10.07.1998

Der Krieg in Kivu, den keiner sehen will

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Der Krieg in Kivu, den keiner sehen will

MEHR als ein Jahr nach dem Sturz der Mobutu-Diktatur ist die Lage im Kongo nach wie vor äußerst labil. Die schwerste Bedrohung für den inneren Frieden kommt zur Zeit aus den beiden östlichen Provinzen Süd- und Nordkivu, wo die Lage aufs äußerste gespannt ist. Ein Aufstand in Südkivu war es im Jahr 1996 übrigens auch gewesen, der das Ende des Mobutu-Regimes eingeleitet hatte. Trotz aller schönfärberischen Reden über Krisenprävention kündigt sich in dieser Region wieder eine Explosion an.

Von GÉRARD PRUNIER *

Die kongolesischen Provinzen Nord- und Südkivu grenzen an Uganda, Ruanda und Burundi. Kulturell und wirtschaftlich zählen sie zu Ostafrika und leben seit jeher – geographisch wie mental – in großer Distanz zur Hauptstadt Kinshasa. In den zwanziger und dreißiger Jahren hatten die belgischen Kolonialbehörden das demographische Gefälle zwischen dem damaligen Mandatsgebiet Ruanda-Urundi und dem belgischen Kongo genutzt, um ruandische Arbeitskräfte für die Plantagen im Kivu und sogar für die Minen in Katanga anzuwerben. Das verringerte einerseits die Probleme der Überbevölkerung im ruandischen Hügelgebiet und verschaffte den Kolonialherren andererseits folgsame – weil expatriierte – Arbeitskräfte.

Diese ruandischen Einwanderer, sowohl Tutsi als auch Hutu, gesellten sich zu den ruandischsprachigen Bevölkerungsgruppen, die sich bereits vor der Kolonialära in diesen Gebieten angesiedelt hatten. Nach der Unabhängigkeitserklärung erhielten sie die kongolesische Nationalität, ebenso wie die anderen Bewohner des Kivu. Doch während des Bürgerkriegs 1960-1965 führte das Ringen um Landbesitz dazu, daß einige sogenannte autochthone Stämme begannen, die ruandischsprachigen „Ausländer“ zu verfolgen, um sich deren Land anzueignen.

Da die „Autochthonen“ sich im allgemeinen auf die Seite der Rebellen Muleles1 schlugen, sah Mobutu sie als Feinde an und begünstigte die ruandischsprachigen Gruppen. Die Verbindungen reichten bis in den engeren Kreis um Mobutu – einer der Ihren war Kabinettschef des Präsidenten. Sie nutzten diese Gunst, um zahlreiche Ländereien in Nordkivu für sich zu beanspruchen, was ihnen die „Autochthonen“ bis heute nicht verziehen haben. Aber da Mobutu seinen Marionetten nie wirkliche Macht übertrug, gab es sehr bald ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz, das die zairische Staatsangehörigkeit der ruandischsprachigen Bewohner des Kivu in Frage stellte und diese in größte Ungewißheit stürzte.

Die lokalen Spannungen waren sozusagen fremdbestimmt von Mobutus Politik ethnischer Spaltung und entluden sich 1990 im ruandischen Bürgerkrieg, der 1994 zu dem furchtbaren Genozid führte. Die ruandischsprachigen Bewohner des Kivu, die lange Zeit einheitlich den „autochthonen“ Gruppen gegenübergestanden hatten, spalteten sich während des Krieges in Tutsi, die Anhänger der RPF (Ruandische Patriotische Front), auf der einen Seite und Hutu, die das Regime des ruandischen Präsidenten Habyarimana unterstützten, auf der anderen. Der Tod Habyarimanas und das Zusammenbrechen des Regimes im Sommer 1994, verbunden mit der Flucht von mehr als einer Million ruandischer Hutu nach Nord- und Südkivu, steigerte die Spannungen erheblich: die Neuankömmlinge benahmen sich nicht wie „klassische“ Flüchtlinge, sondern begannen, sich mit Hilfe der bereits in Kivu ansässigen Hutu zu einer lokalen Macht aufzubauen. Sie bekämpften dabei zugleich die „autochthonen“ Gruppen und die zairischen Tutsi. Zwei Jahre lang, von 1994 bis 1996, nutzten die Hutu-Extremisten kaltblütig die Hilfsleistungen der UNO und der humanitären Hilfsorganisationen, die eigentlich für die unter ihrer Obhut stehenden eine Million Hutuflüchtlinge bestimmt waren. Nach und nach schafften es die Hutu-Extremisten so, beide Kivuprovinzen unter ihr politisches und militärisches Diktat zu zwingen.

Die ruandische Regierung reagierte auf diese bedrohliche Situation von September bis November 1996 mit einer großangelegten militärischen „Säuberungsaktion“ in den Flüchtlingslagern. Kurzfristig war die Operation ein „Erfolg“. Die Mehrheit der Flüchtlinge (etwa 700000) gingen nach Ruanda zurück, die anderen begannen zu Fuß einen transkontinentalen Treck, der manche bis an den Atlantik führte und etwa 200000 Menschen das Leben kostete.2 Doch auch wenn diese militärische Operation das Mobutu-Regime zu Fall brachte3 , wurde mittelfristig jener Krieg ins Herz Ruandas getragen, den Paul Kagame, der starke Mann der ruandischen Regierung, gerade von seinen Grenzen entfernen wollte. Wiederum bildete die Kivuregion die Frontlinie.

Von diesen erneut ausgebrochenen Feindseligkeiten ist Nordkivu heute weitaus am stärksten betroffen. Im nördlichsten Teil, entlang der ugandischen Grenze, konnten sich – da das Regime in Kinshasa die Region faktisch nicht mehr kontrolliert – ugandische Rebellenbewegungen niederlassen, die von hier aus ungehindert gegen die ugandische Regierung arbeiten: die Alliance of Democratic Forces (ADF) ist eine pluriethnische Guerilla mit islamisch-fundamentalistischer Ideologie, die in der Grenzregion, wo sie operiert, schlecht verankert ist und sich daher lieber auf ihre Stützpunkte im Kongo verläßt. Größtenteils überlebt sie dort dank der Unterstützung des sudanesischen Regimes, das den ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni bekämpft. Der Sudan wirft ihm vor, die christliche Guerilla im Südsudan zu unterstützen. In Kivu operiert die ADF mit Stützpunkten in jenen Gebieten, die von der ehemaligen ruandischen Armee Habyarimanas (Forces Armées Rwandaises, FAR), der Genozidarmee, kontrolliert werden. Die ex-FAR greift regelmäßig Ruanda an und verübt dort zahlreiche Massaker.

Die Regierungen in Kampala und Kigali wären einer „Säuberungsaktion“ in der Region Beni-Rutshuru-Masisi alles andere als abgeneigt. Seit fast einem Jahr schon findet dort ein nicht erklärter Krieg statt: Die ugandische und vor allem auch die ruandische Armee verstärken ständig ihre Militärpräsenz. Die Kämpfe landesfremder Gruppen auf kongolesischem Boden ziehen zwangsläufig die lokalen Bevölkerungsgruppen in den Konflikt hinein. In Nordkivu ist der Konflikt gar dreiseitig: die „Autochthonen“, die Ruandischsprachigen und die kongolesische Armee (Forces Armées Congolaises – FAC), meist Luba aus Katanga, bekämpfen sich gegenseitig in wechselnden Bündniskonstellationen, und je nachdem kämpfen sie auf beiden Seiten: mit oder gegen Ugander und Ruander.

Chaos innerhalb der Guerilla

DIE Situation ist äußerst komplex: Es gibt in der Region ein gutes Dutzend bewaffneter Gruppen und genau so viele ethnische Gruppierungen, wobei sich die einen nicht unbedingt mit den anderen decken. Vereinfacht gesagt, kollaborieren die ruandischsprachigen Tutsi mit den Ugandern und Ruandern, während die ruandischsprachigen Hutu sie bekämpfen, in einem wenig stabilen Bündnis mit den „Autochthonen“4 . Die FAC steht dazwischen und versucht mehr schlecht als recht, eine Art nationaler Kontrolle in diese regionalen Turbulenzen zu bringen.

In Südkivu stellt sich die Frage der ausländischen Einmischung anders, denn dort trifft man auf burundische Guerillagruppen, die Forces de défense de la démocratie (FDD) und den Parti pour la libération du peuple hutu (Palipehutu). Im Herbst 1996 kurzfristig von Kabilas Truppen verjagt, kehrten sie bald aus dem tansanischen Exil zurück und nahmen ihre Operationen gegen das Regime von Präsident Buyoya wieder auf. FDD und Palipehutu arbeiten im Prinzip zusammen mit den ex- FAR, den für den Genozid in Ruanda verantwortlichen Truppen. Ihre Beziehungen sind jedoch äußerst gespannt, und es kommt häufig zu Streitigkeiten.

Dieses Chaos innerhalb der burundischen Guerilla ermöglicht Buyoya, eine gemäßigtere Regionalpolitik zu betreiben als seine ruandischen Nachbarn. Seine Armee führt zwar zuweilen unauffällige Operationen in Kivu durch, aber nie über einen längeren Zeitraum. In Südkivu haben die gewaltsamen Auseinandersetzungen noch nicht dasselbe Ausmaß angenommen wie in Nordkivu, doch gibt es dort ein schwer lösbares regionales Problem: das der Banyamulenge. Sie sind eine Gruppe von Tutsi, die im letzten Jahrhundert aus Ruanda einwanderte und sich während der Kolonialzeit um eine Anzahl von Neueinwanderern vergrößerte.

Im Bürgerkrieg 1960-65 und bis in die achtziger Jahre hinein waren sie mit Mobutu verbündet, doch als danach der Diktator eine schwankende Haltung einnahm und die „Autochthonen“ bevorzugte, wurden diese ruandischsprachigen Einwohner marginalisiert. 1996 lieferten die Verfolgungen und Massaker gegen diese Gruppe General Paul Kagame den gewünschten Vorwand, um die „Operation Kabila“ zu starten. Zu Anfang der Auseinandersetzungen bildeten die Banyamulenge eine Zeitlang die Speerspitze der Armee Kabilas. Doch nach dem Sieg wurden sie vom neuen Regime in Kinshasa als peinliche Altlast angesehen. Sie bilden in Südkivu nur eine kleine Minderheit in einer Größenordnung von 50000 bis 60000 Personen, wie es heißt.5

Teilweise auf Initiative ihres lästigen Schutzpatrons aus Kigali haben sie sich in Bukavu und der Region Südkivu als administrative und wirtschaftliche Herren aufgespielt. Ab Februar 1998 wurden sie plötzlich innerhalb der FAC marginalisiert. Auf Befehl aus Kinshasa hin wurde ihnen dort der Platz streitig gemacht – oft von ehemaligen Offizieren der Mobutu- Armee, die in die Kabila-Armee integriert worden waren. Als die Gefahr bestand, daß ihre Einheiten aufgelöst und in die verschiedensten Ecken des Landes verstreut werden würden, entschieden sich die Banyamulenge-Soldaten für den Aufstand: Die Bewegung endete erst nach zwei Wochen und nach mehreren vollstreckten Todesurteilen. Die Situation in der Region Uvira/Bukavu bleibt weiterhin sehr gespannt. Im Augenblick bilden die „autochthonen“ Gruppen eigene Milizen, um den Banyamulenge entgegenzutreten, denn sie befürchten, daß diese bei der ruandischen Armee Verstärkung finden werden. Die Stimmung ist bedrückend, viele Menschen wurden bereits ermordet, viele sind verschwunden. Es wird allgemein erwartet, daß die massive Gewalt aus Nordkivu bald nach Südkivu übergreift.

Wie läßt sich aus diesen Mosaiksteinen ethnoregionaler Mikrokonflikte eine geographische Gesamtstruktur wiederherstellen? Zumal die Konflikte Hunderte, in manchen Monaten gar Tausende Todesopfer fordern. In erster Linie ist festzustellen, daß die Gewalt im Prinzip aus dem Zusammentreffen von massiver Überbevölkerung6 und ebenso massiver Unterentwicklung herrührt. Ruanda und Burundi sind Kleinststaaten von etwa je zwanzigtausend Quadratkilometern. Die dort immer noch vorherrschende traditionelle Landwirtschaft bietet keine wirtschaftliche Grundlage mehr, und die Gewalt dieser Kleinststaaten überträgt sich auf den großen kongolesischen Nachbarn.

Politisch handelt es sich um die immer weitere Ausdehnung der ruandischen Katastrophe: mindestens 800000 Tote während des Genozids 1994, zwei Millionen Flüchtlinge 1994-967, grenzüberschreitende Operationen 1996-97, die unter diesen Flüchtlinge etwa 200000 Tote fordern, Sturz der Mobutu-Diktatur, Errichtung des ruandisch beeinflußten autoritären Regimes von Kabila, das Aufreiben des kongolesischen Staates zugunsten von Regionalmafias – und im Falle Kivus, wo nicht eine, sondern mehrere Regionalmafias gegeneinander angetreten sind, unmittelbare Explosionsgefahr.

Es ist schon ein wenig bittere Ironie, feststellen zu müssen, wie die Region sich langsam, aber sicher auf neue Katastrophen zubewegt, während gleichzeitig die Parole der neuen Weltordnung gegenüber den afrikanischen Herausforderungen „Konfliktvorbeugung“ lautet. Dabei ist der Konflikt sichtbar, angekündigt und bereits ausgebrochen – doch es passiert absolut nichts, weder von seiten der UNO, die noch vor kurzem, vertreten durch ihren Generalsekretär, über ihre eigene unangemessene Reaktion zur Zeit des ruandischen Genozids 1994 lamentierte, noch von seiten der USA, die sich im März 1998 in Entebbe selbst zum Schutzpatron der berühmten „neuen afrikanischen Führer“ krönten (zum Schutzpatron also ebenjener Führer, die sich derzeit gegenseitig zerfleischen); noch von seiten der EU, die offensichtlich zu sehr mit der eigenen Währungsangleichung beschäftigt ist, um sich um solche fernen Tragödien zu scheren. Kivu steht kurz vor der Explosion, und niemand versucht die Zündschnur durchzuschneiden. Hinterher wird man dann genügend Zeit haben, um lange Berichte über internationale Finanzhilfe zu verfassen, um „Lehren zu ziehen“, und um Handlungsempfehlungen für die nächste Krise zu geben ...

dt. Christiane Kayser

* Forscher am Centre nationale de recherches scientifiques (CNRS).

Fußnoten: 1 Pierre Mulele war einer der Führer der Simba- Rebellion, die sich in den sechziger Jahren gegen die Regierung in Léopoldville (heute Kinshasa) erhob. Eine historische Perspektive vermittelt Elikia M'Bokolo „Aux sources de la crise zairoise“, Le Monde diplomatique, Mai 1997. 2 Siehe Oscar Garreton, „L'impossible enquête“, Le Monde diplomatique, Januar 1998. 3 Siehe Colette Braeckman, „Comment le Zaire fut libéré“, und Philippe Leymarie, „Wie der Kabila-Effekt den Kontinent verändert“, Le Monde diplomatique, Juli 1997. 4 Sie bilden die sogenannten Mai-Mai-Milizen, die im wesentlichen aus Bahunde und Banyanga bestehen. Doch seit einigen Monaten wird dieser Begriff auch allgemeiner benutzt: Die „autochthonen“ Kämpfer der Bavira, Bashi und Babembe in Südkivu werden heute oft „Mai-Mai“ genannt. 5 Die Situation unterscheidet sich deutlich von Nordkivu, denn dort bilden die ruandischsprachigen Einwohner – Hutu und Tutsi – mindestens 60 Prozent der Bevölkerung. 6 Die Bevölkerungsdichte beträgt etwa 350 Einwohner pro Quadratkilometer mit lokalen Spitzen von 800 bis 1000 Einwohnern. 7 Zwei Millionen, denn zu den 1,2 Millionen Flüchtlingen in Zaire kamen etwa 900000 in Tansania.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von GÉRARD PRUNIER