15.05.1998

Exportieren, exportieren!

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Exportieren, exportieren!

Von GABRIEL KOLKO *

SEIT Ende letzten Jahres will die Kritik an der Art, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) die Krise in Ostasien und ganz allgemein die Weltwirtschaft gemanagt hat, nicht verstummen – das geht von Harvardprofessor Jeffrey Sachs über die Financial Times und die Finanzminister der G-7-Staaten (bei ihrem jüngsten Treffen in Washington) bis hin zu George Soros, dem milliardenschweren Finanzier. Auch wenn es diesen Kritikern fernliegt, die wirtschaftsliberalen Ideen in Frage zu stellen, an denen sich das Vorgehen des IWF ausrichtet, verstärken sie doch die Reihen jener, die zwar weniger bedeutende Interessen vertreten, dafür aber schon seit langem die drakonischen Regeln anprangern, denen sich Dutzende arme Länder im Rahmen der sogenannten Strukturanpassungsprogramme unterwerfen müssen.

Das Scheitern dieser Strategien ist inzwischen offenkundig: In den Ländern, in denen sie angewandt worden sind, haben sie zum wirtschaftlichen Niedergang geführt und die gesellschaftlichen Mißstände vergrößert. Dabei sind insbesondere die negativen Auswirkungen eines Dogmas deutlich geworden, das der IWF mit den anderen internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen teilt: die Forderung nach exportgestützter Entwicklung. Paradoxerweise liefern die Berichte des IWF selbst die besten Argumente für eine Kritik an diesem gefährlichen Irrweg des Währungsfonds und für die Abschaffung dieses Dogmas. Im Dezember 1987 schuf der IWF die Erweiterte Strukturanpassungsfazilität (ESAF), die es Entwicklungsländern mit niedrigem Einkommensniveau ermöglichen sollte, Kredite aufzunehmen. Zehn Jahre später, im August 1997, hatten von 79 anspruchsberechtigten Ländern nur 36 (mit insgesamt 670 Millionen Einwohnern) davon Gebrauch gemacht. Der Währungsfonds hatte bei ihnen Hoffnungen auf eine Sanierung der Zahlungsbilanz und auf Wirtschaftswachstum geweckt und im Gegenzug verlangt, daß sie seine „Konditionalitäten“ akzeptieren und sich zur Kooperation mit dem IWF bei der „Ausarbeitung spezifischer und quantifizierbarer finanzpolitischer Maßnahmen“ verpflichten würden.

Die „Konditionalitäten“ sind mit der Annahme sogenannter Erfüllungskriterien verbunden, die vierteljährlich oder sogar monatlich überprüft werden und wesentliche Aspekte der Innen- oder Außenpolitik des unterstützten Staates berühren. Von der Beachtung dieser Kriterien hängt sowohl die Hilfe der Weltbank als auch ein Großteil der bilateralen Hilfe aus anderen Ländern ab. Der IWF besitzt damit eine Macht, die in keinem Verhältnis zu den von ihm erbrachten Finanzhilfen steht. Wenn die Kritik am IWF zugenommen hat, dann weil die angekündigten Ergebnisse ausgeblieben sind: In den Ländern, die sich seinen Vorgaben unterworfen haben, hat es entweder gar kein Wachstum gegeben oder nur ein ungleich verteiltes; häufig ist die Wirtschaftstätigkeit sogar zurückgegangen.

Um sich zu rechtfertigen, hat der Währungsfonds eine Evaluierung jener Auswirkungen vorgenommen, die seine Maßnahmen zur „Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der ESAF-Länder“ hatten. Dieser Bericht wurde mehrfach überarbeitet und korrigiert und schließlich Ende Februar 1998 veröffentlicht.1 Er befaßt sich mit allen 36 Ländern, die sich Strukturanpassungsprogrammen unterwerfen mußten, und bemüht sich nach Kräften, die Ergebnisse möglichst positiv darzustellen – ohne jedoch überzeugen zu können.

In diesen Ländern ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner zwischen 1981 und 1985, das heißt bevor die Programme gestartet wurden, in jedem Jahr um 1,1 Prozent zurückgegangen. Zwischen 1990 und 1995 lag es bei null. Zum Vergleich: Die Werte für die Länder, die nicht am ESAF-Programm teilgenommen hatten, lagen in den gleichen Zeiträumen bei jeweils plus 0,3 und plus 1,0 Prozent. In den Jahren 1980 bis 1985 belief sich die Auslandsverschuldung in den ESAF-Ländern auf 82 Prozent des BIP. Von 1991 bis 1995 ist sie auf 154 Prozent gestiegen. In den anderen Ländern nahm die Auslandsverschuldung in geringerem Maße zu, nämlich von 56 auf 76 Prozent des BIP. Selbst wenn man die Art akzeptiert, wie der IWF mit dem Zahlenmaterial umgeht, bleibt festzustellen, daß die Länder, in denen er sich nicht engagiert hat, besser dastehen als jene, die sich seinen Vorgaben gebeugt haben.3

Diese Gegenüberstellung krankt im übrigen daran, daß sie demographische Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern nicht berücksichtigt. Während etwa die Hälfte der Bevölkerung der ESAF-Länder in Pakistan und Bangladesch lebt, machen in der Gruppe der anderen Länder die Inder den größten Teil der betroffenen Bevölkerung aus. Davon einmal abgesehen, hat das BIP in den ärmsten ESAF-Ländern zwischen 1985 und 1995 jährlich um 0,1 Prozent abgenommen, in den elf ärmsten Ländern der anderen Gruppe aber um 0,4 Prozent. In den erstgenannten Ländern ist die Auslandsverschuldung von 1980 bis 1995 von 52 Prozent des BIP (16 Länder) auf 154 Prozent (23 Länder) gestiegen. In elf Ländern der zweiten Gruppe hat sie sich verdreifacht und am Ende 117 Prozent erreicht. Im gleichen Zeitraum ist der Schuldendienst, am Export von Gütern und Dienstleistungen gemessen, in den Ländern, die Strukturanpassungsprogramme durchführen, von 16 auf 21 Prozent gestiegen und in den anderen Ländern von 11 auf 23 Prozent.

Diese Zahlen belegen, daß es kaum deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gruppen von Ländern gibt, daß sie alle ernste Wirtschaftsprobleme hatten. Mißt man jedoch Indien aufgrund seiner Bevölkerungszahl größere Bedeutung bei, dann zeigt sich, daß die armen Nicht-ESAF- Länder insgesamt gesehen bessere Resultate erzielt haben. Im Gegensatz zu anderen Ländern mit einem niedrigen Einkommensniveau hat Indien seine Entwicklung nicht vom Umfang seiner Exporte abhängig gemacht und auf diese Weise ein bescheidenes, aber anhaltendes jährliches Wachstum von 3,2 Prozent erzielt. Für den Zeitraum zwischen 1985 und 1995 ist das fast das Dreifache des pakistanischen Wachstums und 50 Prozent mehr, als Bangladesch erzielt hat. Im Unterschied zu seinen beiden großen Nachbarn sind die terms of trade, das heißt die Entwicklung des relativen Verhältnisses zwischen den Preisen für Im- und Exporte, in Indien seit 1985 stabil geblieben, wodurch sich das Land besser gegen die Schwankungen der Weltwirtschaft abschirmen konnte.

Das Beispiel dieser drei Länder liefert bereits beste Argumente gegen die Integration eines Landes in die Weltwirtschaft und die weitgehende Koppelung seiner Entwicklung an ein Exportsystem, das zwangsläufig instabil ist. Da der IWF dies aber zur unabdingbaren Voraussetzung für eine Kreditgewährung erklärt hat, haben sich die Regierungen blindlings dieser Strategie verschrieben: In den Ländern, die sich Strukturanpassungsprogrammen unterworfen haben, hat sich zwischen 1981 und 1985 und zwischen 1991 und 1995 das jährliche Exportwachstum mit einer Steigerung von 1,7 auf 7,9 Prozent mehr als vervierfacht. Mit einer Zunahme von 4,4 auf 5,7 Prozent war dieses Wachstum in den Ländern der anderen Gruppe weniger ausgeprägt. Zwischen 1985 und 1995 sind in 18 sehr armen Ländern, die in den „Genuß“ der Erweiterten Strukturanpassungsfazilität (ESAF) gekommen waren (und für die entsprechende Zahlen vorliegen), die terms of trade um 27 Prozent gefallen.2

Man kann daran ablesen, wie verhängnisvoll die Entscheidung ist, dem Export im Rahmen der Entwicklungsstrategien Priorität einzuräumen, während die Produktpreise fallen. Die 670 Millionen Menschen, deren Regierungen sich den Weisungen des IWF unterwerfen mußten, sind dadurch in den Teufelskreis einer gleichzeitigen Zunahme von Schulden und Armut geraten. Indien hat einen anderen Weg eingeschlagen, auf dem es sich mit anderen Schwierigkeiten auseinandersetzen mußte. Doch diesem Teufelskreis ist es entkommen.

dt. Christian Voigt

* Historiker, Autor von „Century of War“, New York (The New Press) 1994.

Fußnoten: 1 IMF News Brief, Washington, Nr. 97, 14.-28. Juli 1997; IMF Survey, 5. August 1997; IWF, „The ESAF at Ten Years: Economic Adjustment and Reform in Low-Income Countries“, Washington, Bericht Nr. 156, Februar 1998. 2 „Weltentwicklungsbericht: Die Rolle des Staates“, Weltbank, Washington und Frankfurt 1997, Schaubild 3. Dieser Bericht und der vorhergehende aus dem Jahr 1996 sind die wichtigsten Quellen für diesen Artikel.

Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von GABRIEL KOLKO