10.07.1998

In den USA wird die Armut bekämpft, indem man sie kriminalisiert

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In den USA wird die Armut bekämpft, indem man sie kriminalisiert

DIE Gefängnisse in jenem Land, das sich als „freie Welt“ versteht, sind überfüllt, und die Verherrlichung von Recht und Ordnung führt zu immer härteren Gerichtsurteilen. Überproportional viele der Menschen, die in die Mühlen der Justiz geraten, sind sozial Ausgegrenzte, die den „amerikanischen Traum“ nie mitträumen konnten. Im Zuge der Einsparungen im Sozialsektor sinken die Ausgaben für Bildung und Gesundheit, immer mehr Menschen sind ohne Wohnung und Einkommen. „Überwachen und Strafen“ scheint die Devise: Der Ruf nach „weniger Staat“ macht Schule, und private Investoren machen den Profit.

Von LOÏC WACQUANT *

Wie in den besten Tagen der Nachkriegszeit schauen die europäischen Regierungen, Unternehmer und Meinungsmacher heutzutage wieder mit großen, ein wenig neidischen Augen auf die USA, insbesondere auf den derzeit stattfindenden wirtschaftlichen Umbau. Die Zauberformel des amerikanischen Wirtschaftswachstums und der sinkenden Arbeitslosigkeit lautet angeblich: weniger Staat. Tatsächlich haben die Vereinigten Staaten – ebenso wie Neuseeland und Großbritannien – ihre Sozialausgaben drastisch gekürzt, vorhandene Einstellungs- und Kündigungsregeln rigide abgebaut und somit eine „Flexibilisierung“ der Arbeit zur neuen Arbeitsnorm, um nicht zu sagen zur staatsbürgerlichen Norm erhoben. Wie lautstark die Vertreter dieser Richtung – die dem Wohlfahrtsstaat das Totenlied singen – den neuen Reichtum und die neu geschaffenen Arbeitsplätze auch lobpreisen mögen, so zögern sie doch immer noch, über die Folgen dieser Lohndumping-Politik auch nur ein Wort zu verlieren: über die zunehmend allgemeine soziale und physische Verunsicherung sowie ein schwindelerregendes Anwachsen der Ungleichheit, die Ausgrenzung, Kriminalisierung und Verwaisung der öffentichen Institutionen mit sich bringt.

Doch es reicht nicht, die direkten sozialen und menschlichen Kosten des Systems sozialer Unsicherheit abzuwägen, welches die USA der Welt als „Modell“ anbieten.1 Es geht vor allem um seine soziologische Ergänzung: Die rasante Entwicklung von Institutionen, die den Mangel an sozialem Schutz (safety net) ausgleichen, indem sie für die unteren Gesellschaftsschichten ein immer engmaschigeres polizeiliches und strafrechtliches Netz (dragnet) verfertigen. Dem gezielten Schwund des Sozialstaats entspricht das zunehmende Engagement des strafenden Staats: Elend und Verfall des ersteren hat unwillkürlich und unmittelbar Größe und Blüte des zweiteren zur Folge.

Vier Punkte sind bemerkenswert, die die Entwicklung des Justizapparates in den Vereinigten Staaten seit dem sozial- und rassenpolitischen Umbruch der siebziger Jahre charakterisieren: die zunehmende Zahl der inhaftierten Personen; die „Überwachung“ einer immer größeren Gruppe von Menschen an den Rändern des Strafvollzugssystems; die enorm aufgeblähten Abteilungen der Justizbehörden auf lokaler und Bundesebene; sowie ein fortwährendes „Schwärzerwerden“ der Inhaftierten. Eine Reaktion auf die demokratischen Errungenschaften der rebellierenden Schwarzen und anderer populärer Protestbewegungen, die sich ihnen angeschlossen hatten (Studenten, Frauen, Vietnamkriegsgegner, Umweltschützer).

5,4 Millionen Amerikaner unter justitieller Aufsicht

DIE zunehmende Zahl an Gefängnisinsassen innerhalb des dreistufigen Strafapparates – Gefängnisse der Städte und Counties, Strafanstalten der einzelnen Bundesstaaten bzw. Strafanstalten auf nationaler Ebene – ist überwältigend. Noch in den sechziger Jahren wies die Statistik im Strafvollzug nach unten, und bis 1975 war die Zahl der Inhaftierten langsam, aber stetig um jährlich etwa 1 Prozent auf 380000 gesunken. Damals drehte sich die Debatte um Resozialisierung, um Ersatzstrafen und darum, nurmehr die Täter von „gefährlichen Raubüberfällen“ einzusperren (das heißt 10 bis 15 Prozent der Kriminellen); einige verkündeten sogar mutig das Ende des Strafvollzugssystems.3 Doch die Statistik sollte entgegengesetzte Höhen erklimmen: Zehn Jahre später (1985) war die Zahl der Gefangenen sprunghaft auf 740000 angestiegen, 1995 war sie bei über 1,6 Millionen angelangt. Seither stieg sie weiter kontinuierlich um jährlich 8 Prozent.

Diese Verdreifachung der Zahl inhaftierter Personen innerhalb von nur fünfzehn Jahren ist beispiellos für eine demokratische Gesellschaft. Damit liegen die Vereinigten Staaten weit vor den anderen Industrieländern: die Zahl inhaftierter Personen – über 600 Häftlinge auf 100000 Einwohner im Jahr 1997, das ist fünfmal soviel wie noch 1973 – liegt sechs bis zehn Mal höher als in den Ländern der EU (siehe Tabelle 1).4 Selbst das Apartheidregime in Südafrika brachte weniger Menschen hinter Gitter als die Vereinigten Staaten heute.

Kalifornien, bis vor kurzem nationales Vorbild im Bildungs- und Gesundheitsbereich, hat sich mittlerweile ganz dem Strafsystem verschrieben; hier ist die Gefangenenzahl allein in den staatlichen Gefängnissen von 17300 im Jahr 1975 auf 48300 im Jahr 1985 gestiegen; und zehn Jahre später waren es schon mehr als 130000. Wenn man die Zahl der inhaftierten Personen in den lokalen jails hinzurechnet (allein die des Los Angeles County beherbergen über 20000 Gefangene), erreicht man die phänomenale Zahl von 200000 Menschen.

Aber das Phänomen des „großen Wegschließens“ am Ende dieses ausgehenden Jahrhunderts gibt nicht wirklich Aufschluß über das reale Ausmaß des amerikanischen Strafimperiums. Einerseits bleiben die Personen unberücksichtigt, denen bedingte Strafaussetzung gewährt wurde – sei es auf Bewährung (on probation), oder auf auf Ehrenwort (on parole). Da es aber unmöglich ist, in so kurzer Zeit ausreichend viele Gefängnisse zu bauen, um den Zustrom von Verurteilten aufnehmen zu können, ist die Zahl derer, die in der Bannmeile des Gefängnisses leben, schneller gewachsen als die Anzahl der Menschen, die innerhalb der Gefängnismauern dahinvegetieren. Innerhalb von sechzehn Jahren hat sich die Zahl beinahe vervierfacht und im Jahr 1995 fast die Viermillionengrenze erreicht: 3,1 Millionen Verurteilte, die auf Ehrenwort (parole), und 700000 Verurteilte, die auf Bewährung (probation) in Freiheit sind. Somit standen 1995 insgesamt 5,4 Millionen Amerikaner unter justitieller Aufsicht, das sind knapp 5 Prozent aller Männer über achzehn Jahren, und das ist jeder fünfte männliche Schwarze.

Andererseits hat sich der Zugriff des Justizsystems über die sogenannten Übergangsstrafen wie Hausarrest oder das Einsitzen in einem boot camp (Drill-Lager für jugendliche Straftäter), intensive Bewährungsprobe und telefonische oder elektronische Überwachung (mit Hilfe von Armbändern und anderem technischen Schnickschnack) – erheblich ausgeweitet. Möglich wurde das durch die zunehmende Verbreitung kriminalistischer Datenbanken und der damit einhergehenden Vervielfachung der Mittel und Zentren zur Fernüberwachung. In den siebziger und achtziger Jahren haben die Law Enforcement Administration Agency sowie Polizei, Gerichte und Justizverwaltungen der Bundesstaaten zentrale Datenbanken eingerichtet. Dies geschah auf Veranlassung der obersten Bundesbehörde, die mit der Verbrechensbekämpfung betraut ist.

Als Ergebnis des neuartigen Zusammenwirkens der beiden Aufgabenbereiche – Festnahme und Überwachung – im Justizapparat existieren heute über 50 Millionen Kriminalakten (vor zehn Jahren waren es noch 35 Millionen), in denen etwa 30 Millionen Einzelpersonen erfaßt sind. Das ist fast ein Drittel der erwachsenen männlichen Bevölkerung des Landes! Zugang zu diesen Datenbanken (rap sheets) haben nicht nur staatliche Behörden wie das FBI oder der INS (dem die Fremdenpolizei untersteht) und die sozialen Dienste, sondern auch Privatpersonen und -organisationen. Diese Dateien werden von den Arbeitgebern benutzt, um vorbestrafte Bewerber aussortieren zu können. Und wen kümmert es, wenn sie häufig ungenau, veraltet, harmlos, wenn nicht sogar illegal sind? Die Verfügbarkeit dieser Akten und Daten rückt nicht nur die Kriminellen und bloßen Tatverdächtigen, sondern auch ihre Familien, ihre Freunde, ihre Nachbarn und ihre Wohnviertel ins Blickfeld des Polizei- und Justizapparates.6

Der dritte Punkt ist die gefräßige Gefängnisapparatur. Sie ist einerseits die Folge der außerordentlich aufgeblähten Strafjustizabteilungen auf nationaler und regionaler Ebene – andererseits bedient sie sich jedoch auch dieser Abteilungen, indem sie enorme Summen verschlingt. Diese Tendenz ist um so bemerkenswerter, als sie in einer Zeit zutage tritt, in der im öffentlichen Dienst allenthalben die Gürtel enger geschnallt werden. Zwischen 1979 und 1990 sind die Ausgaben der Bundesstaaten im Gefängniswesen für den Unterhalt (Betriebskosten) der Gefängnisse um 325 Prozent und für den Bau neuer Gefängnisse um 612 Prozent gestiegen, das heißt dreimal schneller als die Militärausgaben des Landes, obschon die Verteidigung während der Amtszeiten von Ronald Reagan und George Bush außergewöhnlich hoch im Kurs stand. Die folgenden vier Bundesstaaten gaben seit 1992 über eine Milliarde Dollar für die Sicherheitsverwahrung aus: in Kalifornien betrug die Summe 3,2 Milliarden, der Staat New York zahlte 2,1 Milliarden, Texas 1,3 Milliarden und Florida 1,1 Milliarden Dollar. 1993 haben die Vereinigten Staaten 50 Prozent mehr für ihre Gefängnisse ausgegeben als für ihre Justizverwaltung (32 Milliarden Dollar gegenüber 21 Milliarden), während zehn Jahre zuvor die Budgets dieser beiden Verwaltungsbereiche noch identisch waren (jeweils etwa sieben Milliarden Dollar).

Diese Politik der Ausweitung des Strafsektors ist jedoch keineswegs nur den Republikanern vorbehalten. Während Präsident Clinton im ganzen Land stolz verkündete, er habe der Ära des „big government“ ein Ende bereitet – und während die Reformkommission der Regierung unter der Ägide des Vizepräsidenten Al Gore damit befaßt war, Programme und Stellen im öffentlichen Dienst zusammenzustreichen –, sind in den vergangenen fünf Jahren 213 neue Gefängnisse gebaut worden. Diese Zahl läßt die privaten Einrichtungen unberücksichtigt, von denen es immer mehr gibt, seitdem Privatgefängnisse ein lukrativer Markt geworden sind (siehe Kasten). Im selben Zeitraum ist die Zahl der Angestellten allein in den Bundesstrafanstalten von 264000 auf 347000 gestiegen. Tatsächlich rangiert laut US Census Bureau (eine Art Statistisches Bundesamt) die Ausbildung und Einstellung von Gefängniswärtern an erster Stelle unter all den Regierungsaktivitäten des letzten Jahrzehnts.

In Zeiten knapper Staatskassen war die Aufstockung der Budgets und der Personalkontingente im Strafjustizbereich nur möglich, indem die vorgesehenen Summen für den Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich zusammengestrichen wurden. Die Vereinigten Staaten haben sich also de facto entschieden, für ihre Armen anstelle von Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, Kindergärten und Schulen lieber Haft- und Strafanstalten zu bauen.7 So liegt der Jahreshaushalt des California Department of Correction (einer Dienststelle der staatlichen Gefängnisse, wo Verurteilte mit mehr als einjährigen Strafen eingesperrt werden) über dem der University of California. Der von Gouverneur Pete Wilson 1995 vorgestellte Haushaltsplan sah im übrigen vor, 1000 Stellen in der akademischen Lehre zu streichen, um dafür 3000 Stellen für Gefängniswärter zu schaffen. Damit handelt es sich um eine kostspielige Entscheidung für die Staatskasse, denn ein kalifornischer Schließer verdient etwa ein Drittel mehr als ein Hochschullehrer – eine Errungenschaft der einflußreichen Gewerkschaft der Gefängnisangestellten.

Während einerseits die Zahl der Gefängnisse enorm gestiegen ist, wurde andererseits das Strafjustizsystem ausgeweitet, so daß von einer Vervielfachung der Betreuungs- und Neutralisierungskapazitäten die Rede sein kann. Diese Kapazitäten werden allerdings zu allererst auf ärmere Familien und Wohnviertel angewandt, und zwar insbesondere auf die schwarzen Ghettos der Großstädte. Das ist die vierte große Tendenz in der Entwicklung rund um die amerikanischen Gefängnisse: Der schwarze Anteil der Insassen steigt kontinuierlich, denn seit 1989 bilden die Afroamerikaner (erstmals in der Geschichte des Landes) in den Haftanstalten die Mehrheit, obwohl sie nur 12 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Die 22 Millionen erwachsenen Schwarzen stellten 1995 ein Kontingent von 767000 Häftlingen sowie 999000 Menschen mit bedingter Strafaussetzung und 325000 weitere Verurteilte, die auf Bewährung in Freiheit lebten. Das entspricht einer Gesamtquote von 9,4 Prozent, die unter Justizaufsicht stehen. Für die Weißen (163 Millionen Erwachsene) ergibt eine großzügige Schätzung eine Quote von 1,9 Prozent.8 Was die reinen Haftstrafen angeht, so liegt die Kluft zwischen beiden Communities zwischen 1 und 7,5 Prozent. Sie ist in den letzten zehn Jahren noch tiefer geworden: Im Jahr 1985 kamen auf 100000 Erwachsene 528 Weiße und 3544 Schwarze, zehn Jahre später waren es 919 Weiße und 6926 Schwarze (siehe Tabelle 2). In Wahrscheinlichkeiten auf ein ganzes Leben hochgerechnet, liegen die Chancen für einen schwarzen Mann, mindestens ein Jahr in seinem Leben im Gefängnis zu verbringen, bei 1 zu 3, für einen Hispanic bei 1 zu 6, wohingegen ein Weißer eine Chance von 1 zu 23 hat.

Dieses „rassische Mißverhältnis“, wie die Kriminologen diese Tatsache verschämt nennen, ist bei jungen Leuten, die als erste ins Visier der staatlichen Politik zur Kriminalisierung der Armut geraten, noch viel deutlicher ausgeprägt. Denn über ein Drittel der Schwarzen zwischen 20 und 29 Jahren sind entweder hinter Gittern oder unterstehen der Aufsicht eines Strafvollzugsrichters, oder sie warten auf ihr Verfahren. In den Großstädten sind es sogar mehr als die Hälfte aller Schwarzen dieses Alters, mit Spitzenquoten von über 80 Prozent innerhalb der Ghettos selbst. So verwundert es nicht, daß ein amerikanischer Soziologe die Arbeitsweise des Justizsystems in Anlehnung an den Vietnamkrieg als „search and destroy mission“ bezeichnete.9

Tatsächlich resultiert die tiefe Kluft zwischen Weißen und Schwarzen nur teilweise aus deren jeweils unterschiedlich ausgeprägten Neigung, Straftaten zu begehen. Sie verrät vielmehr den durch und durch diskriminierenden Charakter der polizeilichen, juristischen und strafrechtlichen Praktiken. So machen die Schwarzen zwar 13 Prozent der Drogenkonsumenten aus (was in etwa ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht), aber sie stellen ein Drittel derjenigen, die wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verhaftet, und drei Viertel derjenigen, die dafür hinter Gitter gebracht werden. Die Politik des „Kriegs gegen die Drogen“ ist ohnehin als eine der Hauptursachen für die zunehmende Zahl inhaftierter Personen anzusehen, nachdem man das Ideal einer Rehabilitierung der Delinquenten aufgegeben und eine Menge repressiver Anordnungen eingeführt hat (dazu gehören zum Beispiel die generelle Einführung von Feststrafen ohne Haftminderung, ein automatisches „Lebenslänglich“ nach dem dritten Vergehen und verschärfte Sanktionen bei Ordnungswidrigkeiten).10

Im Jahr 1995 saßen sechs von zehn Verurteilten wegen Drogenbesitz oder -handel ein. In bezug auf Haftstrafen genießen die Schwarzen also faktisch eine Vorzugsbehandlung. Das entbehrt nicht der Ironie in einer Zeit, in der das Land gerade den gezielten Förderprogrammen der „affirmative action“ abschwört, die geschaffen worden waren, um die schlimmsten rassisch bedingten Ungleichheiten beim Zugang zu Bildung und Arbeit aufzufangen.

Doch mehr noch als die Details der Statistik gilt es, sich die innere Logik dieses Kurswechsels von einer Politik des Sozialen hin zu einer Politik der Strafverfolgung zu vergegenwärtigen: Die zunehmende Bedeutung der amerikanischen Strafjustiz widerspricht in keiner Weise dem von den Neoliberalen betriebenen Niedergang und Verschwinden des öffentlichen Sektors – er stellt vielmehr dessen Negativ dar, er enthüllt seine Kehrseite. Es handelt sich um eine Politik der Kriminalisierung des Elends, die begleitet ist von einer Erhöhung der Steuerabgaben für unsichere und schlechtbezahlte Arbeitsverhältnisse sowie von einer Umstrukturierung der Sozialprogramme, die zunehmend auf Restriktion und Strafe angelegt sind. Als Amerika Mitte des 19. Jahrhunderts die Gefängnisstrafe institutionalisierte, galt sie „zuallererst als ein Mittel zur Kontrolle der sozial abweichenden und abhängigen Bevölkerung“, und die Sträflinge waren hauptsächlich arme Leute und europäische Einwanderer, die kurz zuvor in die Neue Welt gekommen waren.11

Heutzutage erfüllt der amerikanische Gefängnisapparat eine ähnliche Aufgabe gegenüber den verelendenden Arbeitern und den Schwarzen. Dadurch kommt dem Strafvollzug innerhalb des staatlichen Instrumentariums zur Armutsverwaltung eine zentrale Stellung zu: am Schnittpunkt zwischen Billiglohn, städtischem Ghetto und umgebautem Sozialsektor, der in Zukunft die flexibilisierten Lohnarbeiter besser disziplinieren soll.

Verschleierte Arbeitslosigkeit

IN erster Linie trägt das Strafsystem unmittelbar dazu bei, die unteren Bereiche des Arbeitsmarktes zu regulieren – und zwar mit erheblich größerem Nachdruck als alle Sozialabzüge und Verwaltungsvorschriften. Es bewirkt eine künstliche Senkung der Arbeitslosenstatistik, indem es der arbeitsuchenden Bevölkerung gewaltsam Millionen Männer entzieht und nebenbei noch das Stellenangebot in der Gefängnisbranche und dem entsprechenden Dienstleistungssektor erhöht. Man geht davon aus, daß dank der Gefängnisse im Verlauf der neunziger Jahre die Arbeitslosenstatistik um zwei Prozentpunkte gesenkt wurde.

Anders als bislang angenommen, ergibt eine vergleichende Untersuchung von Bruce Western und Katherine Beckett, daß die Arbeitslosenquote der USA in achtzehn der vergangenen zwanzig Jahre höher lag als die der Europäischen Union – zumindest, wenn man die unterschiedliche Entwicklung der Inhaftierungsquote auf den beiden Kontinenten mitberücksichtigt.12 Die beiden Autoren zeigen auf, daß der Gefängnisboom eine zweischneidige Angelegenheit ist. Kurzfristig beschönigt er zwar die Arbeitsmarktlage, indem er das Angebot an Arbeitskräften beschneidet, doch längerfristig wird daraus folgen, daß einige Millionen Menschen praktisch nicht mehr arbeitsfähig sein werden: „Die Inhaftierung hat die amerikanische Arbeitslosenquote zwar gesenkt, aber diese Quote wird nur um den Preis eines steten Ausbaus des Strafrechtssystems auf einem niedrigen Stand zu halten sein.“

Daß die Schwarzen weiterhin massiv in allen Gefangenengruppen vertreten sind, wirft ein klares Licht auf die zweite Funktion des Strafsystems innerhalb der neuen Verwaltung des Elends: Das Gefängnis ersetzt das Ghetto für eine Bevölkerung, die als sozial abweichend, gefährdend und auch überflüssig gilt, sowohl auf wirtschaftlicher Ebene – die mexikanischen und asiatischen Einwanderer sind da wesentlich anpassungswilliger – als auch auf politischer: Die arme schwarze Bevölkerungsschicht beteiligt sich kaum an den Wahlen, so daß sich der Wählerschwerpunkt des Landes immer weiter in Richtung der weißen Vorstädte verschoben hat. Die Gefangenschaft ist in dieser Hinsicht lediglich die zugespitzte Erscheinungsform einer Ausgrenzungslogik, deren Stütze und Produkt von Anfang an das Ghetto war.

Zukünftig werden die Gefängnisinstitutionen eng verwoben sein mit jenen Stellen und Programmen, die die marginalisierte Bevölkerung „unterstützen“ sollen. Einerseits wirkt die dem Strafrecht inhärente Logik der Bestrafung tendenziell ansteckend und beeinflußt so die Ziele und Mechanismen der Sozialhilfe. Andererseits müssen die Gefängnisse, ob sie wollen oder nicht, die dringenden sozialen und medizinischen Probleme, die ihre „Klientel“ woanders nicht hat lösen können, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln bewältigen. Schließlich drängen die haushaltspolitischen Zwänge und der modische Ruf nach „weniger Staat“ dahin, sowohl die Sozialhilfe als auch den Gefängnisaufenthalt zu Waren umzudefinieren.

Zahlreiche Staaten, wie Texas oder Tennessee, sperren bereits jetzt einen Großteil ihrer Häftlinge in private Gefängnisse und nehmen für die Verwaltung künftiger Sozialhilfeempfänger Spezialfirmen unter Vertrag. Eine Methode, die Armen und Kriminellen sowohl in ideologischer als auch in ökonomischer Hinsicht rentabel zu machen. So erleben wir die Herausbildung eines neuen Wirtschaftszweigs, der von den Gefängnissen, ihren Insassen und der Sozialarbeit lebt.13 Er zielt darauf ab, die Bevölkerungsteile, die sich der neuen Wirtschaftsordnung zu entziehen versuchen, in einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu überwachen und zu strafen: Das Gefängnis kümmert sich vornehmlich um die Männer, während die Sozialarbeiter Frauen und Kinder bevormunden. Diese Bevölkerungsschicht zirkuliert in einem quasi geschlossenen Kreislauf von einem Pol dieses Netzwerks zum anderen.

Die US-amerikanische Erfahrung zeigt, daß man Sozialpolitik und Strafjustiz heute ebensowenig wie Ende des letzten Jahrhunderts voneinander trennen kann – und in einem nächsten Schritt gilt das auch für Arbeitsmarkt, Sozialarbeit (sofern davon überhaupt noch die Rede sein kann) und Gefängnis –, wenn man das eine wie das andere verstehen will.14

Denn überall, wo die neoliberale Politik Wirklichkeit wird, bringt sie in ihrem Fahrwasser für die Ärmsten und genauso für all diejenigen, die aus dem noch geschützten Arbeitnehmerstatus herausfallen sollten, nicht etwa ein Mehr an Freiheit mit sich, sondern weniger oder gar das Ende der Freiheit. Und das als Schlußpunkt einer Rückentwicklung hin zu einem repressiven Paternalismus aus jener vergangenen Zeit des wilden Kapitalismus, der diesmal allerdings um einen allwissenden und allmächtig strafenden Staat erweitert ist.

dt. Miriam Lang

* Professor an der University of California, Berkeley.

Fußnoten: 1 Siehe Serge Halimi, „Und ewig währt das amerikanische Wunder“, Le Monde diplomatique, Januar 1997, sowie Loic Wacquant, „La généralisation de l'insécurité salariale en Amérique“, Actes de la recherche en sciences sociales, Dezember 1996. 2 David Chalmers, „And the Crooked Places Made Straight: The Struggle for Social Change in the 1960s“, Philadelphia (Temple University Press) 1991, und James T. Patterson, „Grand Expectations: The United States, 1945-1974“, New York (Oxford University Press) 1996. 3 Zu diesen Auseinandersetzungen siehe Norval Morris, „The Future of Imprisonment“, University of Chicago Press 1974. 4 Sofern keine andere Quelle angegeben ist, stützen sich alle statistischen Angaben auf verschiedene Publikationen des Bureau of Justice Statistics des US- Justizministeriums (insbesondere seine regelmäßigen Berichte über „Correctional Populations in the United States“), Washington, Government Printing Office. 5 Diana Gordon beschreibt dieses Zusammenwirken sehr gut in „The Justice Juggernaut: Fighting Street Crime“, New Brunswick (Rutgers University Press) 1991. 6 Der Staat Illinois hat die Personenbeschreibungen und eine Kurzfassung des Strafregisters aller dort Inhaftierten ins World Wide Web gestellt, so daß jedermann mit ein paar Mausklicks alles über die strafbare Vergangenheit eines Gefangenen erfahren kann. 7 Siehe die von Steve Gold zusammengetragenen Angaben, „Trends in State Spending“, Center for the Study of the States, Rockefeller Institute of Government, Albany (New York) 1991. 8 Diese Schätzung vermischt weiße Angelsachsen mit Menschen hispanischer Herkunft und erhöht so automatisch den Anteil von Weißen europäischen Ursprungs. Dies fällt im Lauf der Jahre immer mehr ins Gewicht, da die Latinos die Bevölkerungsgruppe sind, deren Inhaftierungsquote in letzter Zeit am schnellsten angestiegen ist. 9 Das ist der Titel des Hauptwerks von Jerome Miller, „Search and Destroy: African-American Males in the Criminal Justice System“, Cambridge University Press 1997. 10 Für eine weitere Diskussion dieser Punkte siehe Loic Wacquant, „Crime et ChÛtiment en Amérique de Nixon à Clinton“, Archives de politique criminelle (Paris), Nr. 20, Frühjahr 1998. 11 David Rothman, „The Discovery of the Asylum: Social Order and Disorder in the New Republic“, Boston (Little, Brown) 1971, S. 239-240. 12 Bruce Western und Katherine Beckett: „How Unregulated is the U.S. Labor Market? The Penal System as a Labor Market Institution“, Vortrag auf dem Jahreskongreß der American Sociological Association, 1997, S. 31. 13 Loic Wacquant, „Les pauvres en pÛture: la nouvelle politique de la misère en Amérique“. Hérodote, Nr. 85, Paris, Frühjahr 1997. 14 Wie es David Garland in „Punishment and Welfare: A History of Penal Strategies“, Aldershot (Gower) 1985, für den paradigmatischen Fall des viktorianischen England zeigt. Siehe hierzu auch Ernst Köhler, „Arme und Irre“, Berlin 1981.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von LOÏC WACQUANT