15.05.1998

Völker, stört die Signale!

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Völker, stört die Signale!

Von SERGE HALIMI

DER surrealistische Dichter Louis Aragon „träumt einen langen Traum, in dem jeder träumen würde“. Und der Romancier André Gide erinnert: „Wie viele junge Zauderer gab es, die sich tapfer wähnten und denen beim bloßen Wort ,Utopie' plötzlich die Luft ausging, aus Angst, in den Augen der Vernünftigen als Phantasten zu gelten. Als wäre nicht jeder große Fortschritt der Menschheit der Verwirklichung einer Utopie zu verdanken.“ Doch für den Anthropologen, den Ökonomen, Historiker oder Aktivisten, der die Welt verändern will, ist es nicht dienlich, die Rolle des sympathischen, aber weltfremden Pierrots zu übernehmen und seinen Gegnern die vorteilhafte Pose des realitätsnahen Machers zu überlassen. Denn auch der Neoliberalismus ist die Verwirklichung einer Utopie, und seine Gedankenblitze von einst sind heute die Konstruktionspläne unserer Regierenden.

Karl Polanyi hegte in seinem im Grenzbereich zwischen Wirtschaftsgeschichte und Sozialanthropologie angesiedelten Werk von 1944 die Hoffnung, wir stünden – nachdem die „great transformation“ vollbracht und die Welt von der „Utopie des sich selbst regulierenden Markts“ befreit sei – „am Anfang einer beispiellosen Ära der Freiheit“, in der wir endlich „der Wirklichkeit der Gesellschaft [wieder] ins Auge blicken“ können.1

Seither ist mehr als ein halbes Jahrhundert verstrichen. Was Polanyi als überwundene Vergangenheit ansah, ist heute wieder Alltag; die große Umwälzung hat der großen Restauration Platz gemacht. Und letztere, die auch heute wieder als „Naturzustand der Gesellschaft“ (Alain Minc) ausgegeben wird, sucht sich erneut, auch heute wieder, im Namen der Freiheit als alleinige Wirklichkeit durchzusetzen. Im kapitalistischen „Zirkel der Vernunft“ ist kaum Platz für Dissidenten, das heißt für „Utopisten“ und Verrückte.

Von der Ewigkeit des Kapitalismus

EINMAL davon abgesehen, daß verrückt heute ganz andere sind. Bereits 1776 brachte Adam Smith den Gedanken von der Ewigkeit des Kapitalismus auf. Unter Berufung auf eine „natürliche Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen“, postulierte er als allgemeingültiges Gesetz, daß die Summe der wirtschaftlichen Egoismen gleichbedeutend sei mit dem größtmöglichen Wohl der Gemeinschaft: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“2 Smith machte einen Fehler bei seiner Prophezeiung. Er verstand sich als Anthropologe einer universellen und immerwährenden Freiheit, doch er sollte sich als Prophet der industriellen und kommerziellen Verschleißmühle erweisen. Wie Polanyi schreibt: „Keine fehlerhafte Interpretation der Vergangenheit hat sich je als so zukunftsweisend herausgestellt.“

Andere hoben Smith' „außerordentlichen Ethnozentrismus“ hervor, welcher in der Annahme bestehe, „Mönche, Grundherren, Inka-Priester und die Bewohner der Trobriand-Inseln würden in ihrem Leben durch dieselben Marktgesetze bewegt, die das Verhalten eines Londoner Börsenmaklers oder eines Getreidehändlers in Iowa bestimmen“3 . Dessen ungeachtet bahnte Smith' utilitaristische Utopie, die den Menschen zum ewig berechnenden ökonomischen Tier erklärt, der Marktgesellschaft und ihrer fortschreitenden Globalisierung den Weg.

Schon Marx und Engels legten vor 150 Jahren dar, der neue Glaube und das neue Gesetz hätten wenig „Natürliches“ an sich: Die Bourgeoisie „hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ,bare Zahlung'. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst (...), und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu sehen. Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.“4

Sicher gab es schon vor der Marktwirtschaft Märkte. Doch waren sie voneinander isoliert und nur eine in komplexe gesellschaftliche Beziehungen eingebettete Randerscheinung, so daß „das Gewinnmotiv dem Kaufmann ebenso eigentümlich blieb wie der Mut dem Ritter, die Frömmigkeit dem Priester und die Fertigkeiten dem Handwerker“5 . Ehedem verlief das Leben im Rhythmus einer dreifachen Pflicht: geben, nehmen und wiedergeben. Ist diese „Logik des Gebens“ im Namen der neuen Wissenschaft erst einmal vernichtet, tritt der Vertrag an die Stelle des Stands, und Güter ersetzen das soziale Band.6 Karl Polanyi betont, daß „dieses Abenteuer in der Geschichte der menschlichen Rasse absolut beispiellos ist“. Das einzige Motiv, das die Menschen nunmehr haben, am wirtschaftlichen Leben teilzunehmen, ist bei den einen die Angst vor Hunger, bei den anderen die Gier nach Profit. Man will nicht mehr „zulassen, daß Einnahmen anders zustande kommen als durch Verkauf. Ebensowenig darf die Anpassung der Preise an die jeweiligen Marktbedingungen Gegenstand irgendwelcher Eingriffe sein.“

Großbritannien war das erste Land, in dem eine solche „liberale Utopie“ entfesselt wurde – eine „Fabrik des Teufels, welche die Menschen zermalmte und in Massen verwandelte“, ein „Angriff von unerbittlicher Roheit“, ein „Akt der Vivisektion am Gesellschaftskörper, ausgeführt durch diejenigen, die sich dank einer Selbstsicherheit, wie nur die Wissenschaft sie verleiht, gegen ihre Aufgabe abgestumpft haben“. Von Mindesteinkommen keine Rede: Der Mensch findet seinen gerechten Preis auf dem Markt. Hier und da ist der Preis Hunger, wie 1847 in Irland, als fast ein Fünftel der Bevölkerung an Hunger starb.7

Jedes soziale Netz verwandele „Reichtum und Macht in Elend und Schwäche“, versicherte der Theoretiker des Freihandels, David Ricardo. Belehrt durch Experimente mit Ziegen und Hunden auf einer pazifischen Insel beweist auch William Townsend, wie stark ein spezieller Anreiz wirken kann: „Hunger zähmt selbst die wildesten Tiere; die Ärmsten wird er Anstand und Gesittung, Gehorsam und Unterordnung lehren.“ Postwendend fand diese liberale Wissenschaft in die englische Armengesetzgebung von 1834 Eingang: Jede Hilfe wurde gestrichen. Man verglich die Armen mit Ratten und schlußfolgerte, daß die Zahl der Armen zurückgehen werde, wenn man sie ins Elend stürzte. Die Sprachregelung hat sich seither zwar gewandelt, doch die kürzlich gefaßten Beschlüsse in den Vereinigten Staaten und Großbritannien über die Abschaffung bestimmter Sozialleistungen und die verstärkte Überwachung der „gefährlichen Klassen“ scheinen von einem nicht sehr verschiedenen Geiste geprägt zu sein.8

So naturgemäß und wissenschaftlich die neoliberale Utopie sich auch darstellen mag, ohne die tätige Mithilfe der öffentlichen Hand hätte sie nie überleben können. Der Staat dereguliert Arbeit und Grundbesitz, schafft und erweitert die Finanzmärkte und sorgt für öffentliche Ordnung. Polanyi hat dieses Paradox herausgestellt: „Die ,einfache und natürliche Freiheit' von Adam Smith mit den Bedürfnissen einer menschlichen Gesellschaft zu vereinbaren, ist eine sehr vielschichtige Angelegenheit. (...) Man errichtete Zitadellen der Regierungseinmischung, um einige einfache Freiheiten zu verändern, die Freiheit von Grund und Boden, der Arbeit und der Gemeindeverwaltung (...). So mußten selbst diejenigen, deren Philosophie ganz auf die Beschränkung der Staatstätigkeit ausgerichtet war, ebendiesen Staat mit neuen Befugnissen, Organen und Instrumenten ausstatten, die für die Durchsetzung des Laissez-faire nötig waren.“

Von der Steuerung des Laissez-faire

NOCH heute muß die europäische Verwaltungs- und Regierungsmaschinerie auf vollen Touren laufen, um eine einheitliche Währung und einen einheitlichen Binnenmarkt zu schaffen. Der zweitausendseitige Vertragstext des nordamerikanischen Freihandelsabkommens strotzt vor Regelungen und Bestimmungen. Die OECD entwickelt eine schier unglaubliche Phantasie und List, um die Nationalstaaten zu lähmen, den Sozialstaat zur zerstören und das heilige Recht der Investoren abzusichern. Die neoliberale „Natur“ ist eindeutig ein merkwürdig Ding: Ständig braucht sie staatliche Unterstützung.

Als 1873 die Wirtschaftskrise und die Verbreitung des allgemeinen Wahlrechts schließlich eine erneute Rückbindung der Wirtschaft an die Gesellschaft bewirkten, „befand sich Europa gerade in einer Blütezeit des Freihandels. Nationen und Völker waren nur noch Marionetten in einem Schauspiel, das sie nicht mehr im geringsten unter Kontrolle hatten. Vor Arbeitslosigkeit und Instabilität schützten sie sich mit Hilfe von Zentralbanken und Zollschranken, ergänzt durch Einwanderungsgesetze.“ Und nun trat das zweite Paradox auf den Plan. „Während die Ökonomie des Laissez- faire durch absichtsvolles staatliches Handeln hervorgebracht wurde, entstanden die späteren Einschränkungen zunächst spontan. Das Laissez-faire war planvoll gesteurt, die Planung nicht.“ Denn das Scheitern der „Marktutopie“, das aus der Entgesellschaftung der Wirtschaft resultierende drohende Chaos, zwang alle Länder zum Reagieren, ungeachtet ihrer jeweiligen Mentalität und Geschichte.

In England waren es die Konservativen und Liberalen, in Deutschland die Katholiken und die Sozialdemokraten, in Frankreich die Kirchenfeinde und die Geistlichen: „Die Verteidigungsfront gegen den allgemeinen Gesellschaftszerfall war genauso umfassend wie die Angriffslinie.“ So begann „the great transformation“. In ihrem Gefolge wurde der Arbeitsvertrag geregelt und vergesellschaftet, wurden Kinderschutzgesetze erlassen und sanitäre Vorschriften beschlossen, wurde der Preis für Grundnahrungsmittel festgelegt, die Investitionslenkung eingeführt, die staatliche Umverteilung erweitert und dem Markt die Kontrolle des Geldes entzogen. Die „Moderne“ unseres ausgehenden Jahrhunderts verrät den hartnäckigen Willen, diese Errungenschaften wieder rückgängig zu machen. Und eine neoklassizistische Utopie zu rehabilitieren, die bereits einmal zerschellt ist, nachdem sie die Gesellschaft zerstört hatte.9

Reicht es also, abzuwarten, daß die Implosion des Dogmas erneut jene demokratischen Räume öffnet, die sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre einer nach dem anderen verschlossen haben? Die Gefahren einer solch abwartenden Haltung machen die Dringlichkeit einer neuen Utopie offensichtlich. Die beiden letzten Zerfallsprozesse des sich selbst regulierenden Markts (1873-1896 und 1929-1935) zeitigten unterschiedliche Reaktionen.10 Die eine, die autoritäre und anschließend faschistische, festigte zunächst die bedrohte Macht der preußischen Junker, die sich angesichts des Chaos als „Fürsprecher der Tugenden der Natur und derer, die sie bearbeiten“, zu profilieren wußten. Später dann mündete „die Sackgasse, in die sich der liberale Kapitalismus manövriert hatte“, in Italien und Deutschland in „eine Reform der Marktwirtschaft, die nur um den Preis der Ausrottung sämtlicher demokratischer Institutionen zu haben war“.

Doch gab und gibt es glücklicherweise noch die andere Utopie – jene, die von einem System der gegenseitigen Hilfe träumt, in welchem das soziale Band erneut geknüpft wird, ohne das frühere Herrschaftssystem zu rehabilitieren; jene, die das armselige Leben der Nachtwächter einen Augenblick außer acht läßt, nicht länger Arbeit und Produktion verherrlicht und dafür an die Ikarus-Träume anknüpft, die einst in der „Nacht der Proletarier“11 entstanden; jene Utopie, die sich dem Fortdauern dessen, was ist, widersetzt und die Mechanismen einer Fatalität demontiert, die immer dieselben dazu verurteilt, zuzuhören und still zu erdulden.

In der Geschichte hat es diese Utopie Millionen Männern und Frauen ermöglicht, durchzuhalten, so daß es zu jenen Tagen im Juni 1936, im August 1944 oder im Mai 1968 kommen konnte. Denn Siege hat es gegeben: Fabrikbesitzer, die einsehen mußten, daß sie nicht von Gott eingesetzt sind; Staaten, die aus dem Joch der „Geldmauer“ heraustraten; soziale Errungenschaften, die keineswegs in der Natur der Sache lagen – wie die derzeitigen Versuche zeigen, sie abzuschaffen. Diese „andere“ Utopie wiegt die erstere auf. Durch sie haben wir gelernt, daß in einer Zeit, in der so viele Menschen zwar zusammentreffen, sich jedoch einsam fühlen, wir uns nicht mit den gegebenen Umständen abfinden dürfen.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Karl Polanyi, „The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen“, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1978. Alle Zitate ohne Angabe stammen aus diesem Werk. Vgl. auch J. M. Servet, J. Maucourant, M. Servet (Hrsg.), „La modernité de Karl Polanyi“, Paris (L'Harmattan) 1998. 2 Adam Smith, „Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen“, München 1978, S. 16f. 3 George Dalton (Hrsg.), „Primitive, Archaic and Modern Economies. Essays of Karl Polanyi“, Boston (Beacon Press) 1971, S. XXVIII. 4 Marx, Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin (Ost) 1974, S. 464f. 5 Karl Polanyi, „Our obsolete market mentality“, in George Dalton (Hrsg.), „Primitive, Archaic and Modern Economies. Essays of Karl Polanyi“, a. a. O., S. 67. 6 „Le bien remplace le lien“ formulierte es der Soziologe Marcel Mauss. 7 Vgl. Ibrahim Warde, „Irland vor 150 Jahren: Hungern als Reformprojekt“, Le Monde diplomatique, Juni 1996. 8 Vgl. das Dossier „Die neuen Herren der Welt“, und Loic Wacquant, „Clinton reformiert Armut zu Elend“, Le Monde diplomatique, Mai 1995 bzw. September 1996. 9 Vgl. Pierre Bourdieu, „Le néo-libéralisme, utopie (en voie de réalisation) d'une exploitation sans limites“, in „Contre-feux“, Paris (Liber – Raisons d'agir) 1998. 10 Vgl. das sehr erhellende Buch von Peter Gourevitch, „Politics of Hard Times: Comparative Responses to International Economic Crises“, Ithaca (Cornell University Press) 1986. 11 Jacques Rancières, „La nuit des prolétaires: Archives du rêve ouvrier“, Paris (Fayard) 1981.

Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von SERGE HALIMI