12.06.1998

Filme und andere indische Wirklichkeiten

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Filme und andere indische Wirklichkeiten

DASS die meisten fiktionalen Filme aus Indien (28000 in hundert Jahren) nur schmalzige Märchenerzählungen ohne Realitätsbezug seien, entspricht mitnichten der Wahrheit. Soziale und politische Themen gehörten seit den Anfängen zum Grundbestand des indischen Films. Und derzeit stehen die soziale Ungleichhheit, das Los der Minderheiten, der „unteren“ Kasten und der Frauen, die Korruption, die Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen sowie die Zeit des Ausnahmezustandes (1975-1977) im Mittelpunkt der indischen Filmproduktion.

Um die zunehmend politisierte Zuschauerschaft an sich zu binden, ist auch der Kommerzfilm auf den fahrenden Zug aufgesprungen, allerdings auf die ihm eigene manichäische Weise. Nehmen wir zum Beispiel den Film „Bombay“ des tamilischen Regisseurs Mani Rarnam (1995), eine romanhafte Kritik des „Kommunalismus“, jenes Gegensatzes zwischen hinduistischer und muslimischer Gemeinschaft, der Ende 1992 und Anfang 1993 nach der Zerstörung der Moschee von Ayodhya im ganzen Land, zumal in Bombay, blutige Unruhen auslöste. Der Film wurde in ganz Indien ein Kassenschlager, dank der Erfolgsrezepte des großen Publikumsfilms: Starbesetzung, Gesangseinlagen, Traumszenen und ein Nachbau von Bombay in den Filmstudios von Madras, der neben Hyderabad größten Filmstadt Indiens.

Auch einige Filme, die im Januar auf dem 29. Internationalen Filmfestival Indiens (IFFI) in Neu-Delhi vorgestellt wurden, beschäftigen sich mit aktuellen Themen. „Katsandhya“ (“Todesdämmerung“) des assamesischen Filmveteranen Babendranath Saikia hinterfragt die Gründe und die „Absurdität“ des politischen Terrorismus im Nordostindien1 , der mit der blutigen Sprengung eines Zuges, für die die Bodo-Ethnie verantwortlich sein soll, im vergangenen Jahr einen Höhepunkt erreichte.

Dieser Film zur „moralischen Wiederaufrüstung“ ist eine Gemeinschaftsproduktion der halbstaatlichen NFDC und des staatlichen Fernsehens. Seine Handlung spielt in Gauhati, der Hauptstadt des potentiell reichen grünen Bundesstaats Assam, der von schweren ethnisch-politischen Spannungen heimgesucht wird. Als am hellichten Tage zuerst ein Lehrer, dann ein fortschrittlicher und geachteter Professor von Unbekannten ermordet werden, stellt die Polizei die Untersuchungen auf Geheiß höherer Stellen schon bald wieder ein. Angewidert beschließt ein integrer Polizeibeamter, der Sache auf den Grund zu gehen, und spricht noch einmal mit Ranjit. Der unpolitische Student, der verzweifelt Arbeit gesucht hat, war von Unbekannten gedungen worden. Obwohl er den ersten Mord gesteht, wird die Anklageerhebung durch lokalpolitische Machenschaften verhindert. Daraufhin vermittelt der Polizist ein Treffen zwischen Ranjit, den schwere Schuldgefühle plagen, und der Witwe des Professors. Der junge Mann beschließt, die Auftraggeber zu finden, die ihn zu diesem „unmotivierten“ Verbrechen angestiftet haben. Wenig später findet man seine Leiche im Fluß.

In „Dahan“ (“Zwischen zwei Feuern“) setzt sich der junge Bengale Rituparno Ghosh feinfühlig und stimmig mit zwei Plagen des heutigen Indien auseinander: die sexuelle Belästigung – und vielfach Vergewaltigung – von Frauen und die beunruhigende Verschlechterung der Lebensumstände in den Metropolen. Der nicht im geringsten mitleidheischende Film führt das rechtschaffene moderne Bildungsbürgertum vor.

Auf dem Heimweg von einem Einkaufsbummel wird eine junge Frau, Romita, beim Verlassen der U-Bahn von Kalkutta von einer Schlägerbande überfallen. Ihr Mann wird niedergeschlagen, doch obwohl der Vorfall zur Hauptverkehrszeit passiert, greift keiner der Passanten ein. Als man Romita auf einem Motorrad entführen will, um sie zu vergewaltigen, wird sie im letzten Moment von Jhinuk gerettet, einer energischer Lehrerin, die mit dem Vespa- Taxi auf dem Heimweg war. Jhinuk stellt sich als Zeugin zur Verfügung, damit Romita Anklage erhebt. Romitas Familie ist zunächst einverstanden, doch dann – seit Mrinal Sen ein Lieblingsthema der Filmemacher von Kalkutta – gewinnt die „ontologische Ängstlichkeit“ der bengalischen Mittelschicht die Oberhand: Sie fürchtet nichts so sehr, wie ins Gerede zu kommen, Zweifel an ihrem Leumund zu erregen und Verdächtigungen auf sich zu ziehen. Unter dem Druck seiner Kollegen „verdächtigt“ Romitas Mann seine Frau, man habe sie während seiner Bewußtlosigkeit vergewaltigt. Vor Gericht schließlich will Romita ihre Angreifer nicht wiedererkennen, während Jhinuk, in der Presse unterdessen zur „Heldin der Zivilcourage“ befördert, lächerlich gemacht wird. Angewidert beschließt Romita, zu ihrer Schwester nach Kanada zu ziehen ...

GOVIND NIHALANI, einer der brillanten Wegbereiter des „neues Films“ der siebziger Jahre, macht neuerdings eher kommerziell orientierte politische Filme. In „Hazar Chaurasi ki Ma“ (“Die Mutter von Nr. 1084“), einem durchdachten, plausiblen Werk, kommt er auf einen dunklen Zeitabschnitt zurück, der die indischen Demokraten nicht losläßt: die schreckliche Repression gegen die als maoistisch geltende Stadtguerilla der Naxaliten in Kalkutta 1972. Eine Mutter aus wohlhabenden Kreisen identifiziert im Leichenschauhaus der Polizei die verstümmelte Leiche Nr. 1084 als ihren Sohn. Da sich ihr Gatte, ein kleinmütiger Geschäftsmann, nicht kompromittieren will, stellt diese „Mutter Courage“, bisher ein unbeschriebenes Blatt, in den Elendsvierteln von Kalkutta auf eigene Faust Nachforschungen an und setzt sich mit den Angehörigen der Genossen ihres Sohns in Verbindung, die ebenfalls von den bezahlten Killern der Polizei ermordet worden sind. Sie will verstehen, wie ihr scheinbar glücklicher Junge, dem es materiell an nichts fehlte, dazu kam, die Sache der „Verdammten des Asphalts“ der bengalischen Metropole zu seiner eigenen zu machen.

Erwähnenswert ist auch der Film „Train to Pakistan“, der auf seine Weise den 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens feiert, indem er die Teilung Britisch-Indiens im Jahr 1947 behandelt, eine Tragödie, deren Wunden noch immer nicht verheilt sind. Regisseurin dieses Zeitgemäldes im Stil großer Leinwandspektakel ist Pamela Rooks, Tochter eines Hindus und einer Sikh aus dem Punjab, eine Region, die neben Bengalen am stärksten unter der Teilung zu leiden hatte. Als Filmvorlage diente der gleichnamige Bestseller des herausragenden Journalisten Kushwant Singh, der als Sikh Augenzeuge der Geschehnisse war.

Die ganz und gar nicht nach Hollywoodmanier dargestellte nostalgische Erinnerung an das harmonische Zusammenleben von Sikhs und Muslimen in einem wohlhabenden Dorf wird hier durch die Liebschaft zwischen einem ehrbaren Sikh-Banditen und einer jungen muslimischen Frau symbolisiert. Doch als die Fanatiker der „ethnischen Säuberung“ das Dorf aufsuchen und die Muslime mit Gewalt dazu zwingen, „zu sich nach Pakistan“ zu gehen und den Sikhs Platz zu machen, die aus der anderen Hälfte des nunmehr geteilten Punjab verjagt worden sind, nimmt die Geschichte eine schreckliche Wendung.

YVES THORAVAL

Autor von „Cinémas de l'Inde (1898-1998)“,Paris (L'Harmattan) 1998.

Fußnote: 1 Vgl. Robert Bryniki, „En Inde, les guérillas en voie d'isolement“, Manière de voir, „Poudrières de la planète“, Nr. 37 (Januar/ Februar 1998).

Le Monde diplomatique vom 12.06.1998, von YVES THORAVAL