Die Transnationale bekämpft das Menschenrecht
Von ALAIN GRESH
EIN außerordentliches Paradox prägt unsere Zeit: Die Globalisierung schreitet von Sieg zu Sieg, die Kommunikationsmittel schaffen uns eine Verbindung in Echtzeit zu jedem beliebigen Punkt der Welt, das weltweite Passagieraufkommen steigt unablässig – doch der Platz, den die Medien „auswärtigen Angelegenheiten“ einräumen, schrumpft wie Chagrinleder. Einschlägige Untersuchungen belegen es: In Paris wie in Washington1 , in London wie in Madrid haben Fernsehen und Presse ihre Auslandsberichterstattung spürbar eingeschränkt. Doch keine Regel ohne Ausnahme: Wenn der Nikkei-Index in Tokio fällt, werden wir sofort informiert; wenn der Dow Jones an der Wall Street neue Rekorde verzeichnet, sollen wir uns freuen; wenn die Börsenkurse in Seoul ins Taumeln geraten, ist sorgenvolles Stirnrunzeln angesagt. Die Börsenindizes sind zum einzigen „sozialen Band“ des „Weltdorfs“ geworden.
Parallel dazu ist der Elan der internationalen Solidarität, der die Jugend der westlichen Welt in den sechziger und siebziger Jahren für Algerien, Vietnam, Kuba und Südafrika auf die Straße trieb, quasi verschwunden. Bosnien war kein „spanischer Bürgerkrieg“ der neunziger Jahre. Die innere Zerrissenheit Algeriens gibt zwar Anlaß zu polemischen Auseinandersetzungen, doch zu konkreten Aktionen für dieses gepeinigte Volk kann man sich aufgrund unterschiedlicher Einschätzungen und Herangehensweisen nicht durchringen.
Dabei lassen sich die Mißstände in sämtlichen Ländern deutlicher als je zuvor auf gleichen Ursachen zurückführen. Hundertfünfzig Jahre nach der Veröffentlichung des „Kommunistischen Manifests“ sind dessen wirtschaftspolitische Vorahnungen von verblüffender Aktualität. „Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien (...) werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien (...), deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“
Unter diesen Bedingungen, schlossen Marx und Engels, werde „die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit (...) mehr und mehr unmöglich“. Im Widerspruch zu dieser Vorhersage jedoch ist gerade der zunehmende Rückzug auf die eigene – zumal die „ethnische“ – Identität ein Kennzeichen unserer Zeit. Dies ist allerdings nur scheinbar ein Widerspruch, denn wie Alain Badiou in seinen anregenden Überlegungen zum Universalismus2 darlegt ist die „Fragmentierung in abgeschlossene Identitäten“ nur die Kehrseite der „Welt, die sich endlich formiert hat, allerdings als Markt, als Weltmarkt“. Und weiter: „Nichts bietet sich mehr an für die Erfindung neuer Formen monetärer Homogenität als eine Gemeinschaft und ihr Territorium oder ihre Territorien. Welch unerschöpfliche Entwicklungsmöglichkeiten für Handelsinvestitionen“ entstehen mit der Herausbildung dieser zahllosen Gemeinschaften! Die vielen Kleinstaaten, die an die Stelle von Jugoslawien und der Sowjetunion getreten sind, haben der Dampfwalze der liberalen Marktwirtschaft keinerlei Widerstand geboten.
Zur gleichen Zeit, da die Welt vom Identitätswahn ergriffen wurde, löste sich in Frankreich, aber auch im übrigen Europa, die keineswegs ohne Probleme zustande gekommene Solidarität von einheimischen und ausländischen Arbeitern auf. Generationen hindurch hatte diese Solidarität die Arbeiter geeint und durch den gemeinsamen Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung alle Immigranten integriert, die in aufeinanderfolgenden Wellen ins Land kamen: Italiener, Polen, Ostjuden, Spanier und so weiter. Das soll nicht heißen, daß der heutige Chauvinismus und Rassismus keine historischen Vorläufer hätte; die Krise der dreißiger Jahre hatte dem Alten Kontinent bekanntlich schon einmal einen Aufschwung des Rechtsextremismus beschert.
Neu ist hingegen, daß die Linke zum ersten Mal ihre internationalistischen und brüderlichen Prinzipien aufgibt. Unter dem Vorwand, die Nation retten und den Front National bekämpfen zu wollen (das Ausmaß des Erfolgs dürfte bekannt sein), hat nach der Rechten nun auch die Linke die Immigration ins Zentrum ihrer Debatten gerückt und der Vorstellung, es gäbe einen Zusammenhang zwischen der Massenarbeitslosigkeit und den Ausländern, Glaubwürdigkeit verliehen. Nur noch ein (letztes) Gesetz zur Kontrolle der Einwanderungsströme, nur noch ein paar „Rückführungen an die Grenze“, und Frankreich wäre gerettet ...
Berechenbarkeit macht frei
ANFANG April geißelte der französische Innenminister all jene, die auf den Flughäfen gegen die neuen Methoden der Ausweisung von Immigranten protestierten; einigen Passagieren drohte er sogar an, sie würden in die Zentralkartei des Schengener Abkommens aufgenommen und dürften Europa fortan nicht mehr betreten. Ähnlich wie Georges Marchais weiland Daniel Cohn-Bendit in der KP-Zeitung L'Humanité im Frühjahr 1968 als „deutschen Anarchisten“ beschimpfte, wird auch die Organisation „Jugend gegen den Rassismus in Europa“ neuerdings als „trotzkistische Organisation britischer Herkunft“ abgekanzelt.3 Was soll diese Verurteilung? Ist der Trotzkismus etwa ein Vergehen? Ist es ein Verbrechen, wenn sich Briten an europäischen Aktionen beteiligen? Wird man den Gewerkschaften der 15 EU-Länder morgen einen Vorwurf machen, wenn sie gemeinsam gegen die Schließung einer Fabrik demonstrieren, wie vor einigen Monaten gegen die Abwicklung der Renault-Werke im belgischen Vilvorde? Endet Europa da, wo die Solidarität beginnt?
Wie Alain Badiou schreibt: „In einer Zeit, da alles zirkuliert und sich bewegt und da das Phantasma einer sich in Gleichzeitigkeit vollziehenden kulturellen Kommunikation um sich greift, werden überall neue Gesetze und Regelungen zur Unterbindung der persönlichen Bewegungsfreiheit verabschiedet (...). Alles, was quantifizierbar, berechenbar ist, soll sich frei bewegen – vor allem das Kapital, der Inbegriff des Berechenbaren. Doch Bewegungsfreiheit für das unberechenbare Unendliche, das ein einzelnes Menschenleben darstellt, niemals!“ Denn wir dürfen nicht vergessen, daß hinsichtlich des realen Lebens der Menschen „zwischen der globalisierten Logik des Kapitals und dem französischen Identitätsfanatismus“ ein „widerwärtiges Zusammenspiel“ existiert.
Dies erleichtert es uns nicht gerade, einen neuen Universalismus zu erfinden und neue Solidaritätsbande zu knüpfen, auch wenn wir beides angesichts der transnationalen Herausforderungen, mit denen sich die Welt konfrontiert sieht, dringend benötigen. Ob es um Ökologie, um die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, um die Aids-Krankheit, um die Ausgrenzung der Frauen, um weltweites Elend, soziale Ungleichheit, Kriege oder die Flüchtlingsproblematik geht – kaum eine dieser Fragen läßt sich im nationalen Alleingang lösen.
Die Kommunistische Internationale, die „Zentrale des Weltproletariats“, ist verschwunden, und die Idee eines „geheimen Drahtziehers“ der Revolution scheint nur noch in den Köpfen einiger Innenminister zu spuken, die immer irgendein Feindbild brauchen. Der Internationale der Finanzleute hingegen geht es prächtig. Sie besitzt ihre „Politbüros“, ihre Diskussionsforen und ihren Propagandaapparat. Die Erlässe und Verordnungen, die sich auf das Leben von Milliarden Menschen auswirken, werden fortan von der Europäischen Kommission, der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Welthandelsorganisation (WTO) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beschlossen – und dies vielfach unter größter Geheimhaltung, wie das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) zeigte.
Die Vereinten Nationen, deren wirtschaftspolitische Bedeutung trotz mancher Reformvorschläge4 immer schon begrenzt war, fungieren meist nur als Registrierkammer, in der die Entscheidungen der Vereinigten Staaten abgesegnet werden.5 Die Finanz- und Industrielobbys haben diesen Sachverhalt längst erkannt und in Brüssel und Washington ihr Quartier aufgeschlagen. Geradezu sprachlos macht es hingegen, zu sehen, wie zersplittert die sozialen Kämpfe sind, wie borniert sich die nationalen Gewerkschaften in vielen Fragen verhalten und wie schwer es dem Widerstand gegen den Wirtschaftsliberalismus fällt, sich auf internationaler Ebene zu organisieren.
Globale Netze gegen die transnationale Dampfwalze
SICHERLICH bleibt der Nationalstaat vorerst ein wichtiger Handlungsrahmen, und sicher wird sich der Widerstand weiterhin zunächst national formieren, wie an der großen sozialen Bewegung in Frankreich im November und Dezember 1995 deutlich wurde. Doch bekanntlich sind solche Demonstrationen begrenzt und defensiver Natur, wenn man sie mit der transnationalen Dampfwalze vergleicht. Überdies ist der Nationalstaat – eine historisch relativ neue und sich wandelnde Organisationsform6 – sicherlich nicht jene ideale und mythenschwere Konstruktion, zu der ihn ein Teil der Linken in nostalgischer Rückschau stilisiert; er war schließlich zentraler Bestandteil der Kolonialkriege, des Kampfes gegen die Arbeiterbewegung, der sicherheitspolitischen und moralischen Ordnung, der Diskriminierung der Frauen und der Marginalisierung von Minderheiten. Und wenn er neuerlich gegen die „gefährlichen Klassen“ und die Immigranten wieder in autoritäre Formen abdriftet, so kann man das auch im Namen einer vorgeblich republikanischen Ordnung nicht einfach so hinnehmen.
Welche Formen der Rebellion und Dissidenz wären den globalisierten Herausforderungen angemessen? Amnesty international ist es (ebenso wie anderen regierungsunabhängigen Organisationen, etwa Greenpeace) gelungen, mit ihrem weltweiten Organisationsnetz die Verteidigung der Menschenrechte voranzutreiben und dabei ihre Definition der Menschenrechte zunehmend zu erweitern (vgl. den Beitrag von Pierre Sané auf Seite 2); mittlerweile kann amnesty auch bei multinationalen Unternehmen wie IWF, Weltbank, Europäische Kommission oder UNO ihren Einfluß geltend machen. Die Arbeitslosendemonstrationen in Europa sind ein erster, wenn auch kleiner Schritt zum Aufbau von Netzen, die parallel in allen Ländern, aber auch bei den EU-Institutionen in Brüssel und Straßburg vorstellig werden und die vielfältigen Möglichkeiten nutzen könnten, die die europäischen Institutionen bieten. Mit den modernen Kommunikationsmitteln und namentlich dem Internet lassen sich problemlos weltweite Netze schaffen und für gemeinsame Aktionen mobilisieren.
Das Prinzip „lokal und global handeln, global denken“ erfordert freilich eine Neubegründung des Universalismus, eines Universalismus, der sich nicht auf die Werte des Weißen (westlichen) Mannes reduziert, welcher bereits beim Anblick eines verschleierten Mädchens in Rage gerät, weil er eigentlich nur eines wünscht: „die gleichschaltende Diktatur dessen, was ihm als Moderne gilt“, um einen treffenden Ausdruck von Alain Badiou zu gebrauchen.
Die Stagnation der Sowjetunion und der anschließende Zusammenbruch der kommunistischen Utopie haben eine bestimmte Version des Internationalismus diskreditiert. Sogar die humanitäre Ideologie, die Millionen Männer und Frauen bei Kriegen und Naturkatastrophen zur Soforthilfe animierte, hat ihre mobilisierende Wirkung weitgehend eingebüßt. Daß die westlichen Regierungen ihre passive Haltung angesichts der Verbrechen in Bosnien und des Völkermords in Ruanda mit „humanitären“ Gründen rechtfertigten, hat niemand eindringlicher kritisiert als Ärzte ohne Grenzen, eine Organisation, die diesen humanitären Ansatz verkörpert.
Angesichts der Fundamentalismen, des Identitätswahns und der zunehmenden interethnischen Konflikte – die jedoch nicht verhindern, daß die beteiligten Milizionäre Coca-Cola trinken, Intellektuelle Microsoft-Programme verwenden und die Anführer um internationale Kapitalien werben – müssen die Völker völlig neue Formen des Zusammenlebens und Zusammen-Kämpfens erfinden. Sie haben dabei nichts zu verlieren, doch – um Marx und Engels zu paraphrasieren – „eine Welt zu gewinnen“.
dt. Bodo Schulze