Staatliche Beschaffungskriminalität
INNERHALB der letzten zwanzig Jahre hat Nigeria sich einen Spitzenplatz unter den drogenexportierenden Ländern erobert. Zwar existiert im Lande selbst keine nennenswerte Drogenproduktion, doch das Zusammenspiel von Geschäftswelt und Machtelite funktioniert; und auch wenn Schwarzafrika keine Region mit traditionell hohem Drogenkonsum ist, so hat sich inzwischen ein lokaler Markt für harte Drogen entwickelt – ein Symptom der krisenbedingten Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Jugend. Gerade ie Jugend hatte die Parlamentswahlen vom 26. April dieses Jahres aktiv boykottiert, und es ist anzunehmen, daß sich dies bei den für den 1. August angesetzten Präsidentschaftswahlen wiederholt, zumal General Sani Abacha der einzige Kandidat ist.
■ Von MARC-ANTOINE PÉROUSE DE MONTCLOS *
Nigerias Funktion als wichtigste Drehscheibe des Drogenhandels in Schwarzafrika hat dem Land ein miserables Image eingebracht, das durch den finsteren Ruf der Militärdiktatur von General Sani Abacha nicht gerade aufgebessert wird. Da mag sich ein nigerianischer Botschafter noch so sehr darüber beklagen, daß man seine Landsleute generell des Drogenschmuggels verdächtigt und auf ausländischen Flughäfen Sonderkontrollen unterwirft1 , die Tatsachen sprechen für sich. Zwar produziert Nigeria selbst keine Drogen, aber nur ein kleiner Teil des importierten Rauschgifts dient dem lokalen Bedarf, der überwiegende Teil wird reexportiert. Dieses Phänomen erklärt sich zunächst einmal aus der Tatsache, daß Nigeria als bevölkerungsreichstes Land Afrikas eine weitverzweigte Diaspora besitzt, deren Vertreter in London oder New York ebenso zu finden sind wie in Singapur, Karatschi und São Paulo.
Daß der Handel mit harten Drogen ein solches Ausmaß erreichen konnte, ist jedoch auch der politischen Laschheit geschuldet. Anders als bei der Wahlkampagne des kolumbianischen Präsidenten Ernesto Samper im Juni 1994 war bei der Machtergreifung der nigerianischen Militärjunta zwar kein Drogengeld im Spiel – die Unterschlagung von Erdöleinnahmen reichte aus –, doch indirekt ist das gesamte System in den Drogenhandel verwickelt.2 Nach Informationen des „Observatoire géopolitique des drogues“ (OGD) schickt zum Beispiel ein nigerianischer General per Diplomatengepäck regelmäßig Kokain und Heroin nach Europa.3 In der Tat steht der Drogenhandel weniger für den Aufstieg einer Schicht von Neureichen – der drug pushers –, als vielmehr für die Verquickung der Interessen von Machtelite und Geschäftswelt.
Die Drogenpolitik der Behörden ist alles andere als eindeutig; mal läßt sie die Absicht erkennen, den Drogenhandel nach westlichem Vorbild strafrechtlich zu verfolgen, mal begegnet sie dem lukrativen Geschäft mit Toleranz. Bereits 1934 war der Anbau von Opium und Kokablättern durch eine Verordnung untersagt worden, ein Jahr später wurde das Verbot auf den Anbau von Cannabis ausgeweitet. Die britische Kolonialmacht tat damit lediglich den damaligen internationalen Übereinkommen genüge.
Nach der Unabhängigkeit des Landes am 1. Oktober 1960 machte der ständige Wechsel zwischen Zivil- und Militärregime eine konsequente Drogenpolitik unmöglich. Der „Food and Drug Act“ von 1974 verbietet den Konsum von Barbituraten und Amphetaminen. Doch schon ein Jahr später milderte die Regierung die im „Indian Hemp Act“ von 1966 vorgesehenen Höchststrafen für Drogenkonsum (Todesstrafe, Gefängnisstrafen von mindestens fünfzehn Jahren) und beschränkte die Haftzeit auf maximal zehn Jahre. 1980 beschloß die Zivilregierung der Zweiten Republik, den bloßen Konsum von Cannabis nur noch mit sechs Monaten Gefängnis oder einer Geldstrafe von umgerechnet 350 Dollar zu belegen.
Als 1984 die Militärs wieder die Macht übernahmen, sagten sie dem Verbrechen den Kampf an – was in der Bevölkerung auf breite Zustimmung stieß – und verschärften die Gesetze. Doch bereits zwei Jahre später kehrte General Ibrahim Babangida zu einer versöhnlicheren Haltung zurück. Der Erlaß Nr. 22 von 1986 schaffte die Todesstrafe für Drogenhandel ab, belegt den Besitz von Rauschmitteln mit einer Höchststrafe von sieben Jahren Gefängnis, bestraft ihren Import mit lebenslanger Haft und den Export mit maximal siebenundzwanzig Jahren Gefängnis, wobei es strafmildernd wirkt, wenn es lediglich um Transithandel geht.
Im Januar 1990 wurde eine Sonderbehörde zur Drogenbekämpfung gegründet, die „Nigerian Drug Law Enforcement Agency“ (NDLEA). Im Dezember 1993 verhaftete die Polizei den mutmaßlich wichtigsten Drogenhändler des Landes, Joe Brown Akubueze, und beschlagnahmte die größte Menge Heroin in der Geschichte Afrikas: 250 Kilogramm mit einem geschätzten Marktwert von 900 Millionen Dollar. Aber zwei Monate später setzte die US-Drogenbekämpfungsbehörde Nigeria auf die schwarze Liste, weil NDLEA-Agenten beschlagnahmtes Rauschgift entwendet hatten, statt es zu verbrennen. Bereits im März 1991 war der erste Chef der NDLEA seines Amts enthoben worden, weil er einen Drogenbaron gegen Schmiergeld auf freien Fuß gesetzt hatte.4 Ein weiterer Erlaß aus dem Jahr 1994 verfügte, daß alle nigerianischen Drogenhändler, die nach 1990 im Ausland verhaftet wurden, bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland erneut vor Gericht gestellt werden – ein Sachverhalt, der Menschenrechtsorganisationen zu Protesten veranlaßte. In jedem Fall vermochte auch dieser Erlaß nur schwerlich etwas gegen die Ursachen des Problems auszurichten, die in der Führungsspitze des Staates zu suchen sind.
Unter diesen Bedingungen konnte sich der Transithandel mit Drogen aus Brasilien, Kolumbien, Pakistan und Thailand in Richtung Europa und Vereinigte Staaten ungehemmt entwickeln. Die ersten Verhaftungen von Drogenkurieren am Flughafen von Lagos gehen auf das Jahr 1982 zurück. Seither wurde durch die Behörden Jahr um Jahr mehr Rauschgift beschlagnahmt. Nach offiziellen Angaben, die sicher nach oben korrigiert werden müssen, stieg die beschlagnahmte Menge zwischen 1991 und 1992 bei Heroin von 68 auf 590 Kilogramm, bei Cannabis von 1524 auf 2142 Kilogramm, während sie bei Kokain von 555 auf 355 Kilogramm fiel. 1987 verzeichnete die Polizei 2396 Fälle von Drogenhandel und –mißbrauch; 1968 waren es nur 425 gewesen. Ebenfalls 1987 wurden im Ausland 1788 Nigerianer verhaftet und 760 verurteilt (1979: 1261 bzw. 282)5 – damit lag Nigeria auf Platz drei der Weltrangliste.
Diese Zahlen deuten auf ein wohlorganisiertes Milieu hin. Manche Beobachter meinen gar, die Nigerianer hätten den internationalen Drogenmarkt besser im Griff als die Erdölförderung im eigenen Land! 25 Prozent der US-amerikanischen Heroineinfuhr soll über Nigeria laufen, in der Region von Washington und Baltimore soll es sogar die Hälfte sein.6
Organisierter Schmuggel
ALS die nigerianischen Drogenhändler weltweit ins Visier der Polizeibehörden gerieten, streuten sie ihre Aktivitäten mit großem Geschick. So nutzten sie etwa die militärische Verwicklung Nigerias in den liberianischen Bürgerkrieg, um den Freihafen von Monrovia zum Umschlagplatz zu machen. Darüber hinaus spannten sie die nigerianische Diaspora in den Anrainerstaaten ein, um die lokalen Märkte von Lomé, Douala, Cotonou, Niamey und N'Djaména zu beliefern. Auch Südafrika bleibt nicht verschont: 2,5 Prozent des weltweit auf dem Luftweg geschmuggelten Rauschgifts und 0,3 Prozent des entsprechenden innerafrikanischen Drogenschmuggels laufen über südafrikanische Flughäfen. 1994 hat die Polizei dort sechsmal soviel Kokain beschlagnahmt wie 1992: 69 statt 11 Kilogramm. Der Jahresumsatz des südafrikanischen Drogenhandels soll 16 Milliarden Dollar übersteigen; 70 Prozent davon sollen auf lokal angebautes Cannabis entfallen, so daß Südafrika einer der weltweit führenden Marihuanaproduzenten wäre.
Nach Informationen der südafrikanischen Betäubungsmittelbehörde „South African Narcotics Bureau“ (SANAB) machten sich die nigerianischen, südamerikanischen, libanesischen und israelischen Drogenhändler die bereits bestehenden Netze des Waffen-, Elfenbein- und Edelsteinschmuggels zunutze. Sie profitierten von der lückenhaften Gesetzgebung eines Landes, das lange Zeit vorwiegend mit sich selbst beschäftigt war und bei der Strafverfolgung keinen Unterschied zwischen Drogenkonsument und Drogenhändler machte. Nach Polizeiangaben soll es in Südafrika derzeit etwa 400 Verbrechersyndikate geben, 136 davon im Drogenhandel, davon wiederum die Hälfte mit internationalen Kontakten.7 Nigerianische Händler sind in Südafrika erstmals 1993 aufgetaucht. Sie haben sich vor allem im Umkreis des Statesman Hotel in Hillbrow festgesetzt, dem Rotlichtviertel von Johannesburg. Findig genug, setzen sie auch arbeitslose Weiße mit britischem Paß als Drogenkuriere ein.
Der Aufstieg der Drogenhändler zeugt vom wachsenden Einfluß des organisierten Verbrechens auf die nigerianische Wirtschaft, die seit dem Fall des Ölpreises 1981 zunehmend in Grauzonen arbeitet und immer häufiger auch in illegale Strukturen abgleitet. Korruption und fehlende Kontrolle der Kosten schrecken potentielle Investoren ab. Das Pro-Kopf-Einkommen gemessen am Bruttosozialprodukt (BSP) lag 1995 bei nur 260 Dollar, die Inflation erreichte 33 Prozent, und die Auslandsschulden beliefen sich auf 132 Prozent des BSP.
Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Drogenmißbrauch in der gesamten Gesellschaft verbreitet wäre. Die ländlichen Gegenden sind vergleichsweise wenig betroffen, weil das Land selbst keine harten Drogen produziert. Hoch im Kurs stehen Kolanuß und – in einem Land, in dem es sechzehn Biersorten gibt – Alkohol. Auch Marihuana ist recht verbreitet. Anders als im Islam und im Christentum wird Marihuana von den traditionellen Religionen kaum verurteilt und ist unter verschiedenen Namen bekannt, darunter „Pot“, „Igbo“, „Wee Wee“, „Mandula“, „Ganja“, „Rasta“ und „Morocco“.8
Am stärksten vom Drogenkonsum betroffen ist der städtische Ballungsraum um Lagos. Durch den Umschlag harter Drogen im Hafen von Apapa sickerten zunächst geringe Mengen in die Stadt ein. Mit fallenden Preisen entstand gegen Ende der achtziger Jahre schließlich ein lokaler Markt. Seither gibt es die so genannten area boys, die unter den Straßenbrücken hausen. Dabei sind sie im Stadtbild keineswegs eine neue Erscheinung. Schon vor dem Auftreten harter Drogen verschafften sich Jugendliche mit Benzin und Klebstoff eine billige Ekstase.
Nicht alle der area boys, denen man in der Drogenentzugsanstalt von Adeniji Adele auf Lagos Island begegnet, lebten schon immer auf der Straße. Viele von ihnen waren früher als Journalist, Rechtsanwalt, Flugzeugpilot, Marineoffizier, Buchhalter o. ä. tätig. Erst die Droge brachte sie zu Fall. Sie verloren Arbeit, Wohnung und Familie. Auch die Yandaba-Gangs von Kano, die sich den politischen Parteien der Zweiten Republik als bezahlte Killer andienten, gehören zu den Drogenopfern.9
Da Drogenkonsum leichter zu bekämpfen ist als Drogenhandel, neigt der Staat dazu, die Drogenabhängigen zu potentiellen Kriminellen zu stempeln. Dagegen ergab eine Umfrage in einer Drogenentzugsanstalt in Kano, daß 40 Prozent der Patienten Drogen genommen haben, um ihr Arbeitsvermögen zu steigern, und nicht etwa, um sich vor einer Straftat Mut zu machen.10 Die Studenten der südnigerianischen Universitäten rauchen nach eigenen Angaben, weil sie bei der Prüfungsvorbereitung ein Stimulans brauchen. Wenn sie Drogen nehmen, dann weder aus Langeweile noch als Reaktion auf die sie umgebende Gesellschaft oder aus Lust an starken Empfindungen.11
Fast alle größeren Städte Schwarzafrikas sind von diesem Problem betroffen – Kinshasa mit seinen Kampferkonsumenten ebenso wie Südafrika mit den tsotsi oder Nairobi mit seinen „parking boys“, die Chloroform inhalieren, Jani-Blätter konsumieren, bhang (Cannabis auf hindi) rauchen und miraa oder mirungi (das kenianische Gegenstück des arabischen Qat) kauen. Der Gebrauch harter Drogen hingegen ist ein relativ neues Element der urbanen Kriminalität in Schwarzafrika. Weder das asiatische Opium noch das lateinamerikanische Kokain oder das nordafrikanische Haschisch gehören zur afrikanischen Kultur südlich der Sahara.
Am Extremfall Nigeria läßt sich ablesen, wohin Volkswirtschaften abgleiten, die mit allen Mitteln zu überleben versuchen. Denn der nigerianische Riese gehört zu den afrikanischen Ländern, die am wenigsten Auslandshilfe erhalten. Dank seiner Erdöleinnahmen konnte sich das Land eine gewisse politische Unabhängigkeit bewahren – mag es sie auch dazu nutzen, der internationalen Gemeinschaft zu trotzen und dunkle Geschäfte zu fördern. Gerade daran wird jedoch deutlich, welche destabilisierenden Folgen die Strukturanpassungsprogramme haben, wenn sie die Mittelschichten zu Geschäftemacherei jeder Art nötigen. Das Widersprüchliche an diesen Schiebereien ist sicherlich, daß sie einerseits eine globale Dimension besitzen, andererseits aber auch den legalen Handel in Mitleidenschaft ziehen und die Krise der Dritten Welt dadurch weiter verschärfen.
dt. Bodo Schulze
* Forschungsbeauftragter am Institut français de recherche scientifique pour le développement en coopération (Orstom).