10.07.1998

Die Schlupflöcher der B-Waffen-Kontrollen

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Die Schlupflöcher der B-Waffen-Kontrollen

Von BRUNO BARRILLOT *

IM Unterschied zu chemischen Waffen, deren Gefährlichkeit und Toxizität durch Flächenstreuung abnehmen, können sich biologische Kampfstoffe unter entsprechenden Umweltbedingungen vermehren und sogar Mutationen hervorbringen, um Schutzmaßnahmen wirkungslos zu machen. Schätzungen zufolge ist zum Beispiel der biologische Wirkstoff des Botulismus (bacillus botulinus), der ähnliche Symptome hervorruft, wie sie bei einer Lebensmittelvergiftung auftreten, dreimillionenmal toxischer als der chemische Wirkstoff Sarin.1 Ungeachtet des B-Waffen-Übereinkommens von 1972 wurden die Forschungen bei höchster Geheimhaltungsstufe fortgesetzt. Als der Umfang des russischen B- Waffen-Programms bekannt wurde, startete die US-amerikanische Akademie der Wissenschaften mit britischer Beteiligung 1997 ein russisch-amerikanisches Gemeinschaftsprojekt zur biologischen Forschung, um der unkontrollierten Abwerbung von B-Waffen-Spezialisten vorzubeugen.2

Geheimgehalten werden diese Forschungen praktisch von allen Staaten, auch von solchen, die sich als treibende Kräfte von Verbotskonventionen profilieren. So ist kürzlich bekannt geworden, daß Frankreich seine Chemiewaffenexperimente in der Anlage „B2 Namous“ nahe dem algerischen Colomb-Béchar nach der Unabhängigkeit Algeriens unter größter Geheimhaltung fortgesetzt hat – mehr als fünfzehn Jahre lang.3 Auch nach der Verabschiedung der C-Waffen-Konvention 1993 ist es den Unterzeichnerstaaten unbenommen, toxische Stoffe „zu nicht verbotenen Zwecken“ zu entwickeln, herzustellen, zu erwerben und auch zu verwenden. Allerdings unterliegen entsprechende Vorgänge der Meldepflicht und strengster Überwachung.4

Diese Forschungen, die erlaubt sind, um Schutzmaßnahmen gegen die Auswirkungen chemischer Waffen entwickeln zu können, werden jedoch ein Vorrecht der Großmächte bleiben, da nur sie über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um die erforderlichen Anlagen und Laboratorien unter höchster Geheimhaltung zu betreiben. Darüber hinaus werden die Großmächte wohl kaum ihre (schwer kontrollierbare) Spitzenforschung über chemische Binärwaffen aufgeben. Solche Waffen bestehen aus zwei vergleichsweise wenig giftigen Substanzen, die getrennt gelagert werden und erst durch ihre Vermischung im Moment der Explosion den todbringenden Stoff bilden. Sowohl die Vereinigten Staaten (1985) als auch Frankreich (1987) haben darauf verwiesen, daß man Programme in diesem Bereich betreibe, die als Reaktion auf die sowjetische Bedrohung eingeleitet worden waren.5 Sollte es bei den C-Waffen genau wie bei den A-Waffen darum gehen, den Abstand zu wahren zwischen denen, die sich bestimmte Rechte schon genommen haben, und allen anderen, die davon ausgeschlossen bleiben sollen?

Seit der Verabschiedung des Chemiewaffen-Übereinkommens von 1993 stehen die Unterzeichnerstaaten unter Zugzwang. Die Vereinigten Staaten haben die Konvention nach einer bewegten Debatte, in der mehrere ehemalige Verteidigungsminister die Ansicht vertraten, das Übereinkommen stehe im Widerspruch zu den Sicherheitsinteressen des Landes, am 24. April 1997 schließlich ratifiziert.6 Rußland folgte am 5. November 1997 nach einem monatelangen Hin und Her, bei dem es auch um die Frage ging, wer die Kosten für die Vernichtung der umfangreichen russischen C-Waffen-Lager zu tragen habe. Frankreich hat die Konvention zwar bereits am 2. März 1995 unterzeichnet, doch erst drei Jahre später per Erlaß einen interministeriellen Ausschuß gebildet, der die Verwaltungskompetenzen regeln soll.7 Eine Frist für die Umsetzung der wichtigsten Konventionsbestimmungen wurde natürlich nicht festgelegt. Und obwohl die französische Regierung verlautbaren ließ, sie messe „der raschen Verabschiedung eines Gesetzentwurfs zur unbeschränkten Umsetzung der Konvention große Bedeutung bei“8 , rückt sie nur zögerlich und stückweise mit Informationen zu ihren Lagerbeständen und Forschungszentren heraus. Demgegenüber haben beispielsweise die Briten am 4. Juni 1997 einen detaillierten, 240 Seiten umfassenden Bericht über ihr bisheriges C-Waffen-Programm veröffentlicht.

Denn Meldung und Vernichtung der Lagerbestände sind integraler Bestandteil des Übereinkommens. Alle Unterzeichnerstaaten verpflichten sich im übrigen, die nötige Transparenz herzustellen, um die Größenordnung der Aufgabe abschätzen zu können. Die Vereinigten Staaten sollen 30000 Tonnen chemische Munition besitzen, aber die eigens dafür gebaute Verbrennungsanlage auf der Pazifikinsel Johnston wird nur 3 Prozent dieser Menge verarbeiten können. Folglich müssen weitere Verbrennungsanlagen auf amerikanischem Territorium errichtet werden – ein Ansinnen, gegen das sich bereits erste Bürgerinitiativen gebildet haben. Nach Schätzungen amerikanischer Experten wird die Vernichtung der US-Bestände Kosten in Höhe von 12 Milliarden Dollar verursachen. Die Russen beziffern die Entsorgungskosten für ihr C- Waffen-Arsenal, das je nach Schätzung zwischen 40000 und 80000 Tonnen liegt, auf nur 5 Milliarden Dollar.9

Eine Umweltkatastrophe

EBENSO besorgniserregend ist die Frage, wie die Ostsee und ein Teil der Nordsee vor einer ökologischen Katastrophe zu bewahren sind. Am Ende des Zweiten Weltkriegs warfen Russen und Deutsche insgesamt 87000 Tonnen chemische Munition in die Ostsee, während Amerikaner und Briten mehr als 160000 Tonnen im Skagerrak, der Meerenge zwischen Norwegen, Schweden und Dänemark, versenkten. Nach Auskunft der Experten behält das auf dem Meeresboden liegende Senfgas 400 Jahre lang seine hochtoxische Wirkung.10

Trotz all der genannten Hindernisse und Verzögerungstaktiken scheint es im Kampf gegen die Weiterverbreitung von C-Waffen voranzugehen. Die Neufassung der wirkungslosen B-Waffen-Konvention von 1972 hingegen läßt auf sich warten. Ende 1994 wurde in Genf eine Ad-hoc- Gruppe mit der Ausarbeitung von Verbesserungsvorschlägen betraut, doch die Arbeit kam von Sitzung zu Sitzung immer schleppender voran und wird trotz dringenden Handlungsbedarfs voraussichtlich erst im Jahr 2001, beinahe dreißig Jahre nach Inkrafttreten der Konvention, mit einem Zusatzprotokoll enden. Die Arzneimittel- und Biotech-Industrie, die in diesem Bereich riesige Kapitalien investiert haben, bremsen hier gewaltig. Sie befürchten, daß die im künftigen Protokoll vorgesehenen Inspektionsverfahren nach dem Vorbild der C-Waffen-Konvention einer Einladung zur Industriespionage gleichkommen.11

Die Schrecken einer Weiterverbreitung von biologischen Waffen zu bannen ist jedoch ungleich wichtiger als die Unannehmlichkeiten, die eine Inspektion verdächtiger oder zweifelhafter Industrieanlagen bereiten könnte. Wenn es als normal gilt, daß die UN-Sonderkommission Unscom im Irak 1996 allein wegen angeblicher B-Waffen-Produktion12 zwanzig zum Teil mehrwöchige Inspektionen vornehmen durfte, scheint es angebracht, daß andere Staaten und die Industrie diese Prozedur aus freiem Entschluß über sich ergehen lassen, um der Bedrohung durch biologische Kampfstoffe ein Ende zu bereiten. Nach Meinung von Experten sollten sich die betroffenen Unternehmen stärker als bisher in die Verhandlungen über das künftige Protokoll einschalten. So hätten sie die Möglichkeit, sich mit den Diplomaten über geeignete Inspektionsverfahren und Kontrollinstrumente, die ihre Interessen nicht verletzen, ins Einvernehmen zu setzen.13

Neben den Diplomaten, Experten und Industriellen sollte aber auch die Zivilgesellschaft ein Mitspracherecht erhalten. So schlug der Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat mit Blick auf ein künftiges Atomwaffenverbot ein Überwachungssystem vor, das „allen Bürgern das Recht einräumt und die Pflicht auferlegt, eine internationale Behörde über jeden versuchten Vertragsbruch in Kenntnis zu setzen. Dieses Recht und diese Pflicht müssen durch eine Vertragsklausel garantiert werden, in der sich alle Vertragsstaaten verpflichten, auf nationaler Ebene entsprechende Gesetze zu erlassen.“14 Frankreich eröffnet hier in gewisser Weise neue Perspektiven: Der Gesetzentwurf zum Verbot von Antipersonenminen, über den das Parlament am 24. April 1998 debattierte, sieht die Beteiligung von regierungsunabhängigen Organisationen am Überprüfungsverfahren vor. Wäre es nicht zweckdienlich, diesen Ansatz auf alle Massenvernichtungswaffen auszuweiten?

dt. Bodo Schulze

* Centre de documentation et de recherche sur la paix et les conflits, Lyon.

Fußnoten: 1 John D. Holum, Direktor des Amts für Rüstungskontrolle und Abrüstung (ACDA), auf einer Pressekonferenz am 11. Februar 1998 in Bonn. 2 Sophie Shihab, „Les mystères de la Cité 19“, Le Monde, 27. Februar 1998. 3 Vincent Jauvert, „Quand la France testait des armes chimiques en Algérie“, Le Nouvel Observateur, Paris, 23. Oktober 1997. 4 Seit Inkrafttreten der Konvention im April 1997 bis Ende Februar 1998 hat die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen 152 Routineinspektionen in 24 Ländern, darunter die Vereinigten Staaten, durchgeführt. 5 Am 8. April 1987 gab der französische Parlamentsabgeordnete François Fillon bekannt, die Regierung habe mit Zustimmung des Staatspräsidenten beschlossen, „die industrielle Herstellung von chemischer Binärmunition in Angriff zu nehmen“, Journal officiel, „Débats parlementaires“, Assemblée nationale, première séance, vom 8. April 1987, S. 94. 6 Washington Post, 5. März 1997. 7 Dekret 98-36 vom 16. Januar 1998. 8 Journal officiel, „Sénat, questions et réponses des ministres“, 5. März 1998. 9 AFP-Meldung vom 20. Juni 1997. 10 Alexander W. Kaffka, „Sea Dumped Chemical Weapons. Aspects, Problems and Solutions“, Norwell, Maine (Kluwer Academic Publishers) 1996, S. 69. 11 Malcolm Dando, Disarmament Diplomacy, Dezember 1997, S. 13. 12 Sipri Yearbook 1997, Oxford University Press, S. 460. 13. Johnathan B. Tucker, „Technology Review“, Courrier international, Paris, 26. Februar 1998, S. 32. 14. Joseph Rotblat, „Vérification par le citoyen“, in „Éliminer les armes nucléaires. Est-ce souhaitable? Est-ce réalisable?“, Paris (Transition) 1997.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von BRUNO BARRILLOT