Der Vorhang gefallen und alle Fragen offen
Von DOMINIQUE VIDAL
IN Tränen aufgelöst steht Lenin am Eingang zum Paradies. Da kommt Sascha, ein Freund aus Kindertagen. „Wladimir Iljitsch, warum bist du so traurig?“ fragt er. „Der heilige Petrus läßt mich nicht in den Himmel ein.“ Sascha überlegt einen Moment und sagt: „Versteck dich in meinem Sack, dann bringe ich dich hinein.“ Nachdem Petrus nachgesehen hat, ob Sascha auf der Liste der Auserwählten steht, läßt er ihn eintreten. Doch dann stutzt er und fragt: „Was hast du da in deinem Sack?“ Sascha antwortet mit einer Gegenfrage: „Gibt es bei euch einen gewissen Karl Marx?“ Der heilige Petrus schlägt im dicken Adreßbuch des Paradieses nach und bejaht die Frage. Woraufhin Sascha meint: „Dieser Karl Marx hat auf Erden ein ,Kapital' hinterlassen. Ich bringe euch die aufgelaufenen Zinsen.“
Kaum ein Witz dürfte so treffend beschreiben, wie untrennbar das Anliegen des Kommunistischen Manifests mit der Wirklichkeit der „sozialistischen“ Gesellschaften verbunden scheint – ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt. Ob der sowjetische Sozialismus und seine Varianten die Marxschen Ideen nun tatsächlich, wenn auch entstellend, in die Tat umsetzten oder ob sie von Anfang an nichts damit zu tun hatten, ist letztendlich gleichgültig. Denn über mehr als siebzig Jahre wurde dieses Modell, das sich fast alle kommunistischen Parteien lange Zeit zu eigen machten, von den meisten Menschen mit der Idee des Sozialismus schlechthin gleichgesetzt.
Der Zusammenbruch des Kommunismus prägt den Ausgang dieses Jahrhunderts ebenso, wie seine Entstehung den Beginn gekennzeichnet hatte. Allerdings gehen die Meinungen über die Folgen dieses Zusammenbruchs weit auseinander. Während er den einen als uneingeschränkter Sieg der Freiheit gilt, beklagen andere lediglich die negativen Folgeerscheinungen und schrecken nicht davor zurück, die Vergangenheit in rosaroten Tönen auszumalen.
Für die meisten Menschen in den „sozialistischen“ Ländern bedeutete diese Befreiung einen abrupten Übergang in einen wilden Kapitalismus. Meist begann damit eine Zeit schweren wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Rückschritts, obgleich sich gewisse soziale Schichten (und zwar breitere, als man denkt) erstaunlich bereichern konnten. Arbeiter, Lehrer und Forscher, Künstler, Rentner, Frauen, Kinder und Jugendliche – die Liste der Opfer dieser euphemistisch als „Übergang“ bezeichneten Zeit wird von Jahr zu Jahr länger.
Zu den Opfern zählen auch die weltweiten nationalen und/oder sozialen Befreiungsbewegungen. Nachdem sie ihr politisches Gewicht, das ihnen im Ost- West-Konflikt zugekommen war, eingebüßt hatten, verschwand auch „ihre Sache“ von der Weltbühne. Angesichts der weitgehenden Gleichgültigkeit, die ihnen heute entgegengebracht wird, haben sie einen Gutteil ihrer Handlungs- und Einflußmöglichkeiten verloren. Die Palästinenser, Nicaraguaner, Angolaner, Mosambikaner und die Sahrauis können ein schmerzliches Lied davon singen – die Völker des ehemaligen Jugoslawien übrigens auch. Doch der Schaden ist noch größer. Nachdem sich der Westen, mit den USA an der Spitze, seines Hauptfeindes und der mit ihm einhergehenden wirtschaftlichen, ideologischen und militärischen Bedrohung entledigt hatte, fand er sich als alleiniger Herrscher der Welt wieder. Es erscheint folglich plausibel, wenn die Behauptung aufgestellt wird, die Globalisierung habe am 9. November 1989 (mit dem Fall der Berliner Mauer) beziehungsweise im August 1991 (als sich Gorbatschow dem US-amerikanischen Feldzug am Persischen Golf anschloß) oder auch am 8. Dezember 1991 (mit der Auflösung der Sowjetunion) begonnen.
Doch selbst wenn man sich vor Augen führt, welch enorme Auswirkungen der Untergang der sozialistischen Welt gezeitigt hat, gibt es keinen Grund, in anachronistische Nostalgie zu verfallen. Sicher geht die Erfahrung des Kommunismus nicht in der bluttriefenden Karikatur auf, die Stéphane Courtois davon entworfen hat – zur großen Freude der extremen Rechten im übrigen, die nie zu hoffen gewagt hätte, daß sich ein Historiker mit linksextremistischer Vergangenheit die Gleichsetzung von Kommunismus und Nazismus und die Forderung Le Pens nach einem Nürnberger Prozeß gegen die Kommunisten zu eigen machen würde.1 Das Gleichheitszeichen, das das Schwarzbuch von Courtois durchzieht, läßt sich durch nichts rechtfertigen, schon gar nicht dadurch, daß man die Zahl der Opfer von Leninismus und Stalinismus künstlich aufbläht und deren Tod aus dem gesellschaftlichen Kontext herausreißt. Zwischen einem Kriegs- und Völkermordunternehmen einerseits und einer aus jahrhundertelangen Kämpfen entspringenden Freiheitshoffnung andererseits, die von Hunderten Millionen Menschen getragen wurde, gibt es keine Gleichheit, auch wenn der Traum vielfach ein blutiges Ende nahm.
Die Tatsache jedoch, daß die kommunistischen Gesellschaften immer wieder Phasen massiver, mitunter ungeheuerlicher Repression durchlaufen haben (und zwar so häufig, daß sie fast unvermeidlich wirken), nötigt jedoch jeden zur Reflexion, der an eine radikale Umwälzung unserer Gesellschaften geglaubt hat, glaubt und glauben wird. Wir müssen die Wurzeln und Mechanismen dieser Degenerationsprozesse ebenso aufdecken wie die Gründe dafür, daß in diesen Regierungen sämtliche demokratischen Reformversuche gescheitert sind.
Der eingrenzende sowjetische Horizont
MIT anderen Worten: Die Antwort auf historische Manipulationen – die es nicht auf den Stalinismus, sondern auf die sozialistische Hoffnung abgesehen haben – sollte mit einer kritischen Bestandsaufnahme des Kommunismus einhergehen.
Lang scheint es her, daß sich die Kommunistische Partei Frankreichs in den achtziger Jahren erlaubte, dem Kommunismus eine „alles in allem positive“ Bilanz zu bescheinigen, während der Chef der italienischen Schwesterpartei, Enrico Berlinguer, die „vorwärtstreibende Kraft“ der Oktoberrevolution zur gleichen Zeit für „erschöpft“ hielt.
Mehr denn je ziehen die meisten engagierten Zeitgenossen eine in fünffacher Hinsicht negative Bilanz: nicht nur bezüglich der demokratischen Rechte – was sich von selbst versteht –, sondern auch in wirtschaftlicher, und das heißt in letzter Instanz: in sozialer, ökologischer und menschlicher Hinsicht. Die Verwandlung des sowjetischen „Modells“ in ein Anti- Modell ist allerdings nicht ganz neu. Bereits in Boris Souvarines Anklageschrift „Stalin“ ebenso wie in André Gides „Retuschen zu meinem Rußlandbuch“ – um nur zwei besonders erhellende Werke aus den dreißiger Jahren zu nennen – erschien die Entstellung des kommunistischen Ideals bereits als Hindernis, das jeder Bewegung, die einen Wandel der kapitalistischen Gesellschaft anstrebte, im Wege stand.
Jahrzehntelang hielt man jedem sozialistischen Projekt denn auch die einzige Konkretisierung des Ideals entgegen, die es bislang gab: den „realexistierenden Sozialismus“. Und auch für die revolutionären Kräfte selbst endete die Ausarbeitung einer plausiblen radikalen Alternative am sowjetischen Horizont. In diesem Sinn beseitigt der Zusammenbruch des kommunistischen Hauses trotz der erwähnten Konsequenzen eine schreckliche Hypothek.
Weit davon entfernt, das Ende der Geschichte und die Marginalisierung aller revolutionären Bestrebungen zu verkünden, befreit er die Utopie von allen Fesseln. Die neuen Generationen werden schon bald die Chance haben, eine andere Gesellschaft zu erdenken, ohne sich wie bisher unmittelbar auf ein vorgegebenes Modell berufen oder sich von ihm distanzieren zu müssen.
Dabei geht es natürlich nicht darum, Tabula rasa zu machen: Vielmehr müßte der zeitliche Abstand es erlauben, sowohl die Lehren aus dem Fehlschlag des Kommunismus zu ziehen wie aus dem Scheitern des sozialdemokratischen Reformismus, auch wenn letzteres andere Ursachen hat. Doch wenn die Vorstellungskraft auf diese Weise wieder an Stärke gewinnt, sollte ein neuer Weg eingeschlagen werden, der sich an den Bedürfnissen der Männer und Frauen ausrichtet anstatt an theoretischen, gar dogmatischen Konzepten, die „umgesetzt“ werden müßten.
Wie sollen wir neuen Schwung in Demokratie und Pluralismus, in Rechte und Freiheiten bringen und sie vor der totalitären Gefahr schützen? Wie sollen wir Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit garantieren und jedem die Sicherheit gewähren, auf die er ein Anrecht hat, ohne dabei nach unten zu nivellieren und eigenständige Initiativen zu entmutigen? Wie sollen wir der Befriedigung sozialer Grundbedürfnisse den Vorrang vor wirtschaftlichen Überlegungen einräumen, ohne gleichzeitig die Entwicklung der Wirtschaft aufzuhalten? Wie sollen wir die nötigen Ressourcen mobilisieren für ein völlig neues Gleichgewicht zwischen Arbeit, Ausbildung, Familienleben, sozialen Initiativen und Freizeit, wenn das Leben endlich nicht mehr entfremdet ist? Wie sollen wir uns auf eine weltweite Umverteilung des Reichtums vorbereiten, die das Recht aller Völker auf Entwicklung achtet? Wie sollen wir die Rolle eines im Dienste all dieser Ziele stehenden Staates definieren und dabei zugleich die Autonomie des einzelnen Bürgers und der kommunalen Körperschaften ihm gegenüber fördern? Kurz, wie sollen wir das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft neu entwerfen? Dies sind nur einige von vielen Fragen, auf die es keine vorgefertigten Antworten mehr gibt ...
Jetzt endlich ist der Vorhang gefallen – und alle Fragen offen.
dt. Bodo Schulze
Fußnote: 1 Vgl. Le Monde diplomatique, Dezember 1997.