12.06.1998

Stalins Zeit ist endgültig um

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Stalins Zeit ist endgültig um

ANDREJ GRATSCHOW, der frühere Berater Michail Gorbatschows, zeigt sich beunruhigt. Steht Rußland vor einer Wende? Wird es dem Land gelingen, die weltpolitische Isolation zu überwinden und sich in politischer wie wirtschaftlicher Hinsicht den westlichen Vorstellungen von Demokratie und Marktwirtschaft anzunähern? Oder wird das Land weiterhin im Bann seines „geographischen Fluchs“ zwischen Orient und Okzident schwanken und zum Schaden der eigenen Bevölkerung auf der „russischen Sonderstellung“ beharren? Eine der Stärken von Gratschows Buch1 liegt darin, daß es einen geradezu physischen Eindruck der Schrecken und Widersprüche vermittelt, die für die meisten russischen Bürger zum Alltag gehören. Sie finden sich plötzlich in einer von Grund auf veränderten Gesellschaft wieder, die der Autor als „zerrissene Gesellschaft“ bezeichnet.

Die alten Wertevorstellungen haben sich innerhalb weniger Monate aufgelöst, und neue entstehen, ohne daß deutlich wird, ob es sich wirklich um neue Werte handelt oder nur um Medieninszenierungen, wie etwa bei der starken Präsenz der orthodoxen Kirche bei den ersten öffentlichen Feiern der Ära Jelzin. Die russische Gesellschaft ist geprägt von großen sozialen Unterschieden. Wenige Auserwählte bringen es schnell zu materiellem Wohlstand, während viele ausgegrenzt werden, sogar die sogenannten „Enkel Chruschtschows“. Sie wollten etwas Neues in Gang bringen, wurden aber verdrängt und ausmanövriert von den „Enkeln Breschnews“, skrupellosen Geschäftemachern, die überwiegend aus der technokratischen Nomenklatura oder dem Komsomol stammen.

Andrej Gratschow fragt sich, wie der derzeitige Wandel zu bewerten ist, und seinen Beobachtungen über die russische Politik seit 1991, das heißt über die Art und Weise, wie wesentliche politische Entscheidungen zustande kommen, wie Minister ernannt und abgesetzt werden, kann man nur zustimmen – von der Absetzung des Premierministers bis zur Bombardierung von Grosny.

Gratschows Arbeit steht in der großen Tradition der Selbstbefragung, die von der russischen Intelligenzija seit dem 19. Jahrhundert gepflegt wird und deren Debatten immer wieder um die gleichen Fragen geführt worden sind: die Rolle der Determinierung durch die geographische Lage, die Einzigartigkeit der russischen Volksseele, jene Mischung aus Lethargie, Widerstand und Rebellion, die als das besondere Privileg eines Volkes gilt, das schwankt zwischen dem Rückzug in die Innerlichkeit und Erlösungshoffnung. Der ganze erste Teil des Buchs besteht aus Reflexionen über diese Themen, durchsetzt mit zahlreichen Zitaten aus den russischen Klassikern ab der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.

Aber läßt sich die aktuelle russische Realität, von Michail Gorbatschow bis Boris Jelzin, mit dieser Schablone erfassen? Hier ist der wilde Kapitalismus in eine Gesellschaft eingeführt worden, die alles andere als eine beispielhafte Demokratie ist. Es stellt sich die Frage, ob diese Gesellschaft mit dem Modell politischer und wirtschaftlicher Demokratie nach westlichem Vorbild überhaupt vergleichbar ist. Wäre es nicht aufschlußreicher, die Rolle der Beharrungskräfte, der Ungleichzeitigkeit zu betrachten und an die Wirren zu erinnern, von denen die Durchsetzung des Kapitalismus in Westeuropa begleitet war? Sowohl in Rußland als auch im Westen wurde schon vor Jahrzehnten damit begonnen, den Wandel innerhalb der russischen Gesellschaft, sein Voranschreiten und seine Widersprüche zu untersuchen. Aber keiner der vielen mittlerweile publizierten soziologischen, ökonomischen, politischen und demoskopischen Ansätze kommt bei Gratschow zur Sprache. Die Untersuchung bleibt an der Oberfläche des Geschehens, Aufschluß über die Hintergründe der Umwälzungen, die das Land momentan durchmacht, erhält der Leser nicht.

Auch wenn man nicht auschließen kann, daß demnächst eine Koalition von Neokommunisten und Nationalisten an die Macht kommt – die chaotische Politik der Liberalen bereitet immerhin das Feld dafür – , so hat sich die Gesellschaft seit den fünfziger Jahren doch deutlich verändert. Die Zeiten Stalins sind endgültig vorbei. Wie in anderen postkommunistischen Ländern, wo sich eine Rückkehr zum Kommunismus beobachten läßt, müssen auch die neuen Autoritäten in Rußland von der real existierenden Gesellschaft ausgehen, die weit weniger lethargisch ist, als es manchmal den Anschein hat.

J. R.

Fußnote: 1 Andrei Gratchev, „L'Exception russe“, Paris (Editions du Rocher) 1997.

Le Monde diplomatique vom 12.06.1998, von J. R.