15.05.1998

Die Rebellen kehren zurück

zurück

Die Rebellen kehren zurück

Von CHRISTIAN DE BRIE

PROLETARIER aller Länder, vereinigt euch!“ Der Aufruf am Ende des Kommunistischen Manifests hat ausgedient. Die Internationale war längst im Museum der revolutionären Utopien gelandet und hat nun das Lager gewechselt und sich gegen die Kommunisten gewendet. Triumphierende Bourgeoisien machen sich daran, die globale Vereinigung zur Ausbeutung des Menschen zu schaffen; dabei wird jedwede Form organisierten Widerstands in Mißkredit gebracht, zerschlagen oder unterdrückt.

Dabei gibt es diesen Widerstand durchaus: In den maquilas1 von Mexiko, in den Freien Produktionszonen von Mauritius und in den Sklavenhalterfabriken von Bangladesch, Salvador und Nicaragua organisieren sich die Arbeiter in Gewerkschaften. In Brasilien, Bolivien, Kolumbien, Honduras, Peru, Indien und Mosambik, auf den Philippinen, im Senegal und in Togo organisieren sich die landlosen Bauern und kämpfen – wie auch die europäischen Bauern Frankreichs, Spaniens, Norwegens, Estlands und der Schweiz – gegen die multinationalen Konzerne des Agrobusiness. Ethnische Minderheiten, darunter die Ogoni, Sahraui, Maori, Maya und Aimara, kämpfen um ihr Überleben und die Anerkennung ihrer Rechte. In Kanada und den Vereinigten Staaten, in Argentinien, Belgien, Deutschland und Frankreich, in der Ukraine, in Indonesien, Süd-Korea und anderswo machen die Arbeiter und Angestellten Front gegen Entlassungen, gegen die Flexibilisierung am Arbeitsplatz, die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und die Verlagerung von Produktionseinheiten ins Ausland. Arbeitslose und Studenten, Umweltschützer und Menschenrechtsaktivisten, Verbraucherorganisationen und Alternativbetriebe machen sich für ihre Sache stark.

In Kanada widersetzen sich die Postangestellten der Privatisierung der Postdienste; in Lateinamerika besetzen Bauern unter Einsatz ihres Lebens das Land; in Indien zerstören sie den Unternehmenssitz von Cargill, in Frankreich den genetisch manipulierten Mais der Firma Novartis. Würden die Widerstandsaktionen und Offensivhandlungen, die zu jeder Stunde des Tages irgendwo auf der Welt stattfinden, in den Medien ebenso ausführlich behandelt wie die kapitalistischen Konzentrationsbewegungen und die Börsenaktivitäten an den großen Finanzplätzen, dann stünde das Ausmaß der Kämpfe jedem deutlich vor Augen. Anders als die großen Nachrichtenorgane unter der Kontrolle des Kapitals uns ständig vorbeten, haben die Ausgebeuteten den Kampf nicht aufgegeben, sich mit ihrer elenden Lage nicht abgefunden.

Nehmen wir die vielfach bemitleidete Gewerkschaftsbewegung, deren baldiger Tod durch Degenerierung pausenlos verkündet wird. Die Mitgliederzahlen gehen ständig zurück, in Europa wie in Nordamerika. In Frankreich ist der Grad der gewerkschaftlichen Organisierung unter die Zehnprozentmarke gesunken; in den Vereinigten Staaten ist er in den letzten zwanzig Jahren auf die Hälfte gefallen, wobei die Gewerkschaft der Lastwagenfahrer – der Teamsters –, die größte und aktivste Gewerkschaft der USA, im selben Zeitraum 1,5 Millionen ihrer ehemals 3 Millionen Mitglieder verlor. Hinzu kommt, daß sich die ängstlichen Gewerkschaftsbürokraten in erster Linie um ihr eigenes Fortbestehen sorgen und jeder nur auf seine eigenen korporatistischen und nationalistischen Interessen schaut. Die Diagnose ist kaum anzuzweifeln: Die Gewerkschafts-Internationale hinkt der Internationale des Kapitals um eine Generation hinterher.

Im Unterschied zu ihrem Gegner ist sie noch immer nicht in der Lage, weltumfassende Strategien auszuarbeiten und umzusetzen, die zudem den neuen Formen der Ausbeutung, wie der Telearbeit, angemessen wären. Zum einen ist sie in den Unternehmen nur schwach oder gar nicht präsent. Deshalb bedurfte es mehr als zwanzigjähriger Kämpfe, um auf EU- Ebene die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Schaffung von Euro-Betriebsräten in transnationalen Unternehmen durchzusetzen.

Zum anderen sind ihre Möglichkeiten, die Beschäftigten zu informieren und zu konzertiertem Handeln aufzurufen, begrenzt. Die Hälfte aller Gewerkschaftsmitglieder ist keiner internationalen Gewerkschaftsorganisation angeschlossen. Hinzu kommt die noch aus der Zeit des Kalten Kriegs herrührende Spaltung in einen Weltgewerkschaftsbund (WGB), der sich seit dem Fall der „kommunistischen“ Regime im Niedergang befindet, und einen Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG), in dem die moderatesten Strömungen der Sozialdemokratie den Ton angeben, allen voran der Vorsitzende des Bundes, der streng konservative Brite Bill Jordan, sowie die Mehrheit der deutschen, niederländischen, japanischen und US-amerikanischen Gewerkschaften. Daneben gibt es noch den konfessionell gebundenen Weltverband der Arbeitnehmer (WVA), unter dessen Dach sich so unterschiedliche Organisationen wie der Belgische Bund Christlicher Arbeitnehmer (BBCA), die polnische Solidarnosc und die notgedrungen im Untergrund agierende indonesische Gewerkschaft Wohlfahrt (SBSI) zusammengeschlossen haben.

Und doch fürchten die Arbeitgeber, die sich mit der gewerkschaftlichen Organisationsfreiheit und dem Streikrecht nie so recht haben abfinden können, nichts so sehr wie das konzertierte Vorgehen der Arbeiter. Überall auf der Welt verfolgen und unterdrücken sie die gewählten Gewerkschaftsvertreter und Betriebsorganisationen. Das reicht von Entlassungen – allein in Frankreich wurden in fünf Jahren 75000 Gewerkschafter auf die Straße gesetzt – bis hin zur physischen Liquidierung durch bezahlte Milizen und Todesschwadrone. In Indonesien beispielsweise, wo Militärdiktatur, Nepotismus, Gewalt und Korruption seit dreißig Jahren zum Regierungssystem erhoben sind, ist ausschließlich eine offizielle, von Staat und Militär kontrollierte Gewerkschaft geduldet – sehr zur Zufriedenheit der Investoren. Die im SBSI zusammengeschlossenen Gewerkschaften hingegen werden verfolgt, ihre Führer verhaftet und ins Gefängnis geworfen, ihre Repräsentanten ermordet.

Ein anderes Beispiel: In den Vereinigten Staaten versucht das Big Business mit Unterstützung der großen Tageszeitungen (insbesondere der New York Times) und unter tätiger Mithilfe der konservativen republikanischen Senatsmehrheit mit Erfolg, die Führung der Teamsters zu destabilisieren und durch wiederkehrende Enthüllungsstorys zu „kippen“. Dabei haben sie es vor allem auf die „Teamsters for Democratic Union“ abgesehen, eine Strömung, die für ein Wiederaufleben der Gewerkschaftsidee eintritt und maßgeblich daran beteiligt war, daß der Kurierdienst UPS im Arbeitskonflikt im vergangenen Sommer schließlich nachgeben mußte.2

Trotz alledem verfügen die Gewerkschaften noch immer über ein beträchtliches Mobilisierungspotential. Die größte internationale Organisation, die CISL, umfaßt mehr als 180 Millionen Mitglieder, davon sind mehr als 55 Millionen Angehörige der Europäischen Union. Würde sich auch nur ein Teil dieser Mitglieder zum gemeinsamen Handeln nach genauen Zielvorstellungen und Handlungsschwerpunkten entschließen, müßte jedes beliebige transnationale Unternehmenskartell den Forderungen nachgeben. So ließe sich das Kräfteverhältnis auf Dauer zugunsten der Arbeiter verschieben, zumal die jüngsten Streiks in Frankreich, Belgien, Süd-Korea und den Vereinigten Staaten gezeigt haben, daß sich die Solidarität mit einer Minderheit der Aktivisten rasch auf die Mehrheit der Bevölkerung ausweitet. Zuallererst auf jene Arbeitnehmer natürlich, die durch die Angst vor Arbeitslosigkeit, unsichere Beschäftigungsverhältnisse und Erpressungsmanöver seitens der Arbeitgeber davon abgehalten werden, sich aktiv an der Bewegung zu beteiligen, und sich daher allein zu Stellvertreterstreiks bereit erklären können.

Fast überall entwickelt sich eine neue Gewerkschaftsbewegung, die stärker in die Offensive geht, eher lokal handelt, professionell organisiert ist und den Beweis erbringt, daß Kämpfen nicht vergebens ist und sich auszahlt. Wo die traditionellen Organisationen davor zurückschrecken, die neuen Forderungen aufzugreifen, organisieren sich die Arbeitnehmer umgehend in neuen Gewerkschaften und Zusammenschlüssen. Diese Erneuerungsbewegung greift auch auf Gewerkschaften über, die zuvor Mitglied der FSM waren, darunter der Kongreß der südafrikanischen Gewerkschaften (Cosatu), die brasilianische Einheitszentrale der Arbeiter (CUT) und der Allgemeine Gewerkschaftsbund Belgiens (FGTB).

Neben der Gewerkschaftsbewegung entstehen unzählige Initiativen und regierungsunabhängige Organisationen, die sich mit den unterschiedlichsten Themen befassen und den Protest gegen die neue Weltordnung erheblich bereichern. Es gibt Hunderttausende dieser Organisationen, und sie sind in der Lage, mehrere hundert Millionen Aktivisten zu mobilisieren. Wie heißt es doch im Manifest der „Peoples Global Action“ (PGA), die in Genf im Februar 1998 einen Kongreß gegen den „Freihandel“ und die Welthandelsorganisation (WTO) veranstaltete: „Das Wichtigste ist, die direkte Aktion gegen die Globalisierung voranzutreiben. (...) Nur eine weltweite Allianz der Volksbewegungen, die die Autonomie aller Mitwirkenden respektiert und einen aktionsorientierten Widerstand befördert, kann das Monster besiegen (...). Wir erklären unseren Willen, jede Form von Unterdrückung zu bekämpfen.“3

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Vgl. Maurice Lemoine, „Die Arbeiter Zentralamerikas als Geiseln der maquilas“, Le Monde diplomatique, März 1998. 2 Vgl. Rick Fantasia, „Spectaculaire victoire des camionneurs américains“, Le Monde diplomatique, Dezember 1997. 3 Sekretariat der Konferenz: amp, c/o IAS, 5, rue Samuel-Constant, CH-1201 Genf; http://www.agp. org/.

Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von CHRISTIAN DE BRIE