10.07.1998

Süd-Korea auf IWF-Diät

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Süd-Korea auf IWF-Diät

BEI den Wahlen vom 4. Juni hat die Regierungskoalition der Liberaldemokratischen Union zehn von sechzehn Gouverneurs- und Bürgermeisterposten (insbesondere den von Seoul) erobert. So gestärkt, wird Präsident Kim Dae Jung, mit dem Druck der internationalen Finanzorganisationen und der ausländischen Investoren, die Industrie Süd-Koreas „säubern“ können. Zwar werden die fünf größten Konzerne Hyundai, Samsung, Daewoo, LG und SK im Augenblick noch verschont, aber fünfundfünfzig andere Unternehmen haben zwischen Umstrukturierung und Untergang zu wählen. Für die Arbeiter bedeutet das eine Katastrophe, denn sie zahlen den Preis für die wirtschaftspolitischen Irrtümer, die man seinerzeit als „asiatisches Wunder“ angepriesen hat.

Von unserer Korrespondentin ILARIA MARIA SALA *

Sechs Monate nach den Interventionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Süd-Korea tut sich das Land immer noch schwer mit der Vorstellung, daß es in den Augen des Auslands vom emerging country zum Bittsteller herabgesunken ist. Der IWF ist inzwischen zum Synonym für Preisnachlässe geworden, sei es aus Ironie oder aus Exorzismus: So werben Restaurants mit billigen Mahlzeiten, die sie als „IWF-Menu“ anbieten. Viele Güter und Dienstleistungen werden ähnlich beworben: Autos gibt es zum halben Preis, von Friseurlehrlingen kann man sich kostenlos die Haare schneiden lassen.

Das enorme Ausmaß der Krise im Industrie- und Finanzsektor zeichnet sich inzwischen deutlich ab. Oft sitzen in den U-Bahnschächten Seouls Leute um einen Tisch herum und klingeln mit einer kleinen Glocke, um die Vorübergehenden auf sich aufmerksam zu machen und um eine Spende für die „neuen Armen“ zu bitten, das heißt für die Opfer der Umstrukturierungen. Immer mehr dieser neuen Armen bevölkern das Straßenbild, sie gesellen sich zu den Obdachlosen im Bahnhof von Seoul. „Man zählt sie aber nicht zu den Obdachlosen, weil sie eigentlich noch ein Zuhause haben“, sagt Maria Rhee vom Dachverband der südkoreanischen Arbeiterinnen. „Es ist nur so, daß sie ihre Arbeit verloren haben und sich schämen, nach Hause zu gehen.“

Der sprunghafte Anstieg der Entlassungen in den chaebols – den riesigen Industriekonglomeraten – wird zwar erst im Herbst erwartet, doch die sozialen Folgen der Krise sind heute schon zu sehen. Zuerst hat sie jene Bevölkerungsgruppen erfaßt, deren Existenz am wenigsten gesichert war: Frauen, ausländische Arbeitnehmer (vor allem aus China, Pakistan und Bangladesch) und Beschäftigte in kleinen und mittleren Unternehmen, die keine großen Namen haben und so gut wie keine soziale Absicherung oder Arbeitsplatzgarantien gewähren.

Die Krise hat einen Teil der Bevölkerung erfaßt, der zwar nicht wirklich privilegiert war, aber doch eine gewisse Stabilität kannte. Die ersten Auswirkungen lassen einen schaudern: In den letzten Monaten ist die Selbstmordrate um 200 Prozent gestiegen und beläuft sich auf dreißig Suizide pro Tag. Einer kürzlich erhobenen Umfrage zufolge1 „denken 30 Prozent der Erwachsenen manchmal an den Tod oder verspüren das Verlangen, sich umzubringen“. Im letzten Jahr haben sich durchschnittlich zehn Menschen pro Tag für den Suizid entschieden, vor allem Jugendliche, die die Abschlußprüfungen in der Schule oder die Aufnahmeprüfungen an der Universität nicht bestanden hatten. Heute sind es dagegen die Mütter, die das Studium ihrer Kinder nicht mehr bezahlen können, oder Väter, die nicht mehr für ihre Schulden aufkommen können und dieser Demütigung den Tod vorziehen.

Die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen nimmt zu, es gibt immer mehr Kinder, die von ihren arbeitslos gewordenen Müttern in Kinderkrippen zurückgelassen oder zur Adoption freigegeben werden. Die Zahl der Ehescheidungen steigt2 ebenso wie die der unfreiwilligen Studienabbrecher und die Kriminalitätsrate, die, neben der Japans, eine der niedrigsten auf der Welt war.

Vier Millionen Arbeitslose ...

ES herrscht Einigkeit darüber, daß Reformen notwendig sind. Einem neuen Gesetz zufolge dürfen ausländische Investoren bis zu 55 Prozent vom Kapital südkoreanischer Unternehmen besitzen. Dieses Gesetz soll angeblich die beste Möglichkeit sein, das Land aus Isolation und Protektionismus zu befreien. In Wahrheit schwächt es jedoch die Gewerkschaften und mindert ihr Gewicht bei den Verhandlungen über die Arbeitsbedingungen.

Diese Wendung der Ereignisse ist für die Gewerkschaften besonders bitter, haben sie doch an der Spitze der jüngsten Demokratiebewegung gestanden.3 Jahrzehntelang waren die Arbeiter fast wie Sklaven gehalten und ausgebeutet worden – unter dem Vorwand, das Land aus der Armut befreien zu wollen. Inzwischen sind die Gewerkschaften zwar stärker geworden, aber zugleich ist ihr Einfluß eingeschränkt und könnte weiter abnehmen, wenn sich die Unternehmen weiter internationalisieren. Viele Arbeiter werden auf eine sehr begrenzte Zeit zurückblicken können, in der sie von ihren Rechten haben Gebrauch machen können. Andererseits ist es aberwitzig, wie die rechte Presse den Gewerkschaften die Hauptschuld an der wirtschaftlichen Schwäche des Landes in die Schuhe schieben will, und überraschend ist auch die Gleichgültigkeit der ausländischen Investoren gegenüber der neuen Situation.

Die Wahl des früheren Dissidenten Kim Dae Jung zum Präsidenten Süd-Koreas im Dezember letzten Jahres wurde mit dem Wahlerfolg Nelson Mandelas in Südafrika verglichen. Sein Sieg schien zu beweisen, daß die Wähler keine Angst vor Veränderungen haben. Den Großteil der südkoreanischen Probleme führte Kim Dae Jung zurück auf die unzureichende Demokratisierung, die mangelnde politische Transparenz, die Korruption und die zu engen, wenn auch zuweilen gespannten Beziehungen zwischen der Regierung und den chaebols.

Die Popularität von „D. J.“, wie ihn die Koreaner nennen, ist ungebrochen und wurde am 4 . Juni 1998 bei der Neuwahl des Bürgermeisters von Seoul und der Provinzregierungen voll und ganz bestätigt. Von den sechzehn zur Wahl stehenden Exekutivämtern hat die Koalition des Präsidenten zehn erobern können. Obwohl die gegenwärtige Regierung den Gewerkschaften viel aufgeschlossener gegenübertritt als ihre Vorgängerinnen, gibt es weiterhin Schwierigkeiten: „Der Regierung steht ihre eigene Schwäche im Wege, das notwendige Bemühen um ausländische Investitionen, ihre Beziehungen zu den Arbeitgebern und die Forderungen des IWF“, erklärt Yoon Young Mo, der Sprecher für internationale Fragen des Koreanischen Gewerkschaftsbundes KCTU. „Darüber hinaus handelt es sich um eine Koalition von früheren Opponenten (Kim Dae Jung vom nationalen Kongreß für eine neue Politik mußte eine Koalition eingehen mit Kim Jong Pil, dem ehemaligen Leiter der südkoreanischen CIA und Premierminister unter dem Diktator General Park Chung Hee). Es werden keine starken Institutionen geschaffen, was die einzige Garantie für Demokratie wäre. Hier geschieht nichts, bevor der Präsident das Machtwort spricht.“

Die Beziehungen zwischen Präsident Kim Dae Jung und den Gewerkschaften sind kompliziert. Die Regierung steht unter Druck, aus verschiedenen, teilweise entgegengesetzten Richtungen. Und die autoritären Neigungen Kims sind nicht dazu angetan, die Probleme zu entschärfen. Seine Leiden in der Vergangenheit – in seiner Oppositionszeit war er entführt, gefoltert, des Landes verwiesen und wiederholt mit dem Tode bedroht worden – scheinen in ihm einen Hang zu einsamen Entscheidungen erzeugt zu haben. Der KCTU hatte das erste Treffen des trilateralen Rates, bestehend aus Vertretern der Regierung, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften im vergangenen Februar als Beginn einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen den sozialen Kräften begrüßt. Aber nur die Gewerkschaften haben sich bisher an die dort gefaßten Beschlüsse gehalten, und die Arbeiter haben wiederholt gestreikt, um ihre Rechte einzufordern.

„Wir haben erkannt, daß Entlassungen unumgänglich sind. Die Arbeitgeber hatten sich darauf eingelassen, einem Beschäftigten, der entlassen werden soll, eine Kündigungsfrist von sechzig Tagen oder eine ebenso lange Lohnfortzahlung einzuräumen. Sie wollten auch prüfen, ob sich Entlassungen durch eine Reduzierung der Arbeitszeit verhindern ließen. Dann aber wurden viele Beschäftigte entlassen, ohne daß die Vereinbarungen eingehalten worden wären. Und die Regierung hat nichts getan, um die Verantwortlichen für diese illegalen Entlassungen vor Gericht zu bringen“, empört sich Yoon Young Mo. Unter diesen Umständen fürchtet der KCTU, daß der trilaterale Rat zu einem Instrument wird, mit dem man die Gewerkschaften ruhigstellen will: „Man hat dort das Recht zu reden, aber es hört einem niemand zu.“

Das oft geäußerte Argument, das größte Problem der Wirtschaft sei die mangelnde Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt, ist nicht stichhaltig. Wenn es diese „Unflexibilität“ gibt, dann nur in Betrieben mit mehr als fünfhundert Beschäftigten.4 Verantwortlich für die hohen Produktionskosten sind meist die überhöhten Immobilienpreise und sicher nicht die Privilegien der einfachen Beschäftigten. Von den Gewinnen im Immobiliensektor profitiert nur eine kleine Elite, aber sie schlagen sich nieder auf die Preise für Konsumgüter und Dienstleistungen, die auf hohem Niveau staatlich geschützt sind.

„Es gibt enorm viele Halbtagsstellen und befristete Verträge: Sie machen 45 Prozent, also fast die Hälfte aller Arbeitsverhältnisse aus. Kann man noch flexibler sein?“ fragt sich Maria Rhee und betont, daß 78 Prozent dieser Stellen von Frauen besetzt sind. „62 Prozent aller berufstätigen Frauen arbeiten in Betrieben mit weniger als fünf Beschäftigten. Die gewerkschaftlichen Schutzbestimmungen gelten aber erst in Betrieben mit mehr als dreißig Beschäftigten! Das heißt, die Frauen kennen weder Mindestlohn noch Höchststundenzahl oder Krankenversicherung. Es hat immer eine Diskriminierung von verheirateten Frauen gegeben, aber mit dem Anstieg der Arbeitslosenzahlen nimmt sie weiter zu. Es herrscht die überkommene Einstellung, daß die Frauen sich um den Haushalt kümmern und nicht den Männern die Arbeit ,stehlen‘ sollen.“ Der Verband der berufstätigen Frauen hat eine Demonstration vor dem Bahnhof in Seoul veranstaltet, bei der obdachlose – und das heißt arbeitslose – Männer die Frauen angegriffen und sie beschuldigt haben, den Mangel an Arbeitsplätzen mit ihren Forderungen noch zu vergrößern.

Offiziell hat die Arbeitslosigkeit eine Rate von 7 Prozent (das sind 1,49 Millionen Menschen) erreicht. Bis zum Ende des Sommers könnte sie 10 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung erfassen, was zwei Millionen Menschen entspräche.5 Diese Zahlen werden jedoch von den Gewerkschaften und verschiedenen Beobachtern angezweifelt. Die vom Arbeitsministerium durchgeführten Umfragen haben nur 30000 Haushalte erfaßt. Und wer in der Woche vor der statistischen Erhebung auch nur eine Stunde gearbeitet hat, bzw. wer nicht nachweisen kann, daß er sich aktiv um einen Arbeitsplatz bemüht hat, zählt nicht als „arbeitslos“. Die Gewerkschaften sprechen von 4 Millionen Arbeitslosen und betonen, daß die Mitarbeiter der Arbeitsämter alles tun, um Frauen zu entmutigen, die sich arbeitslos melden wollen.

... und schwindende soziale Räume

NACH den sozialen Folgen der sich verschärfenden Spannungen befragt, hält der Wirtschaftsattaché einer europäischen Botschaft die Möglichkeit „indonesischer Verhältnisse“ zur Zeit für ausgeschlossen. In einer Gesellschaft, in der die Familie nach wie vor eine der solidesten Stützen der Gesellschaft sei, würden Arbeitslose traditionell von ihren Familien mitunterhalten, meint er. „Aber die Haltung der Menschen wird sich ändern, wenn es erst einmal mehr als zwei Millionen Arbeitslose gibt. Dann wird man erleben, wie es um den sozialen Zusammenhalt steht.“

Äußerst heikel ist die Frage der Auslandsbeziehungen: In Süd-Korea hat es schon sehr oft Ausbrüche fremdenfeindlicher Gefühle gegeben, die sich teilweise aus der exponierten Lage des Landes zwischen großen, expansionsorientierten Nachbarländern erklären lassen und die von den Militärs, die bis Ende der achtziger Jahre ununterbrochen regiert haben, instrumentalisiert wurden. Es gibt auch Kampagnen gegen Importprodukte wie Zigaretten oder gegen amerikanische Fast-food-Ketten6 . Andererseits reisen die Süd-Koreaner schon seit fünfzehn Jahren voller Enthusiasmus ins Ausland, und einige absolvieren dort sogar ein Studium. Bereitwillig nahmen sie eine Vielzahl internationaler kultureller Einflüsse auf. Von entscheidender Bedeutung wird sein, wie die Regierung die „Notwendigkeit“ von „feindlichen ausländischen Übernahmen“ darstellen wird, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, daß sie die Interessen der Beschäftigten opfern will. Dies ist eine der zentralen Herausforderungen für die Regierung von Kim Dae Jung.

Nach Ansicht von Chu Jae Woo, einem Forscher an der Universität von Yonsei, wird man ihn an seiner Fähigkeit messen, politische Traditionen des Landes zu verändern, indem er die Debatten demokratischer gestaltet: „Eine zu rigide politische Umsetzung von Reformen könnte die Spannungen innerhalb einer Gesellschaft verschärfen, in der es bereits nationalistische Ausbrüche und gewalttätige Aktionen gegeben hat. Die Menschen haben ihren Mut schon unter Beweis gestellt. Jetzt muß die Regierung zeigen, daß sie ihnen ebenbürtig ist.“

dt. Christian Voigt

* Journalistin, Hongkong.

Fußnoten: 1 The Korea Times, Seoul, 12. Juni 1998. 2 The Asian Wall Street Journal, Hongkong, 8. Juni 1998. 3 Siehe Laurent Carroué, „Süd-Korea: Arbeiter und Studenten bändigen den Tiger“, und Bertrand Chung, „Liberal, aber das mit eiserner Faust“, Le Monde diplomatique, Februar 1997. 4 Siehe hierzu Bruno Jetin, „Flexibilité du travail: une adaptation necessaire à la mondialisation?“, Mutations asiatiques, Paris, Februar 1998. Der Autor betont hier, „welch ein doppeldeutiges und vielgestaltiges Konzept die Flexibilität der Arbeit ist“. 5 International Herald Tribune, Paris, 24. Juni 1998. 6 Far Eastern Economic Review, Hongkong, 26. März 1998.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von ILARIA MARIA SALA