Die Tigerstaaten entdecken die Massenarbeitslosigkeit
DIE Finanzmärkte beobachten mit Sorge sowohl die Schwierigkeiten Japans, das unter den Auswirkungen der asiatischen Krise leidet und am Rande einer Rezession steht, als auch die schwierigen Verhandlungen zwischen dem IWF und Indonesien. Am härtesten trifft die Krise allerdings nicht die Spekulanten, die politischen Eliten oder die Finanziers aus den Industrieländern, die auf die Märkte der Schwellenländer gesetzt haben. Die wahren Opfer sind die Arbeiter und Angestellten in den Städten Asiens, die as berühmte „asiatische Wirtschaftswunder“ erst hervorgebacht haben und durch deren Anstrengungen die vielgerühmten Tigerstaaten zu Modellen für die Weltwirtschaft erklärt worden sind.
■ Von JOHN EVANS *
Zu Beginn des Sommers 1997 platzt in der thailändischen Hauptstadt Bangkok ein fauler Immobilienkredit. Dieser Vorfall löst eine Kettenreaktion aus: Auf den Zusammenbruch des Finanzsektors folgt der überstürzte Rückzug der ausländischen Investoren. Im Juli beschließt die Regierung das Floating des Baht, der in den drei folgenden Monaten gegenüber dem Dollar 40 Prozent seines Wertes verliert. Die Krise erfaßt Malaysia, Hongkong, Süd-Korea und auch Indonesien, und die Investoren ziehen weiterhin voller Panik ihre Gelder ab. Dabei handelt es sich immerhin um eine Region, deren Wirtschaftstätigkeit sprunghaft zugenommen hatte, in der es zwei Jahrzehnte hindurch zweistellige Wachstumsraten gab und in der seit 1990 40 Prozent des weltweiten Wirtschaftswachstums stattgefunden hatte.
Zu Beginn des Jahres 1998 mußten sich Süd-Korea, Thailand und Indonesien, die alle drei am Rande des Bankrotts stehen, mit der Bitte um neue Kredite an den Internationalen Währungsfonds (IWF) und an westliche Bankenkonsortien wenden. Dabei ist Süd-Korea Mitglied der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die zwölftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Dessenungeachtet haben die Kreditgeber nicht gezögert, das Land in die Kategorie der junk bonds (äußerst spekulative Anleihen mit hohem Risiko) einzuordnen.
In den letzten zwanzig Jahren ist die Arbeitsproduktivität in diesen Ländern sehr hoch gewesen. Auch die Sparerträge, die, einer Untersuchung der Weltbank aus dem Jahr 19931 zufolge, vor allem für Bildung ausgegeben werden, haben zweistellige Prozentzahlen erreicht. Mit einer Massenarbeitslosigkeit hat in dieser Region niemand gerechnet: Dort hatte es an Arbeitskräften eher gemangelt, obwohl eine „klassische“ Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte stattgefunden hatte. Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein, aber man muß sich den Tatsachen beugen: Tigerstaaten hin, Tigerstaaten her, in der Industrie, im Baugewerbe und auch im Dienstleistungssektor werden Arbeitsplätze abgebaut.
Allein für Thailand hat die Weltbank die Zahl der Arbeitslosen am 1. Januar 1998 auf 800000 geschätzt, wobei die Zahl der Erstbewerber um einen Arbeitsplatz gar nicht berücksichtigt wurde. Der thailändische Arbeitsminister rechnet für das Ende des Jahres 1998 mit zwei Millionen Arbeitslosen.2 Im Januar dieses Jahres lag die Industrieproduktion Südkoreas um 10 Prozent unter dem Vorjahreswert, und die Zahl der Arbeitslosen stieg auf mehr als eine Million, was 4,5 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung entspricht – im Januar 1997 waren es nur 2,6 Prozent gewesen.3
In Indonesien hat der Arbeitsminister im Februar 1998 bekanntgegeben, daß die Zahl der Arbeitslosen von 2,5 Millionen (Mitte 1997) auf nunmehr 8 Millionen gestiegen sei. „Wenn keine Maßnahmen ergriffen werden“, warnt Bomer Pasaribu, der Vorsitzende der Federation of All Indonesia Workers' Union (FSPSI), könnte die „offene“ Arbeitslosigkeit 13,5 Millionen Menschen erreichen, das sind 14,5 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung.4 Und dies ist nur die Spitze des Eisbergs: In Indonesien wird jeder, der mindestens eine Stunde gearbeitet hat, als Beschäftigter gezählt. Bomer Pasaribu schätzt die Zahl der Arbeitslosen auf 40 Millionen, das wären 44 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung. Seiner Ansicht nach kommen die Vollzeitbeschäftigten für den Unterhalt von 4,7 Prozent der Bevölkerung auf. Der Weltbank zufolge könnte die Zahl der Armen in kürzester Zeit von 9 auf 10 Millionen steigen.5
In diesen Ländern gibt es keinerlei soziale Absicherung: Wer seinen Arbeitsplatz verloren hat, findet sich auf der Straße wieder oder muß den schwierigen Weg zurück aufs Land, zu Eltern und Verwandten antreten. Nach Jahrzehnten mit zweistelligen Wachstumsraten hatten die Löhne und Gehälter in Süd-Korea das Niveau der wichtigsten OECD-Mitgliedstaaten erreicht, die Entwicklung im Bereich der Sozialleistungen allerdings konnte mit der wirtschaftlichen nicht Schritt halten. Koreanische Arbeitnehmer bestreiten von ihren Gehältern die Ausbildung ihrer Kinder, die Kosten für medizinische Behandlung und ihre Altersvorsorge. Jedoch gibt es weder Arbeitslosengeld noch andere Formen der Hilfe. Massive Entlassungen werden somit zu einem bedeutenden Faktor sozialer Instabilität.
Als in Thailand 1997 die Zahl der Unternehmensschließungen und Entlassungen zunahm, waren die Arbeitgeber nicht in der Lage, die Beschäftigten über die damit entstandene Situation zu informieren und sich mit ihnen zu verständigen. Nachdem just zum Zeitpunkt eines „thailändischen Gipfeltreffens“ aller Zulieferbetriebe der Autoindustrie die Schließungen bekanntgegeben worden waren, kam es im Januar dieses Jahres zu einem Ausbruch von Gewalt. Die Demonstrationen und Straßenblockaden der Arbeiter ließ man durch brutale Einsätze einer Polizeisondereinheit für Aufstandsbekämpfung zerschlagen. In der öffentlichen Meinung fand die Regierung damit allerdings keine Zustimmung, und Umfragen zeigten, daß die Mehrheit den Einsatz von Gewalt in dieser Situation nicht für gerechtfertigt hielt.6 Seitdem geht die Regierung anders vor und versucht, die Krise durch Verhandlungen mit beiden Konfliktparteien zu lösen.
Die größte Gefahr einer sozialen Explosion besteht jedoch in Indonesien. Dort sind durch den Zusammenbruch der Landeswährung und die Inflationsspirale zahlreiche Unternehmen in Konkurs gegangen. Das Land hat dreißig Jahre Diktatur erlebt, ein Nachfolger für Präsident Suharto ist nicht in Sicht. Staat und Wirtschaft leiden unter der allgegenwärtigen Korruption. Das persönliche Vermögen der Familie Suharto wird auf 40 Milliarden Dollar geschätzt, und die Ironie des Schicksals will es, daß die ausländischen Bankenkonsortien, die man zu Hilfe gerufen hat, bei der Berechnung der zu tilgenden privaten und öffentlichen Schulden auf die gleiche Summe kommen ...
Die Schwächsten trifft es zuerst
IN Indonesien wird keine friedliche Opposition geduldet, unabhängige Gewerkschafter landen im Gefängnis, und die Armee spielt eine entscheidende und unberechenbare Rolle auf allen Ebenen der Wirtschaft und der Gesellschaft. So ist sie etwa in den letzten Wochen in Unternehmen aufmarschiert, deren Schließung angekündigt worden war, und hat bei dieser Gelegenheit angeblich von den betreffenden Firmen erhebliche Summen erpreßt. Ein Textilunternehmen erklärte gegenüber Gewerkschaftsvertretern, daß die Lohnkosten nur 7 Prozent seiner Produktionskosten ausmachten, und räumte zugleich ein, er habe 30 Prozent seines Umsatzes für „besondere Zahlungen“ aufgewendet, mit anderen Worten: für Schmiergelder.
Als die Entlassungswelle und die Preiserhöhungen für Lebensmittel angekündigt wurden, ließ sich die Volksseele vom Dämon des Rassismus ergreifen: Es kam zu Plünderungen und zu Übergriffen gegen die chinesische Minderheit, der in Indonesien die meisten Geschäfte gehören. Die Ereignisse weckten schlimme Erinnerungen an die Tragödie von 1965.
Selbst jene, die einen Arbeitsplatz haben, machen überall in der Region die Erfahrung, daß ihre Einkünfte dramatisch an Wert verlieren. Der Zusammenbruch der jeweiligen Landeswährung und die Inflation bringen die Importwirtschaft durcheinander: Manche Produkte sind nicht mehr zu bezahlen oder kaum noch zu bekommen. Die Unsicherheit der Arbeitsplätze wird benutzt, um die Beschäftigten zum Lohnverzicht zu nötigen – eine altbekannte Methode. Hinzu kommt die vom IWF verordnete Sparpolitik, die mit ihren steuerlichen Eingriffen eine weitere Senkung der Realeinkommen bewirkt. Wie üblich trifft es die Schwächsten besonders hart. Das wird auch vom Institut für die Entwicklung Südkoreas eingeräumt: „Für die mittleren und unteren Schichten im Lande verschlechtert sich die Lage durch den schwindelerregenden Preisanstieg, durch die rapide zunehmende Arbeitslosigkeit und durch die drastischen Lohnkürzungen unaufhörlich. Dagegen werden die Reichen immer reicher, weil die Zinsen steigen und weil die Regierung einiges getan hat, um die Kosten von Erbschaftsverfahren zu reduzieren.“7 Von der Katastrophe bleiben auch die Arbeitsimmigranten nicht verschont,8 die während der vergangenen zehn Jahren vor allem aus anderen Ländern des Südens gekommen sind.
Eine weitere Auswirkung dieser Krise ist ihr Einfluß auf das Wachstum in den Industrieländern. Überall haben die Wirtschaftsforscher ihre Prognosen für das weltweite Wachstum um 1 Prozent nach unten korrigiert.9 Obwohl sich die deutliche Rezession der japanischen Wirtschaft in verschiedenen Ländern sehr ungleich auswirkte und ihre Folgen für Europa letztlich eher gering waren, hat bereits die Korrektur der Wachstumsprognosen ausgereicht, um in zahlreichen anderen Ländern die Beschäftigungssituation zu verschlechtern. Die Finanzminister der reichsten Länder haben bei ihrem Treffen in London am 21. Februar dieses Jahres ihre Besorgnis nicht verborgen. Die Unfähigkeit Japans, die eigene Inlandsnachfrage zu befriedigen, hat ausgereicht, das Scheitern der Wirtschaftspolitik der G 7 zu besiegeln.10
In den kommenden Monaten wird den asiatischen Ländern angesichts abgestürzter Devisenkurse und zusammengebrochener Märkte nichts anderes übrigbleiben, als ihre Krise zu exportieren. Aus diesem Grund bemüht sich der IWF vor allem darum, das „Vertrauen“ der ausländischen Investoren in die Region wiederherzustellen. Diese Strategie trägt schon ihre Früchte: Innerhalb von zwei Monaten hat Süd-Korea einen Handelsüberschuß erzielen können, nachdem es zehn Jahre lang Defizite zu verzeichnen hatte, die mit einer drastischen Sparpolitik bekämpft wurden.
Es ist jedoch keineswegs sicher, ob dies der richtige Weg ist. 1994 haben die chinesischen Behörden nach einer genauen Beobachtung der asiatischen Konkurrenz den Yuan um etwa ein Drittel abgewertet. Der finanzielle Vorteil, den sie sich dadurch verschafften, ist durch die Währungszusammenbrüche im vergangenen Sommer zunichte gemacht worden. Sollten die Chinesen diesen Schritt wiederholen und den Yuan weiter abwerten, um mit der regionalen Konkurrenz mithalten zu können, würde dies wahrscheinlich zu einer ganzen Reihe von Abwertungen aus Wettbewerbsgründen führen.
Um eine Eskalation wirtschaftlicher und sozialer Folgen und einen schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung zu verhindern, haben die Gewerkschaften den wichtigsten Politikern in aller Welt nahegelegt, die Globalisierung auch in ihrer sozialen und demokratischen Dimension wahrzunehmen. Dies würde eine Reform des IWF und der Weltbank bedeuten, die Beseitigung der schädlichen Auswirkungen des weltweiten Wachstums, die Bekämpfung der Deflation, die aus der Politik der G 7 resultiert, und schließlich die Schaffung eines Systems zur Regulierung der internationalen Finanzmärkte.
Natürlich darf man die erstaunlichen Erfolge der asiatischen Tigerstaaten nicht verkennen – diese Länder haben sich in wenig mehr als einer Generation von unterentwickelten Agrargesellschaften zu Industrienationen gewandelt. Gegenwärtig ist das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und sozialem Fortschritt jedoch stark ungleichgewichtig. Lange Zeit waren freie Vertragsverhandlungen verboten, sich gewerkschaftlich zu organisieren war ein unsicheres und gewagtes Unterfangen, das häufig mit Verfolgung, Gefängnis und, für besonders Mutige, mit dem gewaltsamen Tod enden konnte. In Indonesien ist Muchtar Pakpahan, der Führer der unabhängigen (nicht anerkannten) Gewerkschaft SBSI, im Juli 1996 wegen seines Engagements in einer Bewegung für die Demokratie verhaftet worden. Ihm droht die Todesstrafe. Er ist schwer krank und liegt gegenwärtig in der Zelle eines Gefängniskrankenhauses. In den vergangenen zehn Jahren haben in Malaysia und Süd-Korea alle unabhängigen Gewerkschaftsführer mehr oder weniger lange Haftstrafen verbüßt.
Dies ist sowohl Ausdruck wie Ergebnis eines „Kapitalismus der Kumpanei“. Daß es keine unabhängigen Gewerkschaften gibt, scheint den Finanz- und Wirtschaftseliten das Gefühl zu vermitteln, weder den arbeitenden Menschen noch der Gesellschaft insgesamt Rechenschaft schuldig zu sein. Dieser Mangel an Verantwortung und Transparenz hat zur Ausbreitung der Korruption beigetragen. Die politisch Verantwortlichen verstecken sich hinter den „asiatischen Werten“, um die Verstöße gegen die Menschenrechte zu bemänteln, und beschuldigen ihre ausländischen Kritiker des Neokolonialismus. Dies hindert aber gerade gewisse „ausländische“ Mächte nicht daran, einigen Diktatoren Kredite zur Verfügung zu stellen – schließlich können sie davon ausgehen, daß die Erträge dieser Gelder wieder rückexportiert werden.
Bei einer Versammlung von Gewerkschaftsführern aus der Region Singapur im Februar dieses Jahres11 wurde ein Bankier gefragt, ob private Investoren in Zukunft vorsichtiger agieren würden, wenn es darum geht, ihr Kapital in Ländern anzulegen, in denen es an Transparenz mangelt und in denen die grundlegenden Menschenrechte nicht respektiert werden. Der Bankier antwortete ganz unbefangen, es gehe den Finanzinstitutionen nur um den Profit und sie würden ihr Geld in jedem Land anlegen, das die Rentabilitätskriterien erfüllt. Die Krise in Asien zeigt jedoch, wie hoch die Kosten einer solchen Haltung sind.
dt. Christian Voigt
* Generalsekretär des beratenden Gewerkschaftskomitees bei der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Paris.