Die verdrängte Wahrheit
ISRAELS „neue Historiker“, mit deren Arbeiten sich Dominique Vidals Buch „Israels Erbsünde“1 beschäftigt, haben dazu beigetragen, die Konformität des Denkens in der zionistischen Geschichtsschreibung aufzulösen. Der Kernpunkt des Streits zwischen „alten“ und „neuen“ Historikern liegt in der Wahrnehmung und Interpretation des zunächst israelisch-palästinensischen, dann israelisch-arabischen Kriegs von 1947 bis 1949. Die neuen Historiker – Benny Morris, Avi Shlaim, Ilan Pappé – versuchten, zu der geschichtlichen Wahrheit über die Massenflucht der Palästinenser vorzudringen, die unter der soliden Deckschicht der offiziellen Sichtweisen verborgen war, und sind damit gegen die offizielle Geschichtsschreibung angetreten. In ihren Arbeiten wird sichtbar gemacht, was der Zionismus verdrängt hat: Daß Israels Aufstieg unter den Palästinensern eine nationale Katastrophe auslöste. Wenn der palästinensische Exodus anerkannt wird, ist der Mythos vom makellosen Entstehen des Zionismus nicht zu halten. Israels Wiedergeburt, eigentlich eine gerechte Sache, wurde doch zumindest teilweise auf Kosten der Palästinenser erreicht.
Die Geschichte der Vertreibung der Palästinenser, die nun nach der gewaltigen kollektiven Verdrängung wieder zum Vorschein kommt, zeigt das Maß an Verantwortung, die der Staat Israel und seine Gründerväter tragen. Israel sei zwar nicht mit einem umfassenden Konzept und einer Politik der Vertreibung angetreten, meint Benny Morris, habe aber die Zerstörung arabischer Dörfer und die Vertreibung der Bewohner ganz bewußt betrieben, um damit eine Massenflucht auszulösen und zu fördern. Sein Fachkollege Ilan Pappé hat überzeugend dargelegt, daß David Ben Gurion eine Strategie der Vertreibung verfolgte.
Der Verlauf dieser Debatten wird in der genauen, klar gegliederten und sorgfältig dokumentierten Arbeit von Dominique Vidal nachgezeichnet, wobei dem Autor das Kunststück gelingt, ausgehend von einer unanfechtbaren Darlegung der geschichtlichen Tatsachen eine brillante Zusammenfassung der Beiträge jener neuen israelischen Historiker zu liefern, die außerhalb Israels kaum bekannt sind.
Dominique Vidal erscheinen diese jüngsten Forschungen grundsätzlich begrüßenswert, und mit methodischer Genauigkeit nimmt er Bezug auf die These von der Überlegenheit der Zionisten, die am Vorabend ihrer Unabhängigkeit politisch und militärisch weitaus besser gerüstet waren als ihr arabischer Gegner. Auch versäumt Vidal nicht, manche begriffliche Unklarheiten und fragwürdige Schlußfolgerungen bei Benny Morris zu kritisieren. Er läßt überdies mit beachtlicher Objektivität auch Vertreter der offiziellen zionistischen Geschichtsschreibung zu Wort kommen, allen voran Shabtai Teveth.
Es geht bei diesem Streit zwischen Traditionalisten und Neuerern auch um Israels Ethos und um die Herausbildung seiner Identität. Das israelische Wesen, das seit langem durch die drohende Vernichtung geprägt ist, muß nun in seine Selbstwahrnehmung und seinen Gründungsmythos auch die Selbstwahrnehmung des Anderen, des Palästinensers und Arabers, miteinbeziehen. Erst wenn diese Sichtweisen zusammengeführt werden, sich wechselseitig durchdringen, wenn Schock und Katharsis ausgelöst werden, die mit der in Oslo vereinbarten gegenseitigen Anerkennung untrennbar verbunden sind, erst dann wird man von Frieden und Aussöhnung reden dürfen.
In dieser Hinsicht hat Dominique Vidal, hervorragend unterstützt von Joseph Algazy, mit seinem Buch dem Frieden einen außerordentlichen Dienst erwiesen.
JEHUDA LANCRY
Vizepräsident der Knesset, ehemaligerisraelischer Botschafter in Frankreich