Gefrierschock für den Umweltschutz
IM Januar dieses Jahres erlebte Quebec die schlimmste Naturkatastrophe seiner Geschichte. Mehrere Wochen lang versetzte ein Eissturm das Land zurück in die Eiszeit. Die Katastrophe hat gezeigt, wie anfällig auch hochentwickelte Gesellschaften sind. Obwohl keine Metropole der Welt so gut gegen Kälte gerüstet ist, hing das Leben von Montreal an einem seidenen Faden. Und die Hydro-Québec, eines der bedeutendsten Unternehmen der öffentlichen Hand in Amerika, stieß hart an die Grenzen ihrer Möglichkeite. Dennoch gelang es Hydro-Québec, die Krise zu nutzen, um eine umstrittene Wirtschaftsstrategie voranzutreiben.
■ Von LOUIS-GILLES FRANCOUR *
In jener Nacht, der Nacht vom 4. auf den 5. Januar 1998, am letzten Abend der Winterferien in Quebec, lagen unzählige Kinder in ihren Betten, lauter Flausen in Form von Schneeflocken im Kopf, und träumten, daß ein Zauberer ihre Schule fortzaubere. Da meldete gegen vier Uhr morgens der Wetterbericht, daß sich „eine massive Kaltfront“ vom Sankt-Lorenz- Golf kommend Montreal nähere. Eigentlich eine banale winterliche Meldung. Doch außerdem, so die Vorhersage, sei ein Tiefdruckgebiet im Anzug, das vom Golf von Mexiko ausgehend bereits die Vereinigten Staaten durchquert habe und nun warme Luftschichten nach Quebec bringe, wo es oberhalb der Kaltfront zum Stillstand kommen werde. Die Vorhersage für den Tag: Eisregen.
Wenige Stunden später ist ganz Montreal eine Eisbahn, der Alltag kommt nicht in Gang, alles funktioniert im Zeitlupentempo. Schon am folgenden Tag hat das Glatteis eine Stärke von 25 Millimetern, mehr als im Rekordjahr 1961. In der Stadt werden die ersten Notunterkünfte eingerichtet, und Bürgermeister Pierre Bourque kehrt vorzeitig von einer China-Reise nach Hause zurück. Ein erster großer Stromausfall schneidet 125000 Haushalte am Südufer der Île de Montréal von der Energieversorgung ab.1
Zwar gelingt es den Behörden in der Nacht vom 6. auf den 7. Januar, die Zahl der Haushalte ohne Strom von 700000 auf 500000 zu verringern, doch da der Eisregen nicht aufhört – wenngleich er weniger stark ist als zu Beginn – treten am Mittwoch, dem 7. Januar, die Notstandspläne in Kraft, denn erstmals droht der Zusammenbruch der Grundversorgung in einer modernen Stadt, die seit über 150 Jahren keinen Krieg erlebt hat.
Tausende Menschen, die bereits drei Tage ohne Licht und Heizung sind, beginnen sich Sorgen zu machen. Die Bevölkerung von Quebec erfährt, was es heißt, von „sauberer Energie“ abhängig zu sein: 70 Prozent der Haushalte werden mit Elektrizität beheizt und sitzen, sofern sie nicht über einen Kamin, Holzöfen oder eine andere Zusatzheizung verfügen, in der Kälte. Auf den Straßen sind die Autos in Schneebänken versunken, die sich in Eismauern verwandelt haben. Bäume, die im Frost geborsten sind, stürzen auf Straßen, Autos, Häuser, oder sie reißen Stromleitungen mit sich, die dann, teils noch unter Spannung, auf die Straßen herabhängen.
Am Donnerstag, dem 8. Januar, steigt die Zahl der Haushalte ohne Strom auf mehr als eine Million, das sind mehr als 2,5 Millionen Menschen. Das Staatsunternehmen Hydro-Québec verhandelt über die Entsendung von 800 Stromleitungsmonteuren aus anderen kanadischen Provinzen sowie den Vereinigten Staaten; die Provinzen Ontario und Neuengland beteiligen sich allerdings kaum an den Hilfsaktionen, da sie selbst Opfer des Klimaphänomens sind. Die immer dicker werdende Eisschicht läßt nun nicht mehr nur die Stromversorgung der Haushalte zusammenbrechen, sondern auch das Hochspannungsnetz, das als das robusteste des Kontinents gilt. Anfang der siebziger Jahre hatte die Hydro-Québec bereits die eigenen Normen für die Provinz Quebec so gefaßt, daß die Strommasten einer Eisschicht von 45 Millimetern standhalten können – was in etwa das Vierfache der kanadischen Norm ist. Trotzdem beginnt der „Hochspannungsgürtel“ um Montreal zusammenzubrechen, dessen Leitungen, die für Spannungen von 735 Kilovolt ausgelegt sind, den Strom aus der James-Bay, vom Fluß Manicougon und aus Labrador nach Montreal bringen.
In Montreal sind inzwischen 74 Notunterkünfte eingerichtet worden. Die Anspannung ist allgemein spürbar. Autos und Busse schleichen durch die Straßen. Der Flugverkehr funktioniert nur eingeschränkt, und selbst bei der U-Bahn kommt es zu Ausfällen. Zur Entfernung der Eisschicht, die inzwischen durch den Graupel bis auf 30 Zentimeter angewachsen ist, braucht man nunmehr statt der Schneeräumer Rammböcke und Baggerfahrzeuge.
In den Krankenhäusern, von denen 64 die Stromversorgung mittels eines Generators aufrechterhalten, verdoppelt sich die Zahl der Patienten: einige haben sich auf dem Eis die Knochen gebrochen, andere haben aufgrund der provisorischen Beheizung (etwa mit Hilfe des Gasherds in der Küche) Kohlenmonoxydvergiftungen erlitten, wieder andere zogen sich Lebensmittelvergiftungen zu, weil durch den Ausfall von Eis- und Gefrierschränken die Lebensmittel verdorben sind. Schließlich kommt auch der Eisenbahnverkehr zum Erliegen: 170 Züge stecken im Eis fest und blockieren das gesamte nordostamerikanische Schienennetz.
In Montreal tritt der Krisenstab der Polizei zusammen: sämtliche Polizisten – auch die krank geschriebenen – werden dienstverpflichtet, und selbst Ermittlungsbeamte werden eingesetzt, um Kerzen zu verteilen oder in den eiskalten Hochhäusern nach „besonders Ausdauernden“ zu suchen, die kurz vor dem Erfrieren sind; außerdem haben sie die Aufgabe, allzu gefährliche Straßen zu sperren und an Kreuzungen den Verkehr zu regeln. Zum ersten Mal seit dem Oktober 1970 prägt die Armee wieder das Straßenbild: Unter dem Kommando der Sûreté du Québec unterstützen Soldaten mit Motorsägen die Polizei, die Trupps der Hydro-Québec und die Arbeiter der städtischen Betriebe, denen es kaum gelingt, die Straßen begeh- und befahrbar zu machen.
Doch in besonderer Erinnerung wird den Bewohnern von Montreal der 9. Januar bleiben, der fünfte Tag der Krise, ein „Schwarzer Freitag“ für die Metropole. Der Tag beginnt mit einem überaus seltenen meteorologischen Phänomen: einem Gewitter mitten im Winter! Die Mannschaft im Kontrollzentrum der Hydro- Québec, die keine Minute die Hände in den Schoß gelegt hatte, muß ohnmächtig mit ansehen, wie im Laufe des Tages vier der fünf Umspannanlagen des Hochspannungsgürtels von Montreal zusammenbrechen. Zwei Stunden lang wird die Stadt an nur einer einzigen Hochspannungsleitung hängen – erst nachträglich ist die Hydro-Québec bereit, dies bekanntzugeben.
Die Zivilschutzstellen fordern Fabriken und Geschäfte auf, zu schließen, und die Bevölkerung wird angehalten, den Stromverbrauch zu drosseln. Ob aus Unbedachtheit oder Egoismus: der Verbrauch sinkt gerade einmal um 5 Prozent. Daraufhin beschließt die Hydro-Québec, die einzelnen Viertel im Wechsel abzuschalten, um so den Ausfall der letzten funktionierenden Leitungen zu verhindern. Die Stromknappheit bringt auch die Raffinerien zum Erliegen.
Als schließlich der Betrieb in den beiden Wasserfiltrieranlagen Montreals zusammenbricht, steht die Stadt kurz vor der völligen Katastrophe. Mehrere Tage später wird Premierminister Lucien Bouchard enthüllen, daß die Wasserreserven auf einen Vorrat von zwei Verbrauchsstunden gesunken waren. Angesichts der durch die Behelfsheizungen sprunghaft zunehmenden Brände erwägt der Krisenstab, brennende Häuser mit schweren Baufahrzeugen einzureißen. Da zudem drei Tage lang keine Desinfektion des Leitungswassers erfolgen kann, muß alles Wasser abgekocht werden.
Als auch das Verbundnetz von Montérégie im Süden von Montreal unter dem Eis zusammengebrochen ist, kommt es in der Region zwischen den Städten Saint- Hyacinthe, Granby und St. John zum totalen Blackout. Während der Chef des Krisenstabs, Maurice Baril, dieses Gebiet mit Sarajevo vergleicht (“ein Sarajevo ohne Gewehrkugeln“) nennen es die Medien „Das schwarze Dreieck“. Dort werden die letzten Geschädigten erst am 7. Februar – also einen Monat und drei Tage nach dem Naturereignis – wieder ans Stromnetz angeschlossen.
Am 10. Januar gibt Environnement Canada das Ende des Wetteralarms bekannt. In eisigem Sonnenlicht zieht das Land eine Bilanz der Katastrophe: 1393300 Haushalte waren betroffen, also drei Millionen Menschen, die Hälfte der Einwohner der frankokanadischen Provinz. Und fünfzehn Menschen kamen ums Leben.
Auch die Hydro-Québec bilanziert ihre Schäden: 24000 Holzmasten sind umgestürzt, so daß 3000 Kilometer Leitungen neu verlegt werden müssen – das entspricht dem nationalen Stromnetz mehrer Länder zusammen. 7500 Transformatoren sind außer Betrieb. Mehr als 900 Freileitungsmaste sind eingeknickt, darunter bis zu 19 hintereinander; dadurch werden 128 Fernleitungen blockiert, die schnellstmöglich repariert werden müssen. Die Hydro-Québec wird in Spitzenzeiten 2000 Arbeitsgruppen zu je drei Mann beschäftigen; mit ihrer rollenden Werkstatt arbeiten sie vollkommen unabhängig, bis zu sechzehn Stunden am Tag, und dies trotz sibirischer Kälte. Die Trupps werden von der Bevölkerung mit Kaffee und Krapfen versorgt und auf der Straße als Helden gefeiert.
Im „Schwarzen Dreieck“ registrieren die Inspektoren der Hydro-Québec bis zu hundert Millimeter dicke Eisschichten. Klarer als alle anderen erkennen die Unternehmer aus der Landwirtschaft, die es hart getroffen hat, den Ernst der Lage. Ein Drittel der Betriebe waren im Laufe der Tage in Mitleidenschaft gezogen worden. Schätzungen zufolge beliefen sich die Schäden in der Region Montérégie auf 70 Millionen Dollar. Wo die Belüftung ausfiel, erstickten die Hühner in den großen Zuchtanlagen innerhalb von zehn, die Schweine innerhalb von dreißig Minuten. Kühe, die man nicht mehr von Hand melken kann, drohten zu verenden. Nicht weniger als 70 Prozent der forstwirtschaftlichen Fläche und ein Drittel der Ahornbestände der Montérégie wurden zerstört, desgleichen die Alleen in den vornehmen westlichen Vierteln von Montreal, wo nicht selten hundertjährige Bäume standen.2
Die durch das Eis ausgelöste Krise brachte deutlicher denn je die Schwachstellen des Zivilschutzes ans Licht, für den das Ministerium für öffentliche Sicherheit zuständig ist. Beobachter warfen dieser Behörde ineffektive Zentralisierung, Bürokratisierung und schlechte Vorbereitung auf den Notfall vor, auch wenn man weiß, daß die Koordinationsaufgabe, die der Zivilschutz zu meistern hatte, durchaus heikel war. Mehrere der 89 Kommunen des „Schwarzen Dreiecks“ besaßen nicht einmal einen Katastrophenplan, da dies gesetzlich bislang nicht vorgeschrieben war.
Das Flaggschiff der Wirtschaft
DIE Medien übernahmen spontan die Funktion öffentlicher Dienstleister. Insbesondere das Fernsehen wurde zu einem echten Transmissionsriemen für praktische Mitteilungen ebenso wie für die Bekanntgabe der Kommuniqués von Regierung und Hydro-Québec. Das für die Betroffenen leichter zugängliche Radio wurde zum Forum der Krise: Die Menschen sprachen dort über ihre Ängste, baten um Kerzen oder boten Lebensmittel und Rat an.
Das Staatsunternehmen Hydro-Québec, das sich zum ersten Mal im Zentrum einer Live-Berichterstattung sah, konzentrierte seine Defensivkräfte ganz auf das Fernsehen und verwies die Journalisten der Printmedien oftmals auf die Informationen vom Bildschirm. Auf diese Weise entstammten alle Nachrichten in den Medien einer Quelle: den Kommuniqués in TV-Direktübertragungen. Die Hydro-Québec schaffte es durch geschickte Dosierung der Informationen nicht nur, zu verhindern, daß sie von dem Ausmaß der Katastrophe in Mitleidenschaft gezogen wurde, sondern es gelang ihr sogar, ihr angekratztes Image aufzupolieren.
Bei einer Umfrage der Tageszeitung Le Devoir, zehn Tage nach der Krise, sprachen 97 Prozent der Bevölkerung der Hydro-Québec ihr uneingeschränktes Vertrauen aus. Ein Jahr zuvor waren es nur 50 Prozent gewesen. Ins Gerede gekommen war das Unternehmen damals, weil es von kleinen privaten Kraftwerken Elektrizität zu einem Verlustpreis abgenommen hatte und zudem bekanntgeworden war, daß Mitglieder des Sonnentemplerordens Posten in seiner Hierarchie bekleideten. Die „Überdosis“ an Zuspruch nach der Krise kam also für die Regierung von Québec und das größte ihrer Unternehmen genau zum richtigen Zeitpunkt.
Die Provinzregierung nutzte die Krise und verabschiedete, ohne die Ergebnisse einer parlamentarischen Untersuchungskommission abzuwarten, einen auf vier Jahre angelegten Entwicklungsplan für die Hydro-Québec. Darüber hinaus erließ sie eine Reihe von Verordnungen, die nicht nur für die Instandsetzungsarbeiten, sondern auch für die Modernisierung des Quebecer Stromnetzes die Regierungsrichtlinien zur staatlichen Prüfung umweltrelevanter Maßnahmen außer Kraft setzten. Die Interpretationen des öffentlich bekundeten Vertrauens gehen indes auseinander. Die Hydro-Québec sieht darin die Bestätigung ihrer zunehmend „marktorientierten“ Geschäftspolitik. Umweltschützer und Verbraucher dagegen meinen, die Bevölkerung habe mit diesem Votum ihrer Befriedigung Ausdruck verliehen, daß die Hydro-Québec ihr Selbstverständnis als „Unternehmen der öffentlichen Hand“ wiederbelebe – denn diese öffentlichen Unternehmen gelten als das Symbol der „Stillen Revolution“ der sechziger Jahre.
Bis in die jüngste Zeit hatte es keine Regierung in Quebec gewagt, unberührte Flüsse zu opfern, nur um den aus der Wasserkraft gewonnenen Strom in die USA zu exportieren. Allenfalls war man der Nachfrage im eigenen Land um einige Jahre vorausgeeilt und hatte diesen Ausbau der Kapazitäten teilweise mit Exporterlösen finanziert. Doch im Zuge der Deregulierung des US-amerikanischen Strommarktes und mit der Ernennung von André Caillé zum Chef der Hydro-Québec im Herbst 1996 änderte das „Flaggschiff der Quebecer Wirtschaft“ den Kurs. Ohne öffentliche Debatte, aber mit Unterstützung der Provinzregierung zielte Caillé von Anfang an darauf ab, die Hydro-Québec unter die Kontrolle der Noverco-Holding zu bringen, in deren Händen sich die Gesellschaft Gaz métropolitain befindet, deren Chef Caillé bis 1996 gewesen war. Sein Ziel ist es, nicht nur Strom, sondern Energie überhaupt auf dem amerikanischen Markt zu verkaufen, der sich zunehmend für Gas interessiert.
Ebenfalls ohne öffentliche Debatte verschaffte André Caillé der Hydro-Québec in Washington eine Zulassung als Großlieferant auf dem amerikanischen Elektrizitätsmarkt; im Gegenzug ermöglichte er den US-amerikanischen Konkurrenten einen Zugang zu dem bis dahin monopolisierten Quebecer Markt, auf dem diese sich allerdings bislang nicht durchsetzen konnten.
Darüber hinaus plant Caillé, den Umsatz der Hydro-Québec in den nächsten zehn Jahren um 25 Prozent zu erhöhen, wodurch der Jahresgewinn von 300 Millionen auf 1,8 Milliarden Dollar im Jahr 2002 steigen soll. Der Finanzminister frohlockt. Die Hydro-Québec will ihren Absatz in den USA auf über 600 Millionen Dollar jährlich steigern. Doch um dies zu erreichen setzt Caillé weniger auf den Bau neuer Kraftwerke als vielmehr auf eine höhere Auslastung der vorhandenen Kapazitäten – insbesondere durch Umleitung von Flüssen, darunter auch von Flüssen mit Lachsbeständen. Im übrigen plant er Milliardeninvestitionen für den Ausbau des Unterlaufs des Churchill River in Labrador.
Von der Errichtung der Kraftwerke im engeren Sinne abgesehen, sind die meisten dieser strategischen Entscheidungen gefallen – oder werden fallen –, ohne daß die neugeschaffene Régie de l'énergie gehört worden wäre, die als Ort der öffentlichen Debatte über diese Fragen und als unabhängige Kontrollinstanz gegenüber der Hydro-Québec gedacht ist.
Der Große Eissturm und seine wahren Helden, die Leitungsmonteure, haben dazu beigetragen, diese Hintergründe zu verschleiern, und dem Caillé-Plan womöglich den notwendigen Schub geliefert: Nun werden vielleicht jene Projekte in Angriff genommen, von denen die einen die Belebung der Wirtschaft erwarten, während die anderen in ihnen die Quellen neuer vermeidbarer Umweltschäden sehen.
dt. Eveline Passet
* Journalist bei der Tageszeitung Le Devoir in Montreal.