12.06.1998

Staatsstreich neuen Typs

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Staatsstreich neuen Typs

Von IGNACIO RAMONET

WOCHE für Woche melden die Medien uns eine neue Elefantenhochzeit, eine der zahlreichen Megafusionen. An Beispielen mangelt es nicht: Daimler-Benz erwarb kürzlich für 43 Milliarden Dollar den Automobilhersteller Chrysler, Travelers für 82,9 Milliarden die Citicorp-Bank, SBC Communications für 60 Milliarden die Telefongesellschaft Ameritech, Sandoz für 36,3 Milliarden den Arzneimittelhersteller Ciba (die neue Firma heißt Novartis), WordCom kaufte für 30 Milliarden MCI Communication, die Mitsubishi Bank für 33,8 Milliarden die Bank of Tokyo und die Union des banques suisses für 24,3 Milliarden die Société de banque suisse. Nicht zu vergessen die jüngst erfolgte Fusion von Thyssen und Krupp, deren Umsatz sich nach Angaben der Unternehmensleitung auf 63 Milliarden Dollar im Jahr belaufen wird.

Weltweit erreichten die Unternehmensfusionen und -übernahmen 1997 ein Volumen von 1600 Milliarden Dollar! Am stärksten betroffen von dieser Gigantomanie sind Banken, Arzneimittelhersteller, Medien- und Telekommunikationsunternehmen sowie Automobil- und Lebensmittelindustrie. Wie erklärt sich diese Betriebsamkeit? Im Rahmen der Globalisierung streben die großen Industriegruppen der Triade Nordamerika-EU-Japan unter Ausnutzung der Deregulierung der Wirtschaft nach weltweiter Präsenz. Sie versuchen, sich in jedem größeren Land signifikante Marktanteile zu erobern. Der Fusionstaumel ebenso wie der Höhenflug der westlichen Börsen ist jedoch durch die niedrigen Zinssätze (die eine Verlagerung vom Obligationen- auf den Aktienmarkt bewirken), durch die massive Flucht des Kapitals von den asiatischen Börsen, durch die kolossale Finanzkraft der großen Rentenfonds und durch eine erhöhte Unternehmensrentabilität in Europa wie den USA bedingt.

Tabus gibt es bei derlei Akquisitionen kaum noch. Vor nicht allzu langer Zeit galten den Regierungen die Automobil- und Schwerindustrie ebenso wie der Telekommunikationssektor als strategisch wichtige Bereiche des Staatssektors. In Großbritannien nahm man bereits vor zwanzig Jahren davon Abstand, und die Übernahme von Chrysler durch Daimler-Benz zeigt deutlich, daß die USA dasselbe tun. „Die Unternehmenschefs lassen sich neuerdings durch nichts mehr aufhalten“, erklärt ein Experte der Boston Consulting Group: „Die Schranken des traditionellen Kapitalismus fallen, die gegenseitigen Nichtangriffspakte sind abgelaufen. Selbst dem annäherungsunwilligsten Konzern rennt man heutzutage die Bude ein.“1

Schließlich bieten Fusionen in den Augen der Beutegeier zahlreiche Vorteile. Sie entschärfen den Wettbewerb durch Aufkauf der Konkurrenz – denn meistens fusionieren unmittelbare Konkurrenten, die eine quasimonopolistische Marktherrschaft anstreben.2 Außerdem ermöglichen sie oftmals ein Aufholen eventueller Forschungs- und Entwicklungsrückstände, indem man sich Unternehmen einverleibt, die einen realen technologischen Vorsprung besitzen. Und sie liefern zu guter Letzt oftmals den Vorwand für Massenentlassungen. Der Zusammenschluß der britischen Arzneimittelhersteller Glaxo und Wellcome etwa führte bereits im ersten Jahr zur Abschaffung von 7500 Arbeitsplätzen, das heißt 10 Prozent der Gesamtbelegschaft.

MANCHE Firmen haben mittlerweile titanische Ausmaße angenommen, und ihre Umsätze stellen das Bruttosozialprodukt so mancher Industrieländer in den Schatten. So übersteigt der Umsatz von General Motors das BSP Dänemarks, der Umsatz Exxons das BSP Norwegens und der Umsatz Toyotas das BSP Portugals.3 Die Finanzmittel dieser Unternehmen liegen sogar über den Haushaltseinnahmen hoch entwickelter Industrieländer. Vor allem aber übersteigen sie die Devisenreserven der Zentralbanken in den meisten größeren Staaten.

Es scheint, als befinde man sich in einem Pumpsystem: Die Unternehmen fusionieren und wachsen zu Riesen heran, die Staaten privatisieren und schrumpfen zu Zwergen.

Seit Margaret Thatcher zu Beginn der achtziger Jahre die ersten Staatsbetriebe privatisierte, ist (fast) alles zu verkaufen. Die meisten Regierungen, linke wie rechte, in der südlichen wie in der nördlichen Hemisphäre, gehen mit der staatlichen Vermögensmasse nicht gerade zimperlich um.

Zwischen 1990 und 1997 veräußerten sie weltweit ein Staatsvermögen von 513 Milliarden Dollar an private Unternehmen, davon allein 215 Milliarden innerhalb der EU. Investoren schätzen privatisierte Staatsbetriebe besonders, da diese vor dem Verkauf zumeist mit Staatsgeldern umstrukturiert wurden und überdies schuldenfrei sind. Als Investitionsobjekte sind sie daher äußerst attraktiv. Besonders gefragt sind Unternehmen der Grundversorgung (Strom, Gas, Wasser, Transport, Telekommunikation, Gesundheit); sie sichern recht hohe, risikolose und dauerhafte Gewinne, und meist hat der Staat sie vor dem Verkauf noch mit langlebigen Ausrüstungsgütern ausgestattet.

So bietet sich uns das unerhörte Schauspiel, daß die Macht global agierender Unternehmen ständig zunimmt, während die Handlungsmöglichkeiten der traditionellen Gegeninstanzen (Staat, Parteien, Gewerkschaften) anscheinend ständig schwinden. Das Hauptphänomen unserer Zeit, die Globalisierung, ist keineswegs staatlich gesteuert. Gegenüber den Riesenkonzernen verliert der Staat in immer mehr Bereichen seine Alleinbefugnis. Können die Bürger diesen weltweiten Staatsstreich neuen Typs dulden?

Fußnoten: 1 Libération, 15. Oktober 1997. 2 Erst kürzlich verklagte die Regierung der USA den Softwarekonzern Microsoft von Bill Gates wegen Verstoßes gegen die Antitrust-Gesetzgebung, um dem Vorwurf zu entgehen, sie begünstige die Entstehung „natürlicher Monopole“. 3 siehe François Chesnais, „La Mondialisation du capital“, Paris (Syros) 1997, S. 251-53.

Le Monde diplomatique vom 12.06.1998, von IGNACIO RAMONET