Neutralität ist nicht genug
Von PIERRE SANÉ *
DEN 50. Jahrestag der Menschenrechtserklärung im kommenden Dezember werden die Vereinten Nationen nicht eben triumphal begehen. Gewiß, es gab Fortschritte in der Entwicklung des Rechts, und die Stellung des Individuums als Subjekt des internationalen Rechts wurde gestärkt. Dennoch bieten die achtziger und neunziger Jahre den Regierungen keinen Anlaß, sich zu rühmen: Die Niederschlagung der Revolte auf dem Tienanmen-Platz, der Völkermord in Bosnien und Ruanda, die Massaker an Gefängnisinsassen in Brasilien und Venezuela, Folter und „Verschwinden“ von Personen in Algerien, die Ermordung von Menschenrechtsaktivisten in Kolumbien – in all diesen Fällen war die internationale Gemeinschaft nicht in der Lage, den Verpflichtungen nachzukommen, zu denen sie sich 1948 feierlich bekannt hat. In einer Welt, die in raschem Wandel begriffen ist, stellen solche Tragödien und Mißerfolge auch eine Herausforderung für die regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) dar.
Die Entwicklung der internationalen Rechtsprechung in puncto Menschenrechte war geprägt von einer künstlichen und irreführenden Trennung zwischen Bürgerrechten und politischen Rechten einerseits und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten andererseits – sie entsprach damit der Polarisierung der Welt durch den Kalten Krieg. So wollte die Organisation amnesty international bei ihrer Gründung 1961 dem zentralen Ziel der Stärkung der Menschenrechte dienen, indem sie eine internationale Kampagne mit einer einzigen Forderung einleitete: die unverzügliche Freilassung aller Gefangenen, die aufgrund ihrer persönlichen Überzeugungen inhaftiert worden waren.
Den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten haben die Vereinten Nationen und die sie konstituierenden Organe weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Sowohl die Normen für diesen Bereich wie auch die Mechanismen zu ihrer Durchsetzung sind wesentlich geringer entwickelt. Mittlerweile ist es sehr wichtig geworden, etwas gegen das Ungleichgewicht zwischen den wirtschaftlichen und den übrigen Rechten der Person zu tun, wie sich schon daran zeigt, daß es in der Diskussion über Grundrechte zunehmend um die Wirtschaftssphäre geht. Wenn die Regierungen keine Maßnahmen zum Schutz ihrer Bürger vor den negativen Auswirkungen der Globalisierung treffen, entsteht die Notwendigkeit, für die wirtschaftlichen Rechte einzutreten und ihnen Geltung zu verschaffen. Zugleich muß man dafür Sorge tragen, daß der Zusammenhang dieser Rechte mit anderen individuellen Freiheiten nicht mißachtet wird, etwa wenn Menschen im Namen des wirtschaftlichen Fortschritts bedrängt, gefoltert oder gar getötet werden.1
Für die Regierungen bedeutet das unaufhaltsame Fortschreiten der Globalisierung häufig den Verlust ihres politischen Machtmonopols. Gerade in jenen Bereichen, die eine wichtige Rolle für die Beachtung der Menschenrechte spielen, geraten sie immer mehr unter den Einfluß von Industrie- und Handelsunternehmen und von internationalen Finanzinstitutionen. Zahlreiche Aufgabenbereiche, für die bisher ausschließlich der Staat zuständig war, sind privatisiert worden, etwa die Gefängnisse. Daher besteht heute eine große Herausforderung darin, die Wirtschaftsunternehmen zu motivieren, sich an der Förderung der Menschenrechte aktiv zu beteiligen.
Zweifellos hat die Umstrukturierung der Weltwirtschaft den Einfluß der internationalen Finanzinstitutionen und der multinationalen Unternehmen gestärkt. Die Erklärung der Menschenrechte appelliert an „alle Individuen und Organe der Gesellschaft“, ihren Beitrag zu deren Einhaltung zu leisten. Unternehmen und Finanzinstitutionen sind Organe der Gesellschaft und müssen daher im Rahmen ihrer Aktivitäten gewährleisten, daß ihre Angestellten und Kunden eine Reihe von Rechten geltend machen können: Recht auf Gleichbehandlung, Recht auf Leben und auf Sicherheit, das Recht, nicht als Sklave behandelt zu werden, das Recht auf Organisationsfreiheit (einschließlich des Rechts, Gewerkschaften zu gründen) und das Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen.
Zudem sind die Unternehmen verpflichtet, in den Ländern, in denen sie tätig sind, ihren Einfluß geltend zu machen, um Menschenrechtsverletzungen, sei es seitens der Regierung oder seitens bewaffneter oppositioneller Gruppen, Einhalt zu gebieten. Es kann nicht als neutrale Haltung gelten, wenn mächtige Repräsentanten von Industrie- oder Handelsunternehmen zum Unrecht schweigen. Als 1995 weltweit Kampagnen geführt wurden, um die Hinrichtung von Ken Saro- Wiwa und acht mitangeklagten Ogoni in Nigeria zu verhindern, hat amnesty international den Ölmulti Shell, einen der größten Investoren in diesem Land, zum Eingreifen aufgefordert. Die Gesellschaft lehnte dies mit der Begründung ab, es stehe ihr nicht zu, sich in die nigerianische Politik einzumischen. Gesellschaften wie Shell versuchen aber regelmäßig, auf die Steuer- und Handelspolitik, auf die Arbeitsgesetzgebung und auf Umweltverordnungen bestimmter Staaten Einfluß zu nehmen.2 Amnesty international hat dazu eine Reihe von Grundsatzforderungen aufgestellt, die sich auf das internationale Recht und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stützen – eine Art „Checkliste“, die schließlich Teil des Verhaltenskodex der Unternehmen werden soll.L3
Wirtschafts- und Finanzinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Welthandelsorganisation (WTO) sollten prüfen, ob ihre politischen Zielsetzungen und ihre Projekte die Grundrechte berücksichtigen, sie sollten die Institutionen der Zivilgesellschaft im Kampf gegen den Machtmißbrauch der Herrschenden unterstützen und öffentlich gegen Menschenrechtsverletzungen auftreten.
Als ebenso schwierig erweist sich die Überwindung eines Problems, das aus der internationalen Gesetzgebung herrührt: Sie unterscheidet zwischen der „öffentlichen Sphäre“ der Gesellschaft, das heißt den politischen, rechtlichen und sozialen Institutionen, und der „Privatsphäre“, also dem häuslichen Bereich und der Familie. Ihr Interesse gilt vornehmlich der ersten Sphäre, in der vor allem Männer agieren, und sie vernachlässigt die zweite, in die traditionell die Frauen verbannt sind. Die Rechtsnormen zum Schutz des Privatlebens und der Familie, die sowohl im internationalen als auch im nationalen Recht existieren, haben diese künstliche Trennung noch verstärkt – mit der Folge, daß der Staat nur für den Machtmißbrauch zur Verantwortung gezogen werden kann, der in der öffentlichen Sphäre begangen wird. So finden Verletzungen der Rechte der Frauen nur beschränkte Aufmerksamkeit. Die herrschende Auslegung des Folterverbots etwa hat von der Gewalt gegenüber Frauen in der Familie und in der Gemeinschaft (zum Beispiel Klitorisbeschneidung) eher abgelenkt.
In vielen Ländern hat sich der Staat seiner Verantwortung entzogen, indem er darauf verwies, der Status der Frau in der Gesellschaft beruhe auf sozialen und kulturellen Traditionen, an denen nicht gerüttelt werden dürfe. Die bürgerlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechte der Frauen wurden mit Füßen getreten, im Namen „kultureller“ Werte, die auf gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und Ungleichheit beruhen.
Wir können kaum auf eine Welt „frei von Furcht und Not“ hoffen (wie sie uns die Erklärung der Menschenrechte versprochen hat), solange bestimmte Praktiken ungestraft fortbestehen: Gewalt in der Familie, Witwenverbrennung, Klitorisbeschneidung, Kinderarbeit, körperliche Gewalt gegen Minderheiten. In zahlreichen internationalen Regeln, aber auch in der Rechtsprechung wird festgehalten, daß es die Aufgabe der Regierungen ist, diese Formen von Machtmißbrauch, die von Privatpersonen im Schutze ihres Heims oder ihrer Gemeinschaft ausgeübt werden, zu verhindern beziehungsweise zu bestrafen3, da sie sonst mitschuldig werden. Verantwortung auszuweiten bedeutet, sich nicht nur dafür zu interessieren, was die Regierungen zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte unternehmen, sondern auch dafür, was sie in dieser Sache unterlassen.
Eine der größten Herausforderungen besteht darin, die Werte der Menschenrechtserklärung in einer für jede Kultur spezifischen Form auszuformulieren und zu verbreiten, ohne dabei die von ihr proklamierten Ideen abzuschwächen oder ihre universale Geltung einzuschränken. Es wird erforderlich sein, das Wissen über diese Rechte zu vertiefen und sie verständlicher zu machen, indem sie auf die jeweiligen kulturellen, philosophischen und religiösen Traditionen bezogen werden. Die Menschenrechte werden erst dann ihre volle Tragweite und Bedeutung in allen menschlichen Gesellschaften und Kulturen entfalten, wenn sie in der Sprache jeder einzelnen Gemeinschaft formuliert und mit deren spezifischen Wertvorstellungen verbunden sind. Die Universalität muß von der Vielfalt profitieren, sie darf sie nicht ausschließen.
dt. Andrea Marenzeller
* Generalsekretär von amnesty international, London.