15.05.1998

Wessen Morgen ist es morgen?

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Wessen Morgen ist es morgen?

Von IGNACIO RAMONET

AUF mehreren Flughäfen Europas sprang den Passanten im Januar dieses Jahres von den Wänden ein und dasselbe Plakat ins Auge. Darauf sah man in Anspielung an Bilder aus der chinesischen Kulturrevolution eine Reihe Menschen im Gegenwind – offensichtlich die Spitze eines Demonstrationszuges: bunte, wehende Fahnen, und davor strahlende Gesichter, aus deren Mündern die Parole erklang: „Kapitalisten aller Länder, vereinigt euch!“ Forbes, die amerikanische Zeitschrift für Milliardäre, feierte damit spöttisch den 150. Jahrestag der Veröffentlichung des „Manifests der Kommunistischen Partei“ von Karl Marx und Friedrich Engels.

Ohne Widerspruch befürchten zu müssen (die Plakate wurden weder beschädigt noch mit tags beschmiert), tat Forbes auf diese Weise gleich zweierlei kund: Niemand hat mehr Angst vor dem Kommunismus und: Der Kapitalismus ist endgültig auf dem Vormarsch.

Da in diesem Jahr nicht nur der Geburtstag des berühmten Manifests aus der Feder zweier junger Leute – Marx war damals 30 Jahre alt, Engels erst 28 – gefeiert wird, sondern auch der hundertfünfzigste Jahrestag der Revolution von 1848 sowie der dreißigste Jahrestag der 68er-Revolte, liegt die Frage nahe, was das Kapital wohl zu solch neuer Arroganz bewegt.

Begonnen hat diese Arroganz nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Untergang der Sowjetunion in einem Kontext politischer Benommenheit, in der sich die gähnende Leere der zerstörten Illusionen breitgemacht hatte. Die plötzliche Enthüllung, welche Folgen die jahrzehntelange Verstaatlichungspolitik in Osteuropa gezeitigt hatte, führte bei vielen Zeitgenossen zu Verunsicherung. Deutlich traten die tragische Absurdität und die Ungerechtigkeiten dieses Systems zutage, das weder Freiheit noch Marktwirtschaft kannte. Das sozialistische Denken brach in gewisser Weise zusammen, genauso wie der zur Ideologie geronnene Fortschrittsglaube, der sich die vollständige Planung der Zukunft angemaßt hatte.

In der Linken wurden vier neue Überzeugungen hoffähig: Kein Land kann sich ernsthaft ohne Marktwirtschaft entwickeln; die systematische Verstaatlichung der Produktions- und Tauschmittel führt zu Vergeudung und Mangelwirtschaft; Austerität im Dienste der Gleichheit ist allein noch kein Regierungsprogramm; Gedanken- und Meinungsfreiheit haben eine gewisse wirtschaftliche Freiheit zur Grundvoraussetzung. Diese Überzeugungen drohen heute jegliche Hoffnung auf eine radikale Umwälzung der Gesellschaft zu untergraben.

Doch das Scheitern des Kommunismus und der Zusammenbruch des Sozialismus führten indirekt auch zur ideologischen Auflösung der traditionellen Rechten (deren gemeinsame Doktrin allein auf dem Antikommunismus basierte), so daß der Neoliberalismus als großer Sieger des Ost-West-Konfliktes dastand. Nachdem der Hauptgegner, der ihn schließlich seit Beginn des Jahrhunderts gebremst hat, verschwunden ist, entfaltet sich der Neoliberalismus heute mit ungebremster Energie im Weltmaßstab und träumt davon, seine Weltanschauung und die eigene Utopie der ganzen Erde als Einheitsdenken aufzuzwingen.

DIESES Eroberungsunternehmen heißt Globalisierung. Es resultiert aus der ständig wachsenden wirtschaftlichen Interdependenz aller Länder aufgrund einer ungehinderten Zirkulation des Kapitalverkehrs, der Abschaffung von Zollschranken und behördlichen Regelungen sowie der Intensivierung des Handels und des Warenaustauschs, die von Weltbank, IWF, OECD und der Welthandelsorganisation vorangetrieben werden.

Eine Abkoppelung der Finanzsphäre von der Realwirtschaft ist die Folge. Von den 1500 Milliarden Dollar, die auf den weltweiten Finanzmärkten täglich umgesetzt werden, dient nur 1 Prozent zur Schaffung neuen Reichtums. Der Rest dient rein spekulativen Zwecken.

Selbst in den hochentwickelten Industrieländern geht dieser Aufschwung des Neoliberalismus mit einem erheblichen Bedeutungsverlust der öffentlichen Akteure, vor allem der Parlamente einher, mit einer rücksichtslosen Umweltzerstörung, sprunghaft steigender sozialer Ungleichheit und der massiven Rückkehr von Armut und Arbeitslosigkeit. Das bedeutet die Negierung des modernen Staats und der Staatsbürgerschaft.

Darüber hinaus findet eine immer schärfere Trennung statt zwischen der fortschreitenden Entwicklung neuer Informationstechnologien auf der einen und der Idee vom sozialen Fortschritt auf der anderen Seite. Der Aufschwung der Molekularbiologie seit Anfang der sechziger Jahre in Verbindung mit der ungeheuer erweiterten Rechenleistung der modernen Computer hat die allgemeine Stabilität des Techniksystems gesprengt. Die Kontrolle dieses Systems durch öffentliche Instanzen wird zunehmend schwieriger. Resultat: Die politisch Verantwortlichen erweisen sich als unfähig, die Gefahren der immer rasanteren Entwicklung der Technowissenschaften1 zu ermessen und geraten auch in diesem Bereich in Abhängigkeit von Experten, die, wenngleich durch keine Wahl legitimiert, die Regierungsentscheidungen im Hintergrund steuern.

Die Computerrevolution hat unsere Gesellschaft aus den Angeln gehoben; sie hat den Warenverkehr von Grund auf verändert und die Ausweitung der Informationswirtschaft sowie die Globalisierung vorangetrieben. Letztere hat zwar noch nicht alle Länder der Welt in eine Einheitsgesellschaft verwandelt, aber sie drängt mittels der Vernetzung sämtlicher Erdteile alle Länder zur Annahme eines einheitlichen Wirtschaftsmodells. Sie erzeugt eine Art gesellschaftlichen Zusammenhalt wirtschaftsliberaler Natur, der nur aus Netzwerken besteht und in dem die Menschheit des hypertechnologischen Zeitalters in atomisierte Individuen zerfällt.

Konsequenz: Die soziale Ungleichheit nimmt zu. In den Vereinigten Staaten, dem reichsten Land der Welt, gibt es mehr als 60 Millionen Arme, und in der Europäischen Union, der weltweit führenden Handelsmacht, mehr als 50 Millionen. In den Vereinigten Staaten besitzt 1 Prozent der Bevölkerung 39 Prozent des Reichtums. Und das Vermögen der 358 reichsten Menschen der Welt, allesamt Dollar-Milliardäre, übersteigt das Jahreseinkommen der ärmsten 45 Prozent der Weltbevölkerung, das heißt von 2,6 Milliarden Menschen.

Das Konkurrenzdenken ist zum natürlichen Imperativ der Gesellschaft erhoben worden. Es führt dazu, daß den Menschen der Sinn von „Zusammenleben“ und „Gemeinwohl“ abhanden kommt. Gleichzeitig fließen die Gewinne aus der Produktivitätssteigerung in das Kapital und nicht in die Arbeit, die Kosten der Solidarität werden als unerträgliche Last angesehen und das Gebäude des Sozialstaats eingerissen.2

Angesichts der Brutalität und Plötzlichkeit all dieser Veränderungen verschwinden sämtliche Orientierungspunkte, die Zweifel mehren sich, die Welt erscheint undurchsichtig, die Geschichte scheint sich jedem Zugriff zu entziehen. Der Bürger steht im Zentrum dieser Krise, so wie Antonio Gramsci sie definierte: Krise ist, „wenn das Alte stirbt, und das Neue noch nicht werden will“. Oder wie Tocqueville sagen würde: „Wenn die Vergangenheit aufhört, die Zukunft zu erhellen, tappt der Geist im dunkeln.“

IN den Augen vieler Bürger ist die neoliberale Vorstellung, der Westen sei reif, unter den Bedingungen einer absoluten Freiheit zu leben, ebenso utopisch – und ebenso dogmatisch – wie das revolutionäre Ziel absoluter Gleichheit. Sie fragen sich, wie sie die Zukunft neu denken können. Und äußern das Bedürfnis nach einer anderen Utopie, einem neuen rationalen Weltverständnis. Sie warten auf eine Art politische Prophezeiung, auf ein durchdachtes Zukunftsprojekt, auf das Versprechen einer versöhnten Gesellschaft, die sich im völligen Einklang mit sich selbst befindet.

Doch es erhebt sich die Frage, ob zwischen den Ruinen der Sowjetunion und den Trümmern unserer durch die neoliberale Barbarei destrukturierten Gesellschaften heute noch Platz ist für eine neue Utopie. Auf den ersten Blick scheint dies wenig wahrscheinlich, weil das Mißtrauen gegenüber politischen Gesamtentwürfen weit verbreitet ist, weil die Organe der Volksvertretung eine schwere Krise durchleben, die technokratischen Eliten und die in den Medien präsenten Intellektuellen erheblich in Mißkredit geraten sind und sich zwischen den großen Medien und ihrem Publikum ein tiefer Graben aufgetan hat.

Die Wahlbeteiligung geht bei allen Wahlen ständig zurück, die Zahl leer abgegebener Stimmzettel und der Anteil derer, die sich gar nicht erst in die Wählerlisten eintragen, steigt weiter. In Frankreich ist jeder dritte unter fünfundzwanzig Jahren nicht eingetragen. Kaum 2 Prozent der Wähler sind in diesem Land politisch aktiv, und nur 8 Prozent der Beschäftigten sind Mitglieder einer Gewerkschaft (die beiden letzten Prozentangaben sind die niedrigsten in der ganzen westlichen Welt). In der Sozialistischen Partei gibt es heute praktisch keine Funktionäre mehr, die aus den unteren Schichten stammen, und die Kommunistische Partei hat nicht nur ihre politische, sondern weitgehend auch ihre soziale Identität verloren.

Dennoch würden viele Bürger gerne der barbarischen neoliberalen Maschinerie ein Körnchen Menschlichkeit hinzufügen, sich verantwortlich in die Gesellschaft einbringen und gemeinsam mit anderen handeln. Sie würden gern gegenüber Verantwortungsträgern aus Fleisch und Blut ihre Vorwürfe, Sorgen, Ängste und Verunsicherung äußern, doch die Macht ist heute weitgehend abstrakt, unsichtbar, ungreifbar und unpersönlich geworden. Sie würden zu gerne weiter daran glauben, daß die Politik auf alles eine Antwort weiß, doch die Politik tut sich immer schwerer, einfache und klare Antworten auf die vielschichtigen Probleme der Gesellschaft zu finden. Doch jeder spürt die Notwendigkeit eines globalen Gegenentwurfs, einer Gegenideologie, eines konzeptuellen Gebäudes, das sich gleich einer festen Burg der neoliberalen Brandung entgegenzustellen vermag.

Ein solches Konzept ist nicht leicht zu erstellen. Wir müssen praktisch wieder bei null anfangen, weil die bisherigen, auf dem Fortschrittsdenken gegründeten Utopien allzu oft in Autoritarismus, Unterdrückung und geistiger Manipulation untergegangen sind.

Einmal mehr besteht Bedarf an Träumern, die denken, und Denkern, die träumen können; die uns keinen fertig geschnürten, wohlverpackten Gesellschaftsentwurf liefern, sondern uns zeigen, wie die Gesellschaft zu betrachten und zu analysieren wäre, um die anarcholiberale Ideologie mit Hilfe einer neuen Ideologie schließlich noch rechtzeitig unschädlich zu machen.

Der Anarcholiberalismus stellt durch Fragmentierung und Parzellierung eine selbstsüchtige Gesellschaft her. Dagegen hilft nur die Wiederentdeckung des Kollektiven als Zukunftsträger.3 Und die kollektive Aktion geschieht heute ebenso im Rahmen der Bürgervereinigungen wie in den Parteien und Gewerkschaften. In Frankreich hat die Zahl solcher Initiativen in den letzten fünfzehn Jahren stark zugenommen, angefangen von der Obdachlosenspeisung „Restos du cur“ und der Aids-Initiative „Act Up“ über die Arbeitsloseninitiative „Agir ensemble contre le chômage“ (AC!) und den Verein gegen Zwangsräumung „Droit au logement“ (DAL) bis hin zu den lokalen Ablegern großer internationaler regierungsunabhängiger Organisationen wie Greenpeace, amnesty international, Médecins du monde, Transparency und so weiter.

Die Parteien besitzen unter anderem zwei Merkmale, die ihre Glaubwürdigkeit mindern: Sie sind einerseits Generalisten (mit dem Anspruch, sämtliche Probleme der Gesellschaft zu regeln), anderseits agieren sie aber nur lokal, da ihr Aktionsradius jeweils an der Landesgrenze endet. Genau spiegelbildlich dazu verhält es sich mit den Bürgervereinigungen: Sie sind einerseits an einzelnen Themen orientiert, beschäftigen sich also nur mit einem bestimmten gesellschaftlichen Problem (Arbeitslosigkeit, Wohnungsfrage, Umweltproblematik usw.), andererseits sind sie aber grenzüberschreitend tätig: Ihr Aktionsradius erstreckt sich auf die ganze Welt.4

IN den letzten zehn Jahren verfolgten diese beiden Ansätze – der generalistische und der problemorientierte – mitunter gegensätzliche Richtungen. Neuerdings scheinen sie sich jedoch aufeinander zu zu bewegen. Ihr Zusammengehen ist unabdingbar. Ohne eine Lösung dieser Gleichung wird es keine Erneuerung des Politischen geben. Denn die Initiativen, die an der Basis entstehen und somit vom politischen Reichtum der Zivilgesellschaft zeugen, gleichen die Defizite der Gewerkschaftsbewegung und der Parteien zwar einigermaßen aus, doch sind sie häufig nur als Pressure-groups tätig und entbehren der nötigen demokratischen Legitimation durch Wahlen, um ihre Forderungen durchsetzen zu können. Irgendwann kommt also die Politik ins Spiel, und folglich ist es von höchster Wichtigkeit, daß die Verbindung zwischen Initiativen und Parteien zustande kommt.

Die Bürgervereinigungen glauben nach wie vor daran, daß man mit einem radikalen Demokratieansatz die Welt verändern kann. Somit sind sie zweifellos der Ort, an dem das politische Handeln in Europa wiederaufersteht. Ihre Aktivisten werden die Worte Victor Hugos (“Die Utopie ist die Wahrheit von morgen“) und Lamartines (“Utopien sind Wahrheiten, deren Zeit noch nicht gekommen ist“) bestätigen und schon bald unter anderen Himmeln, anderen Bannern und in anderen Bürgerrechtsbewegungen wieder auftauchen.

Dann gelingt es vielleicht, die Organisation der Vereinten Nationen erneut in den Mittelpunkt des internationalen Rechtssystems zu stellen, so daß sie wieder in der Lage ist, Entscheidungen zu fällen, zu handeln und einen Plan für einen dauerhaften Frieden durchzusetzen; dann gelingt es vielleicht, die internationalen Gerichtshöfe zu stärken, die über die Verbrechen gegen die Menschheit, die Demokratie und das Gemeinwohl urteilen sollen; und vielleicht gelingt es dann auch, die Manipulation der Massen zu unterbinden, der Diskriminierung der Frauen ein Ende zu setzen, neue ökologische Gesetze einzuführen, dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung zum Durchbruch zu verhelfen, die Steueroasen abzuschaffen und die Solidarwirtschaft zu fördern.

„Riskiere den Schritt auf Wegen, die noch niemand betreten; riskiere den Kopf für Gedanken, die noch niemand gedacht“, stand auf den Mauern des Odéon-Theaters in Paris im Mai 1968 zu lesen. Wenn wir eine Ethik der Zukunft begründen wollen, fordert die derzeitige Lage zu ähnlichen Kühnheiten heraus.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Vgl. „Ravages des technosciences“, Manières de voir, Nr. 38, März/April 1998. 2 Vgl. Riccardo Petrella, „Économie sociale et mondialisation de l'économie“, Quebec (Suco édit.) 1997. 3 Vgl. Pierre Bourdieu, „Die Sachzwänge des Neoliberalismus“, Le Monde diplomatique, März 1998; s. a. ders., „Le néo-libéralisme, utopie (en voie de réalisation) d'une exploitation sans limites“, Contre-feux, Paris (Liber-Raison d'agir) 1998. 4 Nur die Bewegungen „Bildung für alle“, wie die „Liga für Unterricht“, Foyers Léo-Lagrange“, Foyers ruraux, besitzen ebenso wie die Parteien eine umfassende Zielvorstellung: die Erziehung zum Staatsbürger.

Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von IGNACIO RAMONET