich, in Paris eine Pressekonferenz zu geben, um Europa – und der arabischen Welt – zu zeigen, daß es auch ein anderes, damals noch unbekanntes Israel gebe.

Mir erschien das unrealistisch. Ich kannte in Paris fast keinen Menschen, hatte kein Geld und wußte nicht, wie man so etwas anstellte. Curiel lächelte auf seine schüchterne Art. Nur 48 Stunden später war das Wunder perfekt: Ein Hotelsaal war gemietet, die Einladungen verschickt, und tatsächlich kamen die meisten der mit dem Nahen Osten befaßten Journalisten, um mich zu hören.

Die Idee einer algerisch-israelischen Verbindung erschien völlig utopisch. Die vom israelischen Geheimdienst unter dem Deckmantel der Selbstverteidigung gegründete jüdische Untergrundorganisation in Algerien wurde mehr und mehr zu einem willigen Instrument der Hardliner unter den Kolonisten. Die algerischen Juden hatten schon einige Zeit die französische Staatsbürgerschaft erhalten2 und identifizierten sich vollständig mit dem französischen Regime. Überall auf der Welt unterstützten die Juden Frankreichs kolonialistische Propaganda. Das gleiche taten – außer meiner Zeitschrift – sämtliche Medien in Israel. Trotz allem suchten algerische Freiheitskämpfer Mittel und Wege, die autochthonen Juden für ihre Sache zu gewinnen. Sie hatten die Vision einer laizistischen algerischen Nation, in der Juden, Christen und Muslime gleichermaßen Platz fänden. Sie befürchteten, der Abzug der Kolonisten könnte in einen Massenexodus der Juden münden, den sie verhindern wollten. Und die Unterstützung eines bedeutenden Teils der jüdischen wie israelischen Öffentlichkeit hätte ihnen zweifellos geholfen, ihrer Sache weltweit Sympathie zu verschaffen.

Henri Curiel wollte meine Initiative unterstützen. Er sah darin auch eine Chance für Israel, das damals von allen arabischen Staaten boykottiert wurde, die seine Gründung für illegitim und imperialistisch hielten. Würde Israel den Algeriern die Hilfe bieten, die sie jetzt am dringendsten brauchten, wäre dies ein erster Brückenschlag zur arabischen Welt. Ein unabhängiges Algerien würde eine wichtige Rolle in der Region spielen, und seine Allianz mit Israel könnte alle Araber zu einer veränderten Haltung bringen.

Ich rief das Israelische Komitee für ein freies Algerien ins Leben, dem zahlreiche Intellektuelle angehörten. Als die Algerier durch Curiel erfuhren, daß sich unter den Gründern des Komitees Führer der ehemaligen Untergrundorganisation Lehi3 befanden, ersuchten sie uns um materielle Hilfe: Sie baten um Spezialisten auf dem Gebiet der Sabotagetechnik, die ihre Einheiten in Jugoslawien oder Tunesien ausbilden könnten. Unsere Bemühungen, qualifizierte Exterroristen anzuheuern, blieben aber ohne Erfolg ...

Das gilt auch für unser ganzes Projekt. Zwar gab es engere Kontakte mit der FLN-Führungsspitze, und einige von uns trafen sich mit Angehörigen der provisorischen Regierung, die in der Endphase des Krieges gebildet worden war. Ich selbst wurde sogar vom algerischen UNO-Beobachter zu einem von den arabischen Delegierten organisierten Abend eingeladen. Aber unsere schwache Stimme konnte das idiotische Verhalten unserer Regierung nicht wettmachen, das schier unglaubliche Ausmaße annahm. So stimmte Israel als einziges Land gegen eine Resolution der Vereinten Nationen, in der eine humane Behandlung der algerischen politischen Gefangenen in Frankreich gefordert wurde. Die Machenschaften des rastlosen Schimon Peres, die engstirnige Politik Golda Meirs, die vom jüdischen Flügel der OAS (Organisation armée secrète) in Algerien begangenen Greueltaten – dies alles wog schwerer als unsere Bemühungen.

Henri Curiel wirkte dennoch weiter, etwa mit seinem Beitrag zur Vorbereitung der Geheimkontakte zwischen Israelis und Palästinensern, die man später die Pariser Gespräche nannte. Letzten Endes trug er wesentlich dazu bei, den langen, sehr langen Weg zu wechselseitiger Anerkennung und Versöhnung zu ebnen, der 1993 zum Osloer Abkommen führte.

dt. Christian Hansen

* Journalist in Tel Aviv, Autor von „Mein Freund, der Feind“ (1988); „Wir tragen das Nessos-Gewand. Israel und der Frieden im Nahen Osten“ (1991), beide Bonn (Dietz); „Zwei Völker - zwei Staaten. Gespräch über Israel und Palästina“, Gespräch mit Georg Stein und Uri Avnery, Vorw. von Rudolf Augstein, Heidelberg (Palmyra) 1995.

Fußnoten: 1 „Er war ein Mann; nehmt alles nur in allem; / Ich werde nimmer seinesgleichen sehn.“ 2 Am 24. Oktober 1870 erließ Adolphe Crémieux das nach ihm benannte Dekret, durch das die in Algerien lebenden Juden die französische Staatsbürgerschaft erhielten. 3 Abkürzung für Lohamei Herouth Israel, Kämpfer für die Freiheit Israels, besser bekannt als die Stern-Gruppe. Gegründet durch Dissidenten aus der zionistischen Bewegung, gehörten zu dieser Gruppierung auch Militante aus dem extrem linken Lager.

Le Monde diplomatique vom 17.04.1998, von URI AVNERY