Diplomatische Schattenspiele am Golf
Die Delegation des amerikanischen Kongresses, die sich, angeführt von dem Republikaner Newt Gingrich und dem Demokraten Richard Gephardt, Ende Mai in Israel aufhielt, hat die unnachgiebige Haltung Benjamin Netanjahus begrüßt und erneut deutlich gemacht, daß die Parlamentarier sich gegen jeden Versuch Washingtons wenden, auf Israel Druck auszuüben. Daß die israelisch-palästinensischen Verhandlungen festgefahren sind, bedeutet allerdings ein Problem für die amerikanische Strategie am Golf. Nachdem beeits der Versuch gescheitert ist, die arabischen Verbündeten gegen den Irak zu mobilisieren, sehen sich die USA auch mit Widerständen aus Europa und von seiten Rußlands konfrontiert, das zunehmend selbstbewußt auftritt.
■ Von unserem Korrespondenten ALAIN GRESH
Wenige hundert Meter von der Moskwa entfernt, am unteren Ende der Arbat, einer Einkaufsstraße mit ihren Schaufenstern voller Westprodukte und dem unvermeidlichen McDonald's, erhebt sich stolz das Außenministerium, einer der sieben stalinistischen Wolkenkratzer, die in den fünfziger Jahren errichtet worden sind. Das in Stein gehauene Hammer-und-Sichel-Emblem gibt dem Gebäude sein Gepräge. Die dicken schwarzen Limousinen, das Beharren auf den alten Symbolen und die Tatsache, daß das Ministerium von Jewgenij Primakow geleitet wird, der schon zu Sowjetzeiten Führungspositionen innehatte – man könnte glauben, hier stehe die Zeit still. Genau dies wird ein paar tausend Kilometer entfernt in Washington von zahlreichen Kommentatoren und Journalisten lautstark beklagt, insbesondere seit der Irakkrise im Januar und Februar des Jahres.1 Für Richard Perle, ehemaliger Beamter des amerikanischen Verteidigungsministeriums und einer der aktivsten Verfechter einer Strategie der Destabilisierung von Präsident Saddam Hussein, „war die Rolle, die Rußland in dieser Phase gespielt hat, enttäuschend. Primakow hat uns in die Ära Breschnews und Gromykos zurückversetzt. Er gehört zu jenen, die bedauern, daß die Sowjetunion den Kalten Krieg verloren hat. Wir müssen dem Kreml zu verstehen geben, daß seine Ernennung zum Außenminister bedauerlich ist.“
Wiktor Pasowaljuk, Stellvertretender Außenminister und Leiter des Ressorts Naher Osten, kann es nicht fassen. Der ausgezeichnet Arabisch sprechende ehemalige Botschafter in Bagdad, der sich bisweilen als Komponist betätigt, hat sich in der von der französischen Regierung als „Krise der Präsidentenpaläste“ bezeichneten Phase mehr als 45 Tage im Irak aufgehalten. Er ist dreimal mit Präsident Saddam Hussein zusammengetroffen, hat unzählige Stunden mit dem irakischen Vizepremier Tarik Asis verhandelt und der israelischen Regierung die Nachricht übermittelt, Bagdad habe sich verpflichtet, den israelischen Staat nicht anzugreifen. Empört meint er: „Eine Rückkehr zum Kalten Krieg? Hätten wir nach den damaligen Spielregeln gehandelt, hätten wir unterderhand den Krieg geschürt. Die Vereinigten Staaten hätten einen hohen Preis für ihre Luftangriffe bezahlt, und wir hätten davon profitiert. Statt dessen haben wir auf eine friedliche Lösung und die Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen den fünf ständigen Sicherheitsratsmitgliedern hingewirkt.“
„Wir wußten nicht, was die Russen vorhaben“, kontert Robert H. Pelletreau, ehemaliger Stellvertretender Staatssekretär im Außenministerium. „Wir hatten den Eindruck, Moskau wolle uns Konkurrenz machen.“ Woran liegt es, daß beide Seiten so sehr aneinander vorbeireden? Handelt es sich um ein Mißverständnis, um eine „Rückkehr zum Kalten Krieg“, oder bilden sich in den amerikanisch-russischen Beziehungen neue Spielregeln heraus?
Alexij K. Puschkow betreut die Rubrik Internationale Politik der Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta. Der dem Außenministerium nahestehende Journalist, einer der einflußreichsten russischen Experten, führt aus: „Um die Entwicklung unserer Außenpolitik zu verstehen, muß man zeitlich ein wenig zurückgehen. 1991 wollten wir uns in den Westen integrieren, deshalb haben wir uns seiner Politik untergeordnet. Vielleicht war das eine Illusion, vielleicht war es gar nicht möglich ... Jedenfalls wollte der Westen nichts von uns wissen, wie man an der Erweiterung der Nato um drei ehemalige Warschauer- Pakt-Staaten ersehen kann. Diese Erweiterung bedroht unsere Sicherheit in keiner Weise, doch sie ist ein deutliches Zeichen dafür, daß Rußland im neu errichteten politisch-strategischen Gefüge keinen Platz hat. Die Alternative war klar: Entweder Rußland akzeptiert, für den Westen ein zweitrangiger Partner zu bleiben, oder es strebt eine autonome Rolle entsprechend den eigenen Interessen an, ohne sich dem Westen unterzuordnen. Wir haben die zweite Option gewählt.“ – „Rußland und Amerika sind keine Feinde, doch sie müssen Rivalen sein“, erklärte Puschkow in der International Herald Tribune2 .
Daß man eine multipolare Weltordnung anstrebt, ist in Moskau inzwischen weitgehend Konsens. Kaum jemand fordert noch die Anpassung an Washington. „Die Irakkrise hat bestätigt, daß eine einzige Supermacht nicht alle Probleme auf diesem Planeten lösen kann“, unterstreicht Wladimir P. Lukin, Vorsitzender der Außenpolitischen Kommission der Duma. Der als „Demokrat“ geltende Politiker ist soeben von einer Reise in die USA zurückgekehrt, wo er dem Kongreß die russische Haltung „erklären“ sollte. „Obwohl in dieser Phase das Verhalten der USA, vor allem gegenüber den Verbündeten, sehr fragwürdig war, hat es eine Art von Arbeitsteilung in der internationalen Gemeinschaft gegeben. Und daran wird sich Washington gewöhnen müssen.“ Bei seinen Gesprächen hat Lukin auch befremdliche Eindrücke gewonnen: „Jesse Helms, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Senat, der noch nie ins Ausland gereist ist, denkt sich die Lösung von Konflikten ähnlich wie in einer Fernsehserie: Am Ende gewinnt automatisch der Sheriff, und die Bösen werden bestraft.“
Dennoch macht sich niemand Illusionen darüber, daß die Welt noch über Jahre von der „einzigen Supermacht“ beherrscht sein wird. Welche Aufgabe könnte Rußland in dieser Übergangszeit erfüllen? Witali Naumkin, Direktor des Zentrums für strategische Forschung und internationale Studien, ein langjähriger Kenner der Nahostpolitik, stellt sich die Frage: „Sollen wir die Türkei, den Iran oder China in ihren nationalen Ambitionen bestärken? Wird die multipolare Welt eine Welt sein, in der jedes Land seine eigenen Interessen verteidigt?“
Eine einfache Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Dennoch versuchen die russischen Verantwortlichen, im Bewußtsein der – insbesondere ökonomischen – Grenzen ihres Handelns, die vitalen Interessen des Landes zu definieren. Für den Islamspezialisten Alexij Malaschenko, Forscher im Moskauer Büro der Carnegie- Stiftung für internationalen Frieden, „sind das slawische Europa und der Nahe Osten zwei vorrangige Regionen. Sie grenzen beide an unser Land, und was im Nahen Osten und am Golf passiert, hat auch Auswirkungen auf uns oder unsere nahe Umgebung, wie beispielsweise Tschetschenien, Tadschikistan, Afghanistan und andere Länder. Selbst wenn die islamische Einheit eine Parole bleibt, kann man den Einfluß der Länder des Nahen Ostens auf die Entwicklung eines radikalen Islam im Kaukasus nicht leugnen.“
Rußland ist, wie Malaschenko weiter ausführt, auch ein muslimischer Staat, mit 17 Millionen praktizierenden Gläubigen, und „einzelne Politiker, unter denen sich auch Duma-Mitglieder finden, haben letztes Jahr sogar gefordert, wir sollten uns der Organisation der Islamischen Konferenz anschließen.“ Trotz der starken antiislamischen Ressentiments, die sich vor allem seit dem Krieg in Tschetschenien gezeigt haben, verfügen die Muslime bereits über eine Pressure-group.
Die russischen Orientexperten unterscheiden drei Zonen. In der Reihenfolge ihrer Bedeutung sind dies: die Staaten Zentralasiens und des Kaukasus, die ehemals Sowjetrepubliken waren; die südlichen Anrainer Iran, Türkei und Afghanistan; und schließlich die arabischen Länder und Israel. „Wir sind ein fester Bestandteil dieser Region“, betont Wiktor Pasowaljuk, „und alles, was dort geschieht, betrifft auch uns. Es stimmt, daß wir eine Periode der Schwäche durchgemacht haben und unsere ökonomischen Mittel begrenzt sind, so daß wir unseren Verbündeten keine unbeschränkten Kredite mehr anbieten können. Wir haben von unserem Volk auch kein Mandat für unbegrenzte Waffenlieferungen. Aber wir haben Trümpfe in der Hand.“
Manche dieser Trümpfe sind durchaus neu. Vor allem ist Rußland nicht mehr in seiner ideologischen Bündnispolitik gefangen, die in den achtziger Jahren dazu führte, daß nur die Kontakte zu Syrien, Süd-Jemen, Libyen und dem Irak gepflegt wurden. Seit es nicht mehr als destabilisierende, revolutionäre und atheistische Macht gilt, hat Rußland ein dichtes Netz von Beziehungen zu allen Ländern der Region geknüpft, von Saudi-Arabien bis nach Ägypten – nicht zu vergessen Israel, wo Hunderttausende von Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion leben. Die andauernden Meinungsverschiedenheiten mit der Regierung von Benjamin Netanjahu stehen weder fruchtbaren Handelsbeziehungen im Wege – 1996 betrug das Handelsvolumen 750 Millionen Dollar –, noch behindern sie einen intensiven kulturellen Austausch und ständige politische Konsultationen. Nathan Scharansky, ehemaliger Dissident und heute israelischer Minister für Handel und Industrie, der die Partei der russischen Immigranten anführt, spielt dabei eine aktive Rolle. Doch Moskau empfängt auch Benjamin Netanjahu, Ariel Scharon, Avigdor Kahalani und andere. Zur Erinnerung: Zwischen 1967 und 1990 hatte die Sowjetunion alle Beziehungen mit Israel, auch die diplomatischen, abgebrochen.
Während es bis in die achtziger Jahre nur in Kuwait präsent war, hat Rußland mittlerweile in allen Monarchien am Golf Botschaften eingerichtet. Und man hat begonnen, Waffen in diese Länder zu verkaufen. Viele Geschäftsleute und Firmenvertreter leben dort – allein 7000 in den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Als Vorteil könnte es sich auch erweisen, daß in Moskau unterschiedliche Machtzentren bestehen. Die Erdöl- und Erdgasgesellschaften, die Agentur für Waffenexporte (Rosvooruschenje) und die Geschäftsleute, ganz zu schweigen von den politischen Instanzen wie dem Kreml, dem Außen- oder dem Verteidigungsministerium, der Duma und anderen, sie alle können ihre eigene Strategie entwickeln, und damit gewinnt „die“ russische Politik an Geschmeidigkeit. So haben die zahlreichen Meinungsverschiedenheiten mit Ankara über Aserbaidschan, Tschetschenien, Zypern und Kurdistan die Türkei nicht daran gehindert, zum wichtigsten regionalen Handelspartner Rußlands zu avancieren, das sogar bereit ist, der Türkei Kampfhubschrauber zu liefern.
Schließlich profitiert Rußland, wie übrigens auch Europa, vom wachsenden Antiamerikanismus in der Region, der in der öffentlichen Meinung, bei Intellektuellen und sogar bei politischen Führern festzustellen ist. Der Kontrast zwischen der zaghaften Haltung Präsident Clintons gegenüber der Regierung von Benjamin Netanjahu und seiner Härte gegenüber dem Irak wird hier als Fortsetzung der ungerechten Politik mit „zweierlei Maß“ gesehen, die während des Golfkriegs eingeleitet wurde.
Trotz dieser günstigen Rahmenbedingungen kehrt Rußland nicht ohne Mühen auf die Bühne der regionalen und internationalen Politik zurück. Wie Alexij K. Puschkow eingesteht, „waren in vielen Ländern die Positionen bereits bezogen; die Vereinigten Staaten waren fest etabliert. Wir mußten uns vor allem auf die Länder besinnen, zu denen wir besondere Beziehungen haben, wie Irak, Iran, Indien, Kuba oder andere.“ Aber alle, die an der „neuen Weltordnung“ unter der alleinigen Vorherrschaft der Vereinigten Staaten verzweifeln, haben erkannt, welche Vorteile sie aus den neuen Gegebenheiten ziehen können. Entsprechend hat die irakische Führung bewußt versucht, Moskau auf ihre Seite zu ziehen. Im Rahmen der dritten Phase des Abkommens „Öl gegen Lebensmittel“, also zwischen Dezember 1997 und Mai 1998, haben zwölf russische Gesellschaften den Zuschlag für den Kauf von 40 Prozent des zu exportierenden Erdöls erhalten.3
Die Politik des Kreml war seit Anfang der Krise eindeutig: Ein amerikanischer Militärschlag, der um so gefährlicher wäre, als Rußland nicht weit vom möglichen Kriegsschauplatz entfernt ist, sollte verhindert und in der Frage der Inspektion der Präsidentenpaläste eine Kompromißlösung gefunden werden. Moskau schienen die amerikanischen Drohungen übertrieben, selbst wenn man einräumt, daß der Irak seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist. Rußland konnte um so besser eine Vermittlerrolle übernehmen, als es neben Frankreich das einzige einflußreiche Land ist, das bei Präsident Saddam Hussein Gehör findet und der baathistischen Führung, mit der Washington keine Kontakte wünscht, „Botschaften übermitteln kann“. Rußland betrachtet sein Engagement als Erfolg. „Wir haben der Regierung Clinton ermöglicht, sich gut aus der Affäre zu ziehen“, meint ein hoher Beamter des Außenministeriums. „Man muß hinzufügen, daß ein amerikanischer Militärschlag gegen den Irak zu großen Spannungen zwischen dem Kreml und Washington geführt hätte.“
Dennoch hat es zwischen Moskau und Washington eindeutig Meinungsverschiedenheiten gegeben. Die russischen Diplomaten glaubten eine Zeitlang, sie könnten eine neue Vereinbarung ausarbeiten, um die Zahl der Inspektionen in den Präsidentenpalästen zu begrenzen, aber dieser Vorschlag wurde vom Weißen Haus zurückgewiesen. Grundsätzlicher sind die Unterschiede zwischen beiden Hauptstädten, was die Einschätzung der Zukunft des Regimes von Saddam Hussein angeht. Doch das ist nichts Neues: Witali Naumkin erinnert sich, daß Andrej Kosyrew, der dezidiert prowestliche Außenminister, der im Januar 1996 durch Jewgenij Primakow abgelöst wurde, „der erste war, der erklärt hat, Saddam Hussein könnte sich ändern und bessern“. Diese Einschätzung deckt sich mit der Position Frankreichs. Anläßlich des Besuchs des irakischen Vizepremierministers Tarik Asis im Mai 1998 in Paris erklärte die Sprecherin des französischen Außenministeriums: „Die Wiedereingliederung des Irak in die internationale Gemeinschaft ist möglich und wünschenswert.“4
In Washington weist man eine solche Sicht der Dinge entrüstet zurück. Wie so oft sind die Verantwortlichen auf ihre eigene Propaganda hereingefallen und beharren in ehrlicher Überzeugung darauf, Saddam Hussein sei Adolf Hitler. „Der Irak ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges das einzige Land der Welt, das versucht hat, ein anderes Land zu vernichten. Wir werden dieses Regime nie rehabilitieren. No chance!“, empört sich ein hoher Beamter des Außenministeriums.
Der Ausgang der jüngsten Krise im Januar und Februar 1998 hat in den USA einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen, selbst wenn die Verantwortlichen eingestehen, daß ein Militärschlag ohne Zweifel wirkungslos gewesen wäre. „Es ist zugleich ein Sieg Saddam Husseins und der Vereinigten Staaten“, räumt Richard W. Murphy ein, der zwischen 1983 und 1989 die Funktion eines Unterstaatssekretärs für Nahostangelegenheiten ausübte. „Saddam Hussein ist es gelungen, sich durch den Generalsekretär der Vereinten Nationen, der ihm und dem Land Respekt zollte, eine gewisse Anerkennung zu verschaffen.“
„Was uns betrifft“, fährt Murphy fort, „so haben wir durchgesetzt, daß das Recht der Unscom auf Kontrolle aller Orte einschließlich der Präsidentenpaläste bestätigt wurde.“ Er muß jedoch zugeben, daß diese „ausgeglichene“ Bilanz „den Zorn des Kongresses, der proisraelischen Lobby und der Presse geweckt hat.“
Rivalität ohne Feindschaft
DER am 23. Februar 1998 von UN-Generalsekretär Kofi Annan und dem irakischen Vizepremierminister Tarik Asis unterzeichnete Text weist die UN- Sonderkommission für die Abrüstung des Irak (Unscom) an, „die legitime Sorge des Irak um seine Sicherheit, Souveränität und nationale Würde zu respektieren“5 . Er schreibt darüber hinaus den Inspektoren, die in Zukunft von Diplomaten begleitet sein werden, ein relativ eng definiertes Vorgehen bei der Inspektion der Präsidentenpaläste vor. „Das ist es, was die Irakis seit 1991 wollten“, meint Kenneth Pollack vom Washington Institute for Near East Policy. „Es ist ihnen darüber hinaus gelungen, die Unscom und die Vereinten Nationen gegeneinander auszuspielen.“
Jedenfalls sind sich alle einig, daß Saddam Hussein aus der Krise gestärkt hervorgegangen ist. Wenige Monate vor den Kongreß- und knapp zwei Jahre vor den Präsidentschaftswahlen bedeutet dies eine enorme innenpolitische Herausforderung für die amerikanische Regierung. Weder Präsident Bill Clinton noch der auf seine Nachfolge hoffende Vizepräsident Al Gore wären erfreut, wenn Newt Gingrich, republikanischer Vorsitzender des Repräsentantenhauses, im Fernsehen mit der Behauptung auftreten würde, die Demokraten hätten den Irak verloren, während Präsident George Bush dort einen strahlenden Sieg errungen habe.
Zahlreiche konservative Abgeordnete setzen sich für eine „Option Contra“ nach dem Muster des Vorgehens gegen die Sandinistenregierung in Nicaragua ein. Das hieße Unterstützung der Opposition, der man die in den Vereinigten Staaten blockierten irakischen Guthaben von 1,2 Milliarden Dollar übertragen könnte, die Eröffnung eines Radios Freier Irak, die Schaffung von „befreiten Zonen“ im Süden und Norden des Landes, wo sich „Freiheitskämpfer“ etablieren könnten, denen man amerikanische Luftunterstützung gewährt, und ähnliches. Doch nur wenige Verantwortliche glauben an diese Strategie, die zum einen von der höchst fraglichen Einigung der Oppositionskräfte ausgeht und darüber hinaus ein langfristiges amerikanisches Engagement bedeuten würde, was in den USA nicht besonders geschätzt wird. Die amerikanische Regierung hofft seit langem auf einen Staatsstreich, der dem Regime ein Ende macht, ist jedoch nicht bereit, irgendeinen General offen zu einem solchen Schritt zu ermutigen – etwa indem für den Fall eines Regimewechsels eine Aufhebung der Sanktionen in Aussicht gestellt würde.6
Die Tatsache, daß die „Option Contra“ unrealistisch ist, sollte nach Ansicht Kenneth Pollacks allerdings nicht dazu führen, daß gar nichts unternommen wird. „Natürlich können wir noch drei oder vier Jahre lang Sanktionen durchsetzen, doch das würde zu starken Spannungen mit unseren Verbündeten führen. Man muß mit ihnen darüber verhandeln, unter welchen strengen Auflagen die Sanktionen aufzuheben wären. Dazu müßte neben einer langfristigen Kontrolle der Massenvernichtungswaffen auch ein Verbot des Ankaufs von konventionellen Offensivwaffen durch den Irak gehören, ebenso die Anerkennung Kuwaits, wobei im Falle von Grenzverletzungen eine Militärintervention garantiert sein müßte.“ Daß diese Strategie kaum durchsetzbar ist, räumt auch Pollack ein. Denn welcher amerikanische Politiker würde die Verantwortung dafür übernehmen, Sanktionen gegen „Saddam Hitler“ aufzuheben?
Der amerikanischen Regierung bleibt also nichts übrig, als mit der gleichen Politik weiterzumachen und zu versuchen, die Verbündeten durch kleine Anpassungen günstig zu stimmen. In diesem Sinn haben die USA im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1153 unterstützt, die am 20. Februar 1998, mitten in der Krise, verabschiedet wurde. Sie ist eine Fortsetzung der Resolution 986 mit der Bezeichnung „Öl gegen Lebensmittel“ und gestattet dem Irak, pro Halbjahr Erdöl im Gegenwert von 5,2 Milliarden Dollar zu exportieren.7 Die genauen Modalitäten werden zur Zeit verhandelt. Die Vereinigten Staaten wollen, daß der Vertrag statt der bisherigen sechs Monate eine Periode von achtzehn Monaten umfaßt, um die dann jeweils verlängert werden könnte – damit würde der Zeitpunkt der Aufhebung der Sanktionen weiter in die Ferne gerückt. Daneben wünschen sie, daß der Irak auch weiterhin 30 Prozent der Einnahmen aus dem Ölverkauf für die Finanzierung der Unscom und die Entschädigung der Opfer der irakischen Invasion abführt.8
Es ist der Versuch einer Quadratur des Kreises: Dem Irak soll erlaubt werden, etwa so viel Erdöl zu exportieren wie vor dem Krieg, aber die Kontrolle über die irakischen Finanzen wollen die USA nicht aus der Hand geben. Ein offizieller amerikanischer Vertreter bringt es auf den Punkt: „Wir werden nicht zulassen, daß die Irakis über einen Exporterlös von zehn bis fünfzehn Milliarden Dollar verfügen. Nach Einschätzung unserer Geheimdienste würden sie innerhalb von zwei Jahren ihr Potential an Massenvernichtungswaffen auf den Stand von 1990 bringen.“
Weder Rußland und Frankreich noch die internationale Gemeinschaft sehen in der Resolution 1153 einen Ersatz für die Aufhebung der Sanktionen. Und die Aussicht auf eine zeitlich unbegrenzte Vormundschaft über den Irak weckt schlimmste Erinnerungen an den Kolonialismus. Alle sind sich einig darin, die Arbeit der Unscom beschleunigen zu wollen, um die vier Abrüstungsdossiers (Atomwaffen, Raketen, chemische und bakteriologische Waffen) schließen zu können und dem Irak damit nach Paragraph 22 der Resolution 687 des Sicherheitsrates die Möglichkeit zu geben, sein Erdöl frei zu exportieren. Aber wird die von Richard Butler geleitete Kommission, deren Schlußfolgerungen ausschlaggebend für die Haltung des Sicherheitsrates sein werden, ihre Arbeit überhaupt abschließen können?
„Das Problem der Präsidentenpaläste ist ganz plötzlich aufgetaucht“, wundert sich Wiktor Pasowaljuk. „Wir verstehen die Empfindlichkeit der Irakis in dieser Frage. Denn dort wohnt und arbeitet ihr Staatschef.“ Nicht zufällig kommt er dann zum Thema Unscom: „Die Kommission und die Inspektorengruppen sind unausgewogen, alle Schlüsselpositionen werden von Vertretern angelsächsischer Länder gehalten.“ Ohne es offen auszusprechen, neigen die russischen Verantwortlichen zu der Ansicht, daß die Experten von den USA manipuliert sind und Krisen eher auslösen, als sie beizulegen. Diese Einschätzung wird von vielen Beobachtern in Paris wie bei den Vereinten Nationen geteilt. Moskau hat im übrigen drei Vorschläge eingebracht, um dieser Situation abzuhelfen: die Erweiterung der Unscom um sechzig russische Experten, die Entsendung eines Flugzeuges zur „Unterstützung“ der amerikanischen U-2-Flieger, die das irakische Territorium überwachen, und schließlich die Ernennung eines zweiten, russischen Vizepräsidenten der Unscom an der Seite des amerikanischen. Auf den letzten Vorschlag hat Washington bereits mit einem deutlichen „No way!“ geantwortet.
Zwar ist man in Moskau wie in Paris der Meinung, Bagdad habe noch nicht alle Auflagen erfüllt, doch wird betont, daß die Unscom bereits einige Ergebnisse vorzuweisen habe. Die Bereiche Kernwaffen und Raketen sind praktisch abgeschlossen, und die übrigen könnten es bald sein, so daß zur „Langzeit-Überwachung“ übergegangen werden könnte.9 Demnach könnte die Unscom ihre Untersuchungen in einigen Monaten abschließen – eine Einschätzung, die von einem hohen Beamten des State Departement zurückgewiesen wird: „Im besten Fall können wir hoffen, im Bereich der atomaren Waffen innerhalb eines Jahres von der jetzigen zu einer langfristigen Kontrolle überzugehen, wie sie in den Resolutionen des Sicherheitsrates vorgesehen ist.“
Ob die Sanktionen aufgehoben werden, ist letztlich eine politische Entscheidung. Die Experten können natürlich jederzeit einen Vorwand finden, um ihre Arbeit zu verlängern. Andererseits ist das Problem der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen durchaus ernst zu nehmen, doch betrifft es nicht nur den Irak. Alle Länder der Region, von Israel bis zum Iran, haben sich mit solchen Waffen eingedeckt. Die Atomtests in Indien und das Bestreben Pakistans, mit den Indern gleichzuziehen, werden die Militarisierung der ganzen Region beschleunigen. Ohne ein regionales Abkommen wird auch der Irak auf Dauer nicht auf solche Waffen verzichten wollen, selbst wenn das Regime Saddam Husseins gestürzt würde.
In Moskau will man dennoch die Zuversicht nicht aufgeben. Innerhalb eines Jahres könnten die Sanktionen aufgehoben werden, heißt es. Das habe Richard Butler selbst gesagt. Doch was geschieht, wenn die Blockade aufrechterhalten wird und es zu einer neue Krise kommt? Das weiß niemand, doch die Spielregeln stehen bereits fest: Rußland und die Vereinigten Staaten treten sich wieder als Rivalen, wenn auch zweifellos nicht als Feinde gegenüber.
dt. Birgit Althaler