12.06.1998

Nationale Kraftakte und regionale Verrenkungen

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Nationale Kraftakte und regionale Verrenkungen

Nachdem die indische Regierung im Mai fünf Atomtests durchgeführt hatte, verkündete sie einen vorläufigen Teststopp und signalisierte die Bereitschaft, über ein endgültiges Verbot derartiger Versuche zu verhandeln. Pakistan hat mitterweile gleichfalls Atomtests durchgeführt, und beide Länder zeigen sich in ihrem nationalen Geltungsdrang unbeeindruckt von Sanktionsdrohungen. Die Tests bestätigen einmal mehr die Kritiker der Atompolitik und belegen die Fragwürdigkeit der internationalen Atomverträge, och darüber hinaus machen sie deutlich, wie instabil die Verhältnisse in dieser Region Asiens sind. Die territorialen Auseinandersetzungen zwischen Indien und Pakistan um die Region Kaschmir etwa werden seit nunmehr fünfzig Jahren geführt. Ständig wachsen Militärausgaben und Armeestärke in diesen Ländern; das gleiche gilt für den chinesischen Militärapparat. In Indien, mit seiner Vielzahl ethnischer und sozialer Spannungen, ist der nationale Zusammenhalt keine Selbstverständlichkeit, und so stellt sih die Frage, welche innenpolitische Funktion die Machtdemonstration der Atomtests erfüllt und welche Feindbilder sie beschwört.

 ■ Von CHRISTOPHE JAFFRELOT *

STABILITÄT – so lautete das zentrale Thema der zwölften Wahlen zum indischen Parlament, die vom 23. Februar bis zum 7. März 1998 abgehalten wurden. Notwendig geworden waren diese (vorgezogenen) Wahlen, da die Kongreßpartei im November 1997 der Regierungskoalition der United Front (bestehend aus vierzehn Parteien, von den Kommunisten bis zu den Sozialisten der Janata Dal und einer Vielzahl regionaler Gruppierungen) die parlamentarische Unterstützung entzogen hatte.

Bislang hatten vorgezogene Wahlen wegen fehlender parlamentarischer Mehrheiten noch stets zu einem deutlichen Mandat für die Kongreßpartei geführt. Indira Gandhi konnte 1980 auf diese Weise die Regierung bilden, ebenso Narasimha Rao 1991 nach dem Regierungswechsel, der 1989 kurzfristig Vishwanath Pratap Singh an die Macht gebracht hatte. Doch diesmal spielten die Wähler nicht mehr mit. Es widerstrebte ihnen, eine Kongreßpartei zu stützen, die sich durch Fraktionskämpfe und Korruptionsaffären verschlissen hat und in einer Führungskrise steckt, wenn nicht gar in Auflösung begriffen ist, seit Rajiv Gandhi 1991 ermordet wurde.

Kaum waren die Neuwahlen angekündigt, traten Dutzende Mitglieder der Kongreßpartei zur wichtigsten nationalistischen Hindu-Partei, der Bharatiya Janata Party (BJP – Partei des indischen Volkes) über, die größere Erfolgsaussichten zu haben schien. Dies schwächte die Kongreßpartei nicht nur, sondern bestätigte einmal mehr ihren Ruf als Partei der Opportunisten. Zwar mobilisierte Sonia Gandhi (die Witwe von Rajiv Gandhi) die Partei durch ihr Engagement, doch sie betrat die politische Bühne zu spät, um ihre Popularität noch voll nutzen zu können. In einigen Gebieten, wie in Uttar Pradesh, dem größten indischen Bundesstaat, bekam die Kongreßpartei keinen einzigen Sitz, und die Parteiorganisation wird neu aufgebaut werden müssen.

Die United Front erlitt eine schwere Niederlage, die Zahl ihrer Sitze sank von 174 auf 98. In den einzelnen Bundesstaaten haben alle Parteien, die seit längerer Zeit an der Macht waren, Verluste hinnehmen müssen oder bestenfalls ihren Stimmenanteil halten können. Die spektakulärsten Rückschläge erlebten die Janata Dal im Karnataka, die Dravida Munnetra Kazhagam in Tamil Nadu, die Shiv Sena in Maharashtra und die BJP in Rajasthan. Der Wille, die „alte Garde hinauszuwerfen“, zeugt von der Lebendigkeit der Demokratie, spiegelt aber auch eine zunehmende Ablehnung der politischen Klasse. Jedenfalls hat diese Abwehrreaktion gegen die Machthaber, der sogenannte anti-incumbancy reflex, Indien zum zweiten Mal in Folge ein Bundesparlament ohne Mehrheit beschert.

Zwar konnte die BJP mit 25 Prozent der Stimmen und 178 Sitzen ihre Position verbessern, doch zur absoluten Mehrheit fehlen ihr noch 100 Sitze. Ihr Aufstieg kam nicht überraschend: Die BJP war die einzige Partei, mit der es zu einem Machtwechsel hätte kommen können. Daß sie seit Anfang des Jahrzehnts bei einem Fünftel der Stimmen stagnierte rührte daher, daß sie ihre Basis im wesentlichen aus der städtischen Mittelschicht und den oberen Kasten rekrutierte und kaum über den hindisprachigen Norden und den Westen des Landes hinaus Verbreitung fand. 1998 scheint die BJP diese beiden Handicaps überwunden zu haben. Allerdings muß das Ausmaß ihres Erfolgs relativiert werden, und sei es nur wegen der Niederlagen in zwei Bundesstaaten – Haryana und Rajasthan (Rückgang von zwölf auf fünf Sitze) –, wo sie, allein oder in Koalition, an der Macht gewesen war. Auch die Hindu-Nationalisten sind vom anti-incumbancy-reflex nicht verschont geblieben.

Die nationalistische Hindu-Bewegung entstand in den zwanziger Jahren um den Nationalen Freiwilligenverband (Rashtriya Swayamsevak Sangh – RSS), eine Organisation, deren Ziel es war, die Hindus gegenüber den Muslimen zu „stärken“, denn in der muslimischen Minderheit sahen die Hindus insbesondere wegen deren panislamischen Bestrebungen eine deutliche Gefahr. Mittlerweile verfügt der RSS über ein Netz lokaler Gruppen, deren Mitglieder sich täglich zu Trainingsveranstaltungen treffen, die sich mehr oder weniger an den traditionellen Kampfsportarten orientieren. Dazu kommen ideologische Bildungsveranstaltungen, in denen die indische Identität schlicht auf die Hindu-Kultur reduziert wird: „Hindu, Hindi, Hindusthan“ lautet die Parole – „Ein Volk, eine Sprache, ein Land“. 25000 Gruppen dieser Art soll es geben, mit 2,5 Millionen Aktiven.

Nationalistische Altlasten

DOCH der Einflußbereich des RSS ist weit größer. Denn diese Bewegung hat schon in den fünfziger Jahren zahllose Unterorganisationen gebildet. Ihre Leute kontrollieren einen der wichtigsten Studentenverbände, die größte Arbeitergewerkschaft des Landes, ein von der Mittelschicht sehr geschätztes Netz von Schulen, Vereinigungen, die große Erfolge auf dem Gebiet der „Sozialarbeit“ in Stammesgebieten oder Elendsvierteln haben, und so weiter.

Anläßlich der ersten allgemeinen Wahlen von 1951/52 gründete der RSS eine Partei. Ihr Name – Vereinigung des indischen Volkes (Bharatiya Jana Sangh – BJS) – war damals Ausdruck der Absicht, sich nicht als rein hinduistische Gruppierung darzustellen. Die Partei schwankte zwischen einer gemäßigten Strategie einerseits, sich als „Sammelbecken“ anzubieten, und einer ethnisch-religiösen Mobilisierung andererseits, die ihr die Stimmen der (die Mehrheit bildenden) Religionsgemeinschaft einbringen sollte. Vor den Wahlen von 1967 etwa demonstrierte sie auf den Straßen für den Schutz der Kuh – das heilige Tier des Hinduismus – und kam damit auf immer noch magere 10 Prozent der abgegebenen Stimmen. Dann verlegte sie sich auf eine Bündnisstrategie, in deren Folge sie sich mit der Janata Party, dem wichtigsten Sammelbecken der damaligen Opposition, zusammenschloß. Diese Partei besiegte 1977 Indira Gandhi. Atal Behari Vajpayee, der heutige Premierminister, wurde damals Außenminister und überraschte durch seine entgegenkommende Haltung gegenüber Pakistan, dem Staatsfeind Nummer eins der Hindu-Nationalisten.

Die gemäßigte Strategie scheiterte 1980, als die Partner der BJS, die ihr ihre Verbindungen zum RSS vorwarfen, die Janata Party auseinanderbrechen ließen. Die BJS wurde umbenannt, seither trägt sie ihren heutigen Namen Bharatiya Janata Party. Bis Ende der achtziger Jahre blieb sie bei ihrer gemäßigten Linie, doch dann schloß sie sich der vom RSS eingeleiteten Kampagne zur „Rückeroberung“ des – angeblichen – Geburtsortes des Gottes Ram in Ayodhya (einer Stadt in Uttar Pradesh) an, wo im 16. Jahrhundert eine Moschee erbaut worden war. Diese Agitationskampagne erlebte um 1990 ihren Höhepunkt und endete 1992 mit der Zerstörung der Moschee durch militante Hindu- Nationalisten.1

Die darauf folgenden Gewalttätigkeiten zwischen den Religionsgemeinschaften trübten das Image der BJP. Die Partei erlitt 1993 mehrere Wahlniederlagen und kehrte zu einer gemäßigteren Strategie zurück, obwohl sie ihre Wahlerfolge – 2 Sitze 1984, 86 Sitze 1989, 120 Sitze 1991 – weitgehend der Ayodhya-Affäre verdankte.

Durch ihre geschickte Vermischung von religiöser Mobilisierung und Friedenspropaganda wurde die BJP 1996 zur stärksten Partei im Parlament (161 Sitze). Ihre Führer gingen sogar so weit, die Muslime aufzurufen, für sie zu stimmen. Während Lal Krishna Advani – der derzeitige Innenminister – den militanten Flügel der Partei vertritt, steht Vajpayee für eine äußerst ökumenische Haltung – eine Aufgabenteilung, die größtmöglichen Stimmenfang erlaubt.

Bei den letzten Wahlen hat die Partei ihren Vormarsch fortgesetzt, ohne allerdings die Kongreßpartei zu überholen. Den deutlichsten Zugewinn an Sitzen hat sie im Süden (vor allem im Karnataka, in Tamil Nadu und in Andhra Pradesh) und im Osten (vor allem in Orissa und in West Bengal) verzeichnen können, doch der Stimmenzuwachs beträgt nur 5 Prozent.2 Sie bleibt in erster Linie eine Partei der Städter (41 Prozent der Städter und 35 Prozent der Landbevölkerung haben sie oder ihre Bündnispartner gewählt) sowie der höheren Kasten (56 Prozent von deren Mitgliedern wählen die Partei oder ihre Bündnispartner).

Doch das von ihr dominierte Parteienbündnis gewinnt Anhänger in den „anderen zurückgebliebenen Schichten“ (den „other backward classes“ – eine Verwaltungskategorie zur Bezeichnung der unteren Kasten, häufig Kleinbauern zwischen der Kaste der Großbauern und den Unberührbaren). Unter diesen, die die Hälfte der indischen Bevölkerung ausmachen, erzielen die BJP und ihre Bündnispartner 42 Prozent der Stimmen, die Kongreßpartei und die United Front dagegen nur 21 Prozent. Dieser Durchbruch erklärt sich dadurch, daß die BJP in zunehmender Zahl Kandidaten aus den unteren Kasten aufgestellt hat. Eine Taktik, die sich auszahlt: denn die Wähler wählen nicht nur Parteien, sondern auch (wenn nicht vor allem) Personen.

Koalitionen und Konzessionen

JEDENFALLS verdankt die Partei ihre Erfolge zu einem erheblichen Teil ihren Verbündeten, insbesondere der Shiv Sena – einer nationalistischen Hindu-Partei, die zugleich als glühende Verfechterin der Interessen Maharashtras auftritt und ihre Basis eher in den unteren sozialen Schichten hat –, und mehr noch der Samata Party (zwölf Sitze). Die Samata Party wird von vielen Kurmis gewählt, einer der großen Kasten unter der bäuerlichen Bevölkerung in Bihar. Wenig Anhänger findet die BJP dagegen nach wie vor unter den „Unberührbaren“, die in der indischen Verfassung mit dem Euphemismus „scheduled castes“ (registrierte Kasten) bezeichnet werden.

Die eigentliche Wählerbasis der Hindu-Nationalisten bleibt jedoch die städtische Mittelschicht. In den Kleinstädten des hindisprachigen Nordens hat die BJP stets Anhänger unter den Händlern und Freiberuflern gefunden, denen die Ablehnung der „Verstaatlichung der Wirtschaft“ und das Ordnungsdenken gefiel. Diesem harten Kern schlossen sich nach und nach Führungskräfte aus der privaten Wirtschaft, Angestellte, Militärs im Ruhestand und Staatsangestellte an, auch aus dem gehobenen Staatsdienst. Die BJP erscheint ihnen diszipliniert, nationalistisch und „sauberer“ als die Kongreßpartei, was sie zweifellos auch deshalb bleiben konnte, weil sie nicht an der Macht war. Daß ihr Nationalismus hinduistisch gefärbt ist, stört die Mittelschicht nicht, denn für sie ist und bleibt der nationale Hauptfeind Pakistan.

Ohne Frage sehen die oberen Kasten in der BJP auch ein Bollwerk gegen den unaufhaltsamen Aufstieg der unteren Kasten, die immer weiter gehende Forderungen stellen. 1990 ist ihnen eine Quote von 27 Prozent der Posten in der Verwaltung zugestanden worden, wodurch sich die Anstellungsmöglichkeiten für die Elite entsprechend reduzieren.3 Die Hindu- Nationalisten stehen solchen Quotenregelungen skeptisch gegenüber. Denn die Quoten lassen die Kastenunterschiede fortbestehen (eine Quelle nationaler Schwäche aus ihrer Sicht) und benachteiligen ihre Wählerschaft. Aber sie können ihre Einwände nicht öffentlich zur Sprache bringen, denn drei Viertel der Hindubevölkerung gehören zu den unteren Kasten. So sehen sie sich veranlaßt, eine wachsende Zahl von Kandidaten aus der „Plebs“ aufzustellen. Und das erklärt weitgehend ihren Durchbruch in diesem Milieu.

Mit Ausnahme des Karnataka, wo die BJP mittlerweile stark vertreten ist, existiert sie in der gesamten Küstenregion, die sich von Kerala bis Westbengalen erstreckt, nur mittels regionaler Parteien.4 Die Bündnisse im Süden und Osten sind die große Neuerung der letzten Wahlen: denn bis dato war die BJP so eng an den hindisprachigen Norden gebunden, daß sie in diesen Regionen über keinerlei Einfluß verfügte. Gleichwohl ist dieses neuerliche Vordringen zwar spektakulär, doch äußerst fragil, denn diese regionalen Parteien verbindet mit der BJP kaum mehr als die gemeinsamen Feinde.

Neben den 178 Sitzen des BJP, den 140 Sitzen der Kongreßpartei und den 41 Sitzen der beiden kommunistischen Parteien haben die regionalen Parteien 144 Sitze erlangt, also mehr als ein Viertel der 543 Sitze in der Lok Sabha (dem Unterhaus des Parlaments). Diese Zunahme erklärt sich durch den Zerfall der nationalen Parteien infolge regionaler Abspaltungen. Als regionalistisch können jene Parteien eingestuft werden, die sich auf die für einen Bundesstaat charakteristische sprachliche oder ethnische, wenn nicht gar religiöse Identität berufen und diesen Bezug häufig auch in ihrem Namen zum Ausdruck bringen.5

Außer den im engeren Sinne „regionalistischen“ Gruppierungen haben sich im Verlauf der neunziger Jahre auch die „regionalen“ Parteien vermehrt, und zwar aufgrund von wiederholten Spaltungen der Janata Dal sowie der Kongreßpartei und der BJP. Diese Splittergruppen geben sich nicht als Vertreter einer regionalen Identität, sondern tragen im Gegenteil häufig hochtrabende Namen, um einen nationalen Ansatz, ja ein ideologisches Engagement unter Beweis zu stellen. Doch oftmals handelt es sich um die Parteigründung eines regionalen Politikers, der sich gerne (wieder) unabhängig machen will, manchmal einfach aus Ärger, weil seine Bemühungen, die lokale Parteiorganisation zu kontrollieren, gescheitert sind. Hier stößt man auf Gründungsstrukturen der indischen Politik, die, da sie niemals dauerhaft im Rahmen eines zentralisierten Staates funktioniert hat, sich mit der „Hausmacht“ lokaler Satrapen arrangieren mußte.

Zu dem unter Nehru installierten „System“ der Kongreßpartei gehörte eine eigene Hierarchie alter Parteikämpen, die eine gewisse Autonomie genossen – was sie sich ihren Wählern gegenüber zugute halten konnten, die häufig einem regionalen Partikularismus anhingen. In dem Maße, wie die angesehenen Führer der Unabhängigkeitsbewegung abtraten und die Linie Nehru/Gandhi erlosch, hat sich diese Struktur nach und nach aufgelöst und den zentrifugalen Kräften und Fraktionskämpfen freien Lauf gelassen.

Diese Vielfalt regionaler oder sogar regionalistischer Parteien ist ein Faktor des Pluralismus, also der Demokratie, zumindest solange die Koalitionen, die daraus hervorgehen, sich nicht als instabil erweisen.

Die Bündnisse der BJP im Süden und Osten machen sie tendenziell zur Nachfolgerin der Kongreßpartei. Diese mußte bereits einsehen, daß sie in manchen Regionen nur auf der Basis der Zusammenarbeit mit einer regionalen Partei überleben kann. Die von ihr angeführte Koalition bestand aus zunächst zwölf Parteien, doch für die parlamentarische Regierungsmehrheit am 27. März dieses Jahres mußten noch drei weitere Gruppierungen gewonnen werden – die Telegu Desam Party, die National Conference und die Haryana Lok Dal.

Im Taktieren und Aushandeln von Kompromissen sind die Hindu-Nationalisten allerdings nicht so geschickt wie die Vertreter der Kongreßpartei. Der Pragmatismus der Kongreßpartei, der mit der Unschärfe ihrer Ideologie einhergeht, erlaubt eine große Geschmeidigkeit bei Verhandlungen. Damit kann der BJP zweifellos zweifellos nicht aufwarten. Vajpayee, der neue Premierminister, muß mit den verbündeten Parteien unter einem Zwang verhandeln, den die Kongreßpartei nicht kannte: Er steht unter dem Druck des RSS und der Parteimitglieder, die aus dieser Organisation kommen.

Denn der RSS bleibt die Mutterorganisation der BJP. Die Parteiführer stammen größtenteils aus dem RSS, und die der zweiten Ebene – regional oder lokal – stehen ihr weiterhin nahe. Diese Bewegung und ihre treuesten Anhänger unter den BJP-Mitgliedern werden eine Abschwächung des Hindu-Nationalismus, die für die Bündnispartner der BJP wiederum die Voraussetzung für eine Unterstützung der Regierung Vajpayee darstellt, nicht so einfach hinnehmen.

So greift denn auch die Minimalplattform, die der Premierminister mit den Koalitionspartnern ausgehandelt hat, drei der Hauptwahlversprechen der BJP auf: den Bau eines Tempels auf den Trümmern der Ayodhya-Moschee; die Verabschiedung eines einheitlichen Gesetzbuches, um die Scharia als Quelle eines Persönlichkeitsrechts der Muslime abzuschaffen, und die Streichung des Artikels 370 der Verfassung, der Jammu und Kaschmir eine Autonomie zugesteht. Denn in dieser Autonomie sehen die Hindu-Nationalisten die Wurzel der gegenwärtigen separatistischen Bewegung.

Neue Lesart der Nationalgeschichte

MAN kann von Glück sagen, daß die Partei auf Bündnispartner mit abweichenden Vorstellungen angewiesen ist und deshalb ihr Programm nicht verwirklichen kann. Doch um welchen Preis wird sie den RSS zum Stillhalten bewegen können? Zweifellos wird Vajpayee dieses Kunststück gelingen. Zum einen indem er, wie es im indischen Pfründensystem (spoil system) üblich ist, einige der RSS- Mitglieder mit der Leitung öffentlicher Institutionen betraut. Auf diese Weise finden sich an der Spitze der Staatsbetriebe, der Bundesstaaten – über ihre Gouverneure –, der Botschaften und der Universitäten allmählich immer mehr Männer aus dem inneren Kreis der Hindu-Nationalisten. Für den RSS ist die Unterstützung von Leuten an führender Stelle wichtig, um seine Aktivitäten besser entfalten zu können, auch im Bildungswesen, wo die Zunahme vertrauenswürdiger Verbindungsleute ihm endlich erlauben würde, die Schulbücher zu revidieren und die Geschichte der Nation nach den eigenen Vorstellungen umzuschreiben – so daß die Muslime als gewalttätige Eindringlinge dargestellt und die eigenen Gründerväter zu Helden erhoben werden. Vajpayee hat sich teilweise von der Bevormundung durch den RSS freigemacht und verfolgt seit seinem Amtsantritt eine offensichtlich pragmatische Politik. Das trifft vor allem auf den Bereich der Wirtschaft zu, wo er sich bemüht hat, die ausländischen Investoren zu beruhigen, denen der traditionelle Protektionismus der Hindu-Nationalisten Sorgen macht. Vajpayee hat sich dafür eingesetzt, den Import westlicher Konsumgüter zu erleichtern, die bei der Mittelschicht immer beliebter werden. Allerdings steht dieser Geschmeidigkeit eine Verhärtung der Verteidigungspolitik gegenüber, wie die Wiederaufnahme des Nuklearprogramms und die fünf am 11. Mai 1998 durchgeführten Atomtests zeigen. Denn in diesem Bereich besteht ein nationaler Konsens. Wenn sich die Regierung Vajpayee mit Hilfe von Kompromissen und Konzessionen hält, wird sie der Demokratie eine Phase der Stabilität sichern. Das ist wichtig, denn wenn die politische Flickschusterei erneut zur Auflösung des Parlaments führen würde, wäre das Problem einer Reform des politischen Systems auf die Tagesordnung gesetzt. Nachdrücklich unterstreicht das mit der BJP und ihren Verbündeten ausgehandelte Minimalprogramm, daß die Verfassung jetzt fünfzig Jahre alt und erneuerungsbedürftig ist. Die BJP würde einem Präsidialsystem den Vorzug geben, aber sie muß zwei Drittel der Stimmen im Parlament zusammenbringen, um ihre Reform durchzusetzen.

dt. Sigrid Vagt

* Wissenschaftler am Centre d‘études et de recherches internationales (CNRS), Verfasser von „La Démocratie en Inde. Religion, caste et politique“, Paris (Fayard) 1998.

Fußnoten: 1 Vgl. Vijay Singh, „Tuer et mourir pour un temple ...“, Le Monde diplomatique, April 1991. 2 Diese wie auch die folgenden Zahlen sind einer Wahlanalyse in India Today, Neu-Delhi, 16. März 1998 entnommen. 3 Seit 1947 belaufen sich die Quoten, die den ehemals Unberührbaren und den Ureinwohnern vorbehalten sind, auf 15 beziehungsweise 7 Prozent der Stellen. 4 Die All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADK) in Tamil Nadu (17 Sitze), die Bijnu Janata Dal in Orissa (9 Sitze) oder der Trinamool Congress der aus der Kongreßpartei ausgetretenen Manata Banerjee in West Bengal (7 Sitze). 5 Die dravidischen Parteien in Tamil Nadu (die Dravida Munnetra Kazhagam sowie die aus weiteren Abspaltungen hervorgegangenen Parteien AIADMK, PMK und MDMK) oder in Andrha Pradesh (Telugu Desam Party), die Shiv Sena in Maharashtra, der Akali Dal im Punjab, die Asom Gana Parishad in Assam und die Haryana Lok Dal usw. Diese Parteien und einige andere, weniger wichtige, stellen heute neunzig Abgeordnete.

Le Monde diplomatique vom 12.06.1998, von CHRISTOPHE JAFFRELOT