Metamorphose zur Marktgesellschaft
Von ANDRÉ GAURON *
DAS Wettbewerbsprinzip, das durch die Römischen Verträge ins Zentrum der Europäischen Einheitskonstruktion gerückt wurde, hat in allen Gesellschaften eine „Metamorphose“ ausgelöst, wie Jacques Delors es genannt hat, als er Kommissionspräsident war. Weiter erklärte er dazu: „Daß sich diese Veränderungen undramatisch vollziehen, sollte nicht über ihren revolutionären Charakter hinwegtäuschen: Wir erleben die Geburt eines anderen Europa.“1 Wie bei jeder Unternehmung mit „revolutionärem Charakter“ ist auch beim Aufbau des Gemeinsamen Marktes, so demokratisch er daherkommt, Gewalt im Spiel. Und die entscheidende Waffe ist das Recht. Denn das Europa des Gemeinsamen Marktes ist eine „Schöpfung des Rechts“, ja, mehr noch, „eine Gemeinschaft von Rechts wegen“2 . Diese Tatsache ergibt sich aus den in den Römischen Verträgen festgeschriebenen Grundsätzen, denen der Luxemburger Gerichtshof volle Wirksamkeit verliehen hat: das EG-Recht stellt eine autonome Rechtsordnung dar, welche für die Mitgliedstaaten verbindlich ist.
Der Europäische Gerichtshof spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Als Rechtsprechungsorgan jenseits demokratischer Kontrolle durch die nationalen Regierungen oder das Europäische Parlament bringt er Europa auf den Weg zur „Marktgesellschaft“. Seine Wettbewerbsphilosophie ist der reinste Sophismus: „Ein unverfälschter Wettbewerb setzt die Existenz eines effizienten Wettbewerbs voraus“, liest man in einer Entscheidung aus dem Jahre 1977, und weiter: „das heißt, es bedarf eines gewissen Maßes an Wettbewerb, damit die Grundforderungen der Verträge eingehalten und deren Ziele erreicht werden, insbesondere die Bildung eines Gemeinsamen Marktes mit binnenmarktähnlichen Voraussetzungen.“3 Der Gerichtshof leugnet weder die Existenz von „Zielsetzungen anderer Art“ (zum Beispiel im Bereich der Umwelt und der Sozialpolitik) noch die Notwendigkeit, daß die Kommission zu deren Umsetzung „gewisse Wettbewerbsbeschränkungen“ durchsetzen muß. Diese sind jedoch nur dann zulässig, wenn sie für „die Umsetzung dieser Ziele unerläßlich erscheinen und nicht darauf hinauslaufen, daß in einem substantiellen Bereich des Gemeinsamen Marktes der Wettbewerb abgeschafft wird“. Mit anderen Worten, man darf den Wettbewerb nur so weit einschränken, daß er dadurch nicht insgesamt gefährdet wird.
Das EG-Wettbewerbsrecht hat eine besondere Eigenschaft: es gilt als positives Recht, obwohl es nicht aus „erlassenen“, das heißt von den Parlamenten beratenen Gesetzen besteht. Es handelt sich um ein aus den Verträgen „abgeleitetes“ Recht, das sich aus der Anwendung dieser Verträge ergibt und für ihre Anwendung bestimmt ist. Der europäische Gesetzgeber (Kommission und Ministerrat) ist nicht befugt, Recht zu setzen, da er an die Verträge gebunden ist und von ihnen nicht abweichen darf. Die Möglichkeit, Gesetze – oder Verfassungsnormen – zu ändern, ist ihm nicht gegeben.
Das EG-Recht ist außerdem das erste Rechtssystem, das die Selbstregulierung der Gesellschaft allein aus dem Marktmechanismus herleitet. Der damit vollzogene Bruch besteht weniger in der Umkehrung der Beziehung zwischen Recht und Staat als darin, daß das Recht an den Markt gebunden wird. Quelle und Subjekt des Rechts ist nicht mehr die Einzelperson (wie im „Naturrecht“) oder der Staat (wie im „Rechtspositivismus“). Quelle und Subjekt des Rechts ist nunmehr der Markt.
Auf europäischer Ebene haben wir es nicht mit einem einfachen Wettbewerbsrecht nach französischem, deutschem oder US-amerikanischem Muster zu tun; das europäische Recht will die Gesamtheit der rechtlichen Verhältnisse zwischen den Menschen auf der Grundlage der Marktbeziehungen regeln. Das Personenrecht und die bürgerlichen Freiheiten werden nicht in Frage gestellt. Da dafür aber die Nationalstaaten zuständig sind und das EG-Recht dem jeweiligen nationalen Rechtskörper übergeordnet ist, werden Personenrecht und bürgerliche Freiheiten dem Markt unterstellt. Das Recht schützt den einzelnen nicht mehr vor dem Markt, sondern unterwirft ihn dem Markt. Damit ist der Bestand eines wirtschaftsliberalen Europa auch ohne liberale Regierungen gesichert – das Recht allein genügt.
Beim Aufbau Europas bot das Wettbewerbsprinzip einen entscheidenden Vorteil: Es war von Anbeginn gestützt durch“ein schon existierendes, stark ausgearbeitetes und als technisch wahrgenommenes Regelwerk, dessen sektorenübergreifende Bezüge ihm einen sehr weiten potentiellen Anwendungsbereich eröffneten und dessen Umsetzung ohne große Geldmittel erfolgen konnte“4 . Dies verschaffte der Kommission die Möglichkeit, „schnell, selbständig, überall und kostenlos“ tätig zu werden. In den Verträgen findet sich kein anderer Grundsatz mit vergleichbarer Durchsetzungskraft, weder im Bereich der Rechtsprechung noch dem der Beschäftigung. Was macht es da schon, daß der Wettbewerb einen hohen Preis hat, der in der Münze der Ungleichheit und der Arbeitslosigkeit zu zahlen ist. Dank seiner Dynamik und Autonomie ist er allgegenwärtig und dient ebenso als Hebel der Integration wie als Sprengsatz gegen die Nationalstaaten.
Und noch etwas sichert den Vorrang des Wettbewerbs: die Lobbys. Wo die Politik ausbleibt, sind die Pressure-groups stets präsent.5 Kein Wunder, daß Jacques Delors mehr Tatkraft bei den Vertretern der Wirtschaft konstatiert als bei den Politikern.6 Mühelos verschaffen diese sich Gehör und setzen ihre Einzelinteressen durch; sie sind ja ständig vor Ort. Bei der Ausarbeitung der europäischen Texte, Richtlinien oder Verordnungen werden sie befragt, einbezogen und vor allem angehört. Die Interessenvertreter der Wirtschaft in Brüssel sind den Parlamentariern, Gewerkschaftsvertretern und Verbraucherorganisationen an Zahl und vor allem an Effizienz weit überlegen.
Richtlinien vom laufenden Band
WEDER der Wettbewerb noch der autonome Charakter des EG-Rechts sind Erfindungen der Einheitlichen Europäischen Akte. Dennoch stellt dieser Vertrag einen entscheidenden Wendepunkt dar. Die Kommission – und nicht das Europäische Parlament – besitzt das Monopol, europäische Entscheidungen zu initiieren. Gestützt auf dieses Monopol hat sie das Weißbuch zur Vollendung des Gemeinsamen Binnenmarktes in ein „Kursbuch“ verwandeln können, wie sich François Lamoureux, seinerzeit enger Mitarbeiter von Jacques Delors, ausdrückt.7 Vor dem Europäischen Parlament hatte der Kommissionspräsident die Absicht bekundet, „sein Initiativrecht voll zu nutzen, um seine Prioritäten zu verwirklichen“. Er fügte hinzu: „Die Kommission wird sich nicht scheuen, einen Entwurf zurückzuziehen, falls sie der Meinung ist, daß sein Inhalt zu stark abgeändert wurde, oder falls sie feststellt, daß eine Debatte offen oder unterschwellig blockiert wird.“8 Und er hielt Wort. Bis zu vierzehn Mal hintereinander – betreffend die zollamtliche Abfertigung von Kleinpaketen – wurde ein und derselbe Richtlinienentwurf vorgelegt. Die Maschinerie zur Produktion von Richtlinien war angelaufen, und es dauerte lange, bis man begriffen hatte, um welche Höllenmaschine es sich handelte.
Die führenden Europapolitiker haben es zur Genüge wiederholt: „Der Gemeinsame Markt ist ein Mittel zur Umsetzung eines größeren Ziels; er ist nachgerade ein Gesellschaftsentwurf.“ Statt „Luftsprünge zu machen und ,Europa! Europa! Europa!' zu rufen“ (um es mit de Gaulle zu sagen) schwenkt man heute das Banner des „europäischen Gesellschaftsmodells“. Bleibt die Frage, ob das ausreicht, um Europa vor der eingangs genannten „Metamorphose“ durch das Wettbewerbsprinzip zu bewahren. Kann man die Augen vor der Tatsache verschließen, daß dieses „Modell“ nur beschworen wird, um es sodann besser kippen zu können? Wettbewerb schließt Solidarität nicht aus. Solidarität aber bedeutet, daß man (angesichts des Grundsatzes der Freizügigkeit) die individuellen Freiheitsrechte, die bislang nur im nationalen Recht verankert sind, zu europäischem Recht erhebt – und zwar zu einem Recht, das dem Wettbewerbsprinzip übergeordnet ist.
Der Gesellschaftsentwurf, der zur Zeit durch das EG-Recht favorisiert wird, weist in die entgegengesetzte Richtung. Er strebt eine Gesellschaft an, in der der Wettbewerb die Regel ist: Wettbewerb der Unternehmen im globalen Rahmen, Wettbewerb der Einzelpersonen untereinander um den Zugang zum Markt in allen Bereichen, Wettbewerb der Nationalstaaten, die keine Zukunft mehr haben und in denen Solidarität nichts mehr gilt. Wird diese Gesellschaft, wird dieses Europa des Marktes die Erwartungen der Bürger erfüllen?
dt. Margrethe Schmeer
* Wirtschaftswissenschaftler, Verfasser von „Le malentendu européen“, Paris (Hachette Littératures) 1998.