10.07.1998

Ein Territorium wird unabhängig, demnächst, im dritten Jahrtausend

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Ein Territorium wird unabhängig, demnächst, im dritten Jahrtausend

AM 5. Mai 1998 haben in Nouméa, der Hauptstadt Neukaledoniens, die politischen Vertreter der Unabhängigkeitsbestrebungen (der „Front de libération nationale kanak socialiste“, FLNKS) und der Befürworter eines Verbleibens bei Frankreich (der neogaullistische „Rassemblement pour la Calédonie dans la République“, RPCR) ein Abkommen mit der französischen Regierung unterzeichnet, das dem Land den Weg aus dem Status als französisches Überseeterritorium (TOM) in die Selbständigkeit ebnen soll. Als erste entscheidende Schritte sind die Übertragung staatlicher Befugnisse auf eine neue Exekutive und die Schaffung einer neukaledonischen Staatsbürgerschaft geplant, nach fünfzehn bis zwanzig Jahren soll dann in einem Referendum über die volle Souveränität abgestimmt werden. Nach jahrelangen blutigen Auseinandersetzungen zwischen den kanakischen Einwohnern und der Kolonialmacht und nachdem auch der 1988 in den Verträgen von Matignon festgelegte Entwicklungsplan dem Territorium nicht die erhoffte Stabilität brachte, sind die verschiedenen ethnischen Gemeinschaften Neukaledoniens nun aufgerufen, an der Errichtung einer gemeinsamen Nation mitzuwirken.

Von ALBAN BENSA und ERIC WITTERSHEIM *

Nach Unterzeichnung des Abkommens vom 5. Mai 1998 durch die französische Regierung, den „Rassemblement pour la Calédonie dans la République“ (RPCR) und den „Front de libération nationale kanak socialiste“ (FLNKS) machte sich in Nouméa Erleichterung breit. Befürworter wie Gegner der Unabhängigkeit hatten eine Wiederholung der alptraumartigen Ereignisse von 1984-1988 befürchtet.1

Und doch weicht die erste Freude schnell der Ratlosigkeit. Jeder weiß, daß die Motive der Parteien, die diese Übereinkunft geschlossen haben, zum Teil völlig gegensätzlich sind. Einige glauben, nun sei endlich der Weg zur Unabhängigkeit frei, andere hoffen auf „zwanzig Jahre der Stabilität“. Man ergeht sich in Spekulationen, oft ohne genauere Kenntnis des Vertragstextes. Trotz ihrer von vornherein antagonistischen Interessen zeigen sich alle Verhandlungspartner zufrieden. Was aber wird in den kommenden fünfzehn bis zwanzig Jahren geschehen?2

Denen, die auf die Unabhängigkeit drängen, erscheint die Frist sehr lang. Angesichts der Entwicklung im vergangenen Jahrzehnt relativieren sich jedoch die Zeitspannen. Die am 26. Juni 1988 geschlossenen „Matignon-Verträge“, die den Kanaken mehr Autonomie und dem Land höhere Subventionen aus Frankreich bescherten, waren auf zehn Jahre terminiert – ihr erklärtes Ziel, nämlich das große Gefälle zwischen Nord und Süd, Arm und Reich abzubauen, haben sie bis 1998 nicht erreicht.

Bei den Jugendlichen aller Ethnien in den ärmeren Vierteln Nouméas rufen solche Fragen und Perspektiven kaum mehr als Langeweile hervor. „Die Matignon- Verträge haben uns keine Jobs gebracht. Wir sehen nicht, was die Verträge von Nouméa daran groß ändern könnten.“ Sie brauchen Arbeit und unmittelbare Unterstützung, und sie glauben nicht, daß ihre Probleme durch Entscheidungen auf höchster Ebene gelöst werden können. Die Diskussionen über institutionelle Veränderungen erscheinen ihnen oft abstrakt, was manchmal zu undifferenzierten politischen Reaktionen führt.

Welche Wirkungen die Verträge von Nouméa tatsächlich haben werden, läßt sich noch kaum abschätzen. Nur die politischen Parteien und ihre Führer beginnen bereits, sich auf die neuen Rahmenbedingungen einzustellen und ihre Chancen bei den Provinz- und Territorialwahlen abzuwägen, die für das kommende Jahr geplant sind. So kommt es zu raschen und undurchsichtigen Bündnissen und Zusammenschlüssen. Zum Beispiel haben sich in der „Fédération des comités de coordination des indépendantistes“ (FCCI) diejenigen zusammengeschlossen, die es für richtig hielten, sich im Alleingang auf Gespräche mit dem RPCR einzulassen. Weil sie sich damit über die letztlich siegreiche Strategie des FLNKS hinweggesetzt hatten, eine Klärung im Streit um den Nickelabbau zur Vorbedingung einer Wiederaufnahme von Verhandlungen zu machen3 , waren sie aus der „Union calédonienne“ (der wichtigsten Fraktion im FLNKS) ausgeschlossen worden. Léopold Jorédié und François Burck gründeten daraufhin mit Raphaäl Mapou, einem Überläufer aus dem „Parti de libération kanak“ (Palika), die neue Bewegung, die sich die „Freiheit des Wortes“ auf die Fahne geschrieben hat. Allerdings sind diese Aktionen unschwer als wahltaktische Manöver zu durchschauen. Die Führer des FCCI lassen ihre Beziehungen spielen und versuchen, in die traditionellen Hochburgen des FLNKS einzudringen.

Jacques Lafleur, Galionsfigur des RPCR, der diese Spaltung offen unterstützt hat, duldet im eigenen Lager auch keine abweichenden Haltungen. „Une Nouvelle-Calédonie pour tous“ (UNCT), eine Partei, die von dem Geschäftsmann Didier Leroux 1995 gegründet worden war, um den Unabhängigkeitsgegnern „eine Alternative zur Allmacht“ des RPCR zu bieten, hat kürzlich ihr politisches Ende gefunden.4 In der Nordprovinz wiederum bemühen sich Europäer, die gegen die Unabhängigkeit eingestellt sind, sich aber vom RPCR im Stich gelassen fühlen, gemeinsam mit dem FLNKS um eine wirtschaftliche Konsolidierung.

Solche Zersplitterung ist nicht ungefährlich, denn die neuen Verträge sehen vor, daß die Fünfprozentklausel sich künftig auf die Zahl der Wahlberechtigten und nicht auf die abgegebenen Stimmen beziehen soll – die Hegemonie des RPCR könnte sich somit verstärken, es sei denn, die kleinen Gruppierungen beider Lager verbünden sich. Daß auf einer öffentlichen Versammlung des FLNKS in Poindimié am 2. Mai letzten Jahres erstmals Europäer auftraten – die den RPCR verlassen hatten – läßt immerhin vermuten, daß Jacques Lafleurs Festung durch die Verträge von Nouméa, die alle Kaledonier in den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft einbeziehen, schon ein paar Risse bekommen hat.

Die wichtigste Gewerkschaft Neukaledoniens, die „Union syndicale des travailleurs kanak et exploités“ (USTKE), steht den Verträgen kritisch gegenüber. Als glühende Verfechterin eines „automatischen“ Übergangs zur Unabhängigkeit (das heißt ohne Referendum) ist sie der Ansicht, daß die künftige Exekutive in Neukaledonien angesichts der Kräfteverhältnisse bei den Wahlen unweigerlich vom RPCR dominiert sein wird. Tatsächlich ist zu befürchten, daß diese unabhängigkeitsfeindliche Partei die Bestimmungen des Vertragstextes, die den allmählichen Übergang zur Souveränität regeln, nicht umsetzen würde. Doch das am 16. Juni 1998 in der französischen Nationalversammlung verabschiedete „Verfassungsgesetz“ beugt dieser Gefahr vor: Die Hauptentscheidungen, die die Zukunft des Territoriums betreffen, werden nicht im Kongreß von Neukaledonien zur Debatte gestellt, sondern sind in einem Grundgesetz festgelegt, dem Verfassungscharakter zukommt.

Die USTKE läßt verlauten, daß sie eventuell bei den nächsten Wahlen eigene Kandidaten aufstellen wird. Daß sich die Gewerkschaft im Laufe der letzten zehn Jahre erfolgreich verankern konnte, steht in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung des Marktes und der Arbeitsformen. Die Gesetzgebung wie auch die autoritären Gewohnheiten und der Klientelismus der örtlichen Arbeitgeber sind mit der Modernisierung der Wirtschaft und den neuen Forderungen der Lohnempfänger (Beschäftigungsgarantie, soziale Sicherheit, Vertretung etc.) nicht mehr zu vereinbaren. Daß sie diese Probleme aufgreift, hat der USTKE Mitglieder unter den Lohnempfängern aus allen Bevölkerungsgruppen gebracht. Für Unruhe sorgt auch die Tatsache, daß viele Arbeitsplätze von Neuzuwanderern aus der französischen Metropole besetzt werden.

Obwohl die Matignon-Verträge in Nouméa wie im Landesinnern für einen wirtschaftlichen Aufschwung gesorgt haben, ist es nicht gelungen, das strukturelle Ungleichgewicht abzubauen, das eine Entwicklung des Archipels zum Nutzen aller behindert. Auch in den vergangenen zehn Jahren wurde das Wirtschaftsleben Neukaledoniens von der Südprovinz um Nouméa und ihrer Finanzkraft beherrscht, und alles deutet darauf hin, daß die Aktivitäten und Infrastrukturen im Großraum Nouméa weiter verstärkt werden, um die Anstrengungen der beiden nach Unabhängigkeit strebenden Nordprovinzen zu konterkarieren. Zum Beispiel sollte die Schaffung eines „Grüngürtels“ rund um Nouméa die Versorgung der Hauptstadt mit Gemüse sicherstellen. Die Auswirkungen dieser Selbstversorgungspolitik zeigten sich bald: In weniger als zehn Jahren ist der Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus der Nordprovinz um fast ein Drittel gesunken.

Auch mit ihren Investitionen im Tourismus-Bereich macht die Südprovinz dem Norden und den Iles Loyauté (der dritten Provinz) Konkurrenz. Nouméa bemüht sich, einen Bestand an Hotels zu schaffen, die ihren Gästen alle Reize des Pazifiks bieten, ohne daß diese sich auf die Welt Melanesiens einlassen müssen, indem sie in die beiden anderen Provinzen reisen. Innerhalb der Stadt selbst findet die Kluft zwischen dem Süden und dem Norden des Archipels, zwischen Europäern und Kanaken, ihren Ausdruck im Gegensatz zwischen den reichen Vierteln und den Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus. Während im Zentrum und im Süden der Hauptstadt (wo die Viertel der Weißen liegen) die Bodenpreise unaufhörlich steigen, wird der soziale Wohnungsbau an die überwiegend von Kanaken und Polynesiern bewohnte Peripherie verdrängt.

Chaotische Entwicklung

DER durch die Matignon-Verträge ausgelöste Wirtschaftsboom und das Pons-Gesetz zur Steuerentlastung haben zu phantastischen und manchmal überstürzten Immobiliengeschäften verleitet. Von der Nachfrage profitierend, haben Baufirmen in einem feinen Viertel ohne Bedenken Komfortwohnungen auf „beschränkt bebaubaren“ Grundstücken errichtet. Mit der gleichen Bedenkenlosigkeit plant man eine Schnellstraße, um zwei Wohnviertel miteinander zu verbinden. Das Projekt sollte ursprünglich eine Siedlung, einen Wald und die Umgebung eines kanakischen Dorfes durchqueren. Die heftigen Proteste der Anrainer werden die Behörden nicht davon abbringen. Als technisches Meisterwerk von erheblichen Kosten soll die Straße nun angeblich auf dem Korallenriff längs der Küste gebaut werden! Öffentliche Verkehrsmittel und sozialer Wohnungsbau dagegen sind hoffnungslos veraltet.

Zu dieser chaotischen Stadtentwicklung gehört seit einigen Jahren auch die Entstehung von Elendsvierteln. Die berüchtigten „squats“, oft von Feldern umgeben, bieten rund 8000 Menschen Unterkunft, hauptsächlich Kanaken und Wallisiens.5 Auch die Vorstädte sind fast ausschließlich von Ozeaniern bewohnt. Wer umziehen will, stößt auf ökonomische und soziale Barrieren, wie die kanakischen Angestellten, die von Immobilienmaklern aus Wohnvierteln abgewiesen wurden mit der Begründung, ihre Lebensweise könnte die Nachbarn belästigen.

Das beschleunigte Wachstum Nouméas mobilisiert gewaltige Kapitalmengen, mit den dringendsten Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung haben die Investitionen in der Regel jedoch nichts zu tun. In den Nordprovinzen und auf den Inseln dagegen geht es immer noch darum, das Landesinnere mit einem Minimum an Infrastruktur auszustatten (Straßen, Elektrizität, Telefon, Wasserversorgung). Zwar hat sich hier die Situation in den letzten zehn Jahren spürbar verbessert, doch der Lebensstandard ist immer noch relativ niedrig6 , während die Südprovinz (deren Unternehmen von den Baumaßnahmen im Norden kräftig profitiert haben) in dieser Zeit einen besonders deutlichen Aufschwung erlebt hat. Für das Entwicklungsland Neukaledonien bedeutet dieses Wuchern eines urbanen Zentrums, in dem sich der Reichtum konzentriert, eine schwere Belastung – die Armut der ländlichen Gebiete tritt dabei um so deutlicher hervor.

Daß in den Verträgen von Nouméa eine institutionelle Aufteilung des Territoriums entschieden abgelehnt wird, kann die faktische Teilung nur schlecht kaschieren. Vor diesem Hintergrund muß die Absicht der Unabhängigkeitsbefürworter gesehen werden, im Norden der Insel eine Recyclingfabrik für Nickel zu bauen. Mit diesem Industriekomplex, der in acht bis zehn Jahren 750 direkte und – in Abhängigkeit davon – 2000 weitere Arbeitsplätze schaffen soll, könnte vor allem die Diversifizierung der Investitionen fortgesetzt werden, die die Sofinor7 , der finanzielle Arm der Nordprovinz, bereits eingeleitet hat. Ziel ist es, den mehrheitlich kanakischen Gebieten Ressourcen zu sichern und ein ökonomisches und demographisches Gleichgewicht auf dem Archipel herzustellen. „Man darf nicht mehr in Kleinprojekten denken, sondern muß echte Entwicklungsprojekte ins Auge fassen“, erklärt Raphaäl Pidjot, Direktor der Sofinor, und bestätigt damit die Entscheidung der Unabhängigkeitsbefürworter für die Industrie. Andererseits ist die Agrarpolitik der Provinz im höchsten Grade problematisch und fragwürdig. Paradoxerweise setzen die Entwicklungsexperten inzwischen auf Formen der Selbstversorgung in der Lebensmittelproduktion. Wäre es nicht besser, den Familien eine sichere Versorgung zu gewährleisten, als zu neuen Produktionsformen ohne Absatzgarantien anzuregen?

Die Trennung zwischen Norden und Süden erschwert jede Möglichkeit einer homogenen, konzertierten Entwicklung. Zwischen Nord- und Inselprovinz einerseits mit ihrem großen landwirtschaftlichen, touristischen und industriellen Potential und der Südprovinz andererseits, wo sich die wirtschaftliche Aktivität und die Mehrheit der Bevölkerung konzentrieren, müßte ein Pakt geschlossen, ein Ausgleichsfonds geschaffen werden, der die Fehlentwicklung des Wirtschaftsplans der Matignon-Verträge bremsen würde. Wird die Exekutive, die 1999 die Zügel in die Hand nehmen soll, bereit sein, endlich eine Wirtschafts- und Sozialpolitik für das ganze Land zu entwickeln? Das ist die Frage, die sich den Handelnden in Politik und Wirtschaft stellt, den Kanaken wie den Europäern, den Befürwortern wie den Gegnern der Unabhängigkeit.

Einstweilen nutzen die Kanaken die Erwerbsmöglichkeiten, die sich aus der Entsendung europäischer Techniker und Lehrer in den Norden und auf die Inseln ergeben. Man stellt Matten her, man verkauft Strohbündel für die Hotelbungalows im traditionellen Stil. Ein kanakischer Familienvater, der in der Nähe des Verwaltungszentrums Koné-Pouembout lebt, ist froh über die neuen Verträge. „Sie werden noch mehr Europäer herbringen“, sagt er, „und das bedeutet neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Putzfrauen oder Gärtner.“ Wie die einzige Tageszeitung nicht müde wird zu berichten, finden immer mehr junge Kanaken ihr Auskommen vor allem im Anbau von Cannabis, für den es unter den Wehrpflichtigen oder den Einwanderern aus dem französischen Mutterland, die auf der Suche nach ihrem Traum, nach Arbeit und Sonne hier gestrandet sind, viele Abnehmer gibt. Die sichersten und auch begehrtesten Arbeitsplätze sind in der Provinzverwaltung und bei den Kommunen zu finden. Man zieht sie den „kleinen Jobs“ im Privatsektor oder in krisenanfälligen landwirtschaftlichen Kleinprojekten vor.

Subventionsdenken herrscht allüberall in Neukaledonien. Rund sechs Milliarden Franc werden jährlich aus Frankreich transferiert (Provinzbudgets, dem Lebenshaltungsindex angepaßte Gehälter der staatlichen Angestellten und so weiter). Diese Abhängigkeit von Paris behindert das Entstehen eines Wirtschaftsgeflechts, das die lokale Produktion gegenüber dem systematischen Import bevorzugen würde. Letztes Jahr hat Neukaledonien über sechs Millionen Tonnen Geflügel importiert. Seit 1988 profitiert nicht mehr nur der RPCR von dieser Situation. Auch der FLNKS findet in dieser Finanzhilfe die Mittel für eine ambitionierte Wirtschaftspolitik und hofft, daß auf diese Weise rechtzeitig die Voraussetzungen für die Unabhängigkeit geschaffen werden. Muß man zur Überwindung dieser „Subventionsökonomie“8 eine vorübergehende Zunahme der Finanztransfers und Subventionen in Kauf nehmen? Die Verträge von Nouméa berücksichtigen dieses Paradox und schlagen eine stufenweise Emanzipation vor.

Mit dem Abkommen ist auch ein wichtiger Schritt in Richtung auf die Einführung einer kaledonischen Staatsbürgerschaft getan worden. Der am 5. Mai vom französischen Premierminister in Nouméa ratifizierte Vertragstext berücksichtigt den Wunsch des FLNKS, endlich die Grundlagen für ein von Frankreich unabhängiges Neukaledonien zu schaffen. Diese Forderung schließt eine Neubestimmung des „Staatsvolkes“ ein. Neben der autochthonen Bevölkerung haben sich in den verschiedenen Epochen der Kolonialzeit Angehörige mehrerer ethnischer Gruppen auf dem Archipel niedergelassen. Kanaken, Europäer, Wallisiens und Tahiter, Indonesier und Vietnamesen müssen nun gemeinsam Wege zu einer Souveränität finden. Die Asiaten und die Polynesier, die sehr darunter gelitten haben, vom RPCR zu Wahlzwecken abgewiesen oder benutzt worden zu sein, sind den kanakischen Unabhängigkeitsbefürwortern dankbar, daß sie Wort gehalten und sie zu vollwertigen Staatsbürgern gemacht haben. „Wir sind froh, daß wir in das Haus aufgenommen wurden, dessen Hauptstütze in Zukunft das kanakische Volk sein wird“, hat Aloisio Sako erklärt, der Führer des „Rassemblement démocratique océanien“ (RDO), der Partei der Wallisiens, die seit kurzem im FLNKS aufgegangen ist.

Nur wer erst kürzlich (nach 1988) nach Neukaledonien gekommen ist, bleibt – wie bereits in den Matignon-Verträgen festgelegt – von der Wahl ausgeschlossen. Zwischen den Volkszählungen von 1989 und 1996 haben sich über 16000 Menschen in Neukaledonien niedergelassen, drei Viertel dieser Zuwanderer sind in Frankreich geboren.9 Auch wenn nicht alle bleiben – man schätzt den Wanderungssaldo auf 10000 – bedeutet dieser Zustrom Nachteile für alle Kaledonier. Denn diese größtenteils jungen Neuzuwanderer gesellen sich zu den 3000 Kaledoniern, die jedes Jahr neu auf dem Arbeitsmarkt erscheinen. Deshalb wird – wie in jedem souveränen Staat – ein Gesetz zwischen den Staatsbürgern und den übrigen Bewohnern (einschließlich der Franzosen) unterscheiden, die dann tatsächlich Ausländer sein werden. Eine lebenswichtige Maßnahme für ein Land, das kaum 200000 Einwohner hat. Die Betonung des Ausländerstatus in den Verträgen von Nouméa hat ihren Grund in der Beschäftigungskrise. Die steigende Arbeitslosigkeit (rund 20 Prozent der aktiven Bevölkerung) erklärt auch zum Teil die abweisende Reaktion auf die Ankunft von etwa hundert chinesischen Boat people vor einigen Monaten. Die Weigerung der kaledonischen Politiker, sich mit diesem Problem ernsthaft auseinanderzusetzen, hat fremdenfeindlichen Reaktionen den Weg gebahnt. Angesichts der bevorstehenden Erweiterung der Befugnisse der lokalen Exekutive sind diese Vorkommnisse beunruhigend. Um Neukaledonien an die Ausübung seiner vollen Souveränität heranzuführen, sehen die Verträge eine fortschreitende Übertragung von Zuständigkeiten vor. Der französische Staat wird sich vom nächsten Jahr an aus vielen Bereichen zurückziehen.

Mit dieser Stärkung der Verantwortlichkeit auf lokaler Ebene kommt es allerdings zu einer Konfrontation von Kanaken und Europäern. Die Streitigkeiten um Budgets, Posten und Projekte drohen sehr viel schärfere Formen anzunehmen. Die zunehmende Entfernung von der französischen Metropole, die Insellage sowie ein schwieriger politischer Kontext werden eine stärkere Kontrolle des Finanzstroms erfordern, der wohl weiterhin Neukaledonien mit Frankreich verbinden wird. Eine Annäherung Neukaledoniens an den Status Französisch-Polynesiens, wo die Tahiti zugestandene größere Autonomie vor allem Gaston Flosse (dem Präsidenten der polynesischen Regierung) und seinen Freunden nützt, käme einem Scheitern des umfassenden Projekts gleich.

Was auch immer in den kommenden fünfzehn oder zwanzig Jahren bis zur völligen Autonomie geschieht, die institutionelle Situation Neukaledoniens wird danach sehr anders sein als heute. Die Ablösung von Frankreich wird auch durch historische und kulturelle Überlegungen untermauert. So legitimiert die Präambel des Vertragstextes die Bildung eines eigenen Volkes mit der Anerkennung zweier Bevölkerungsgruppen: der (aus der Vorkolonialzeit stammenden) kanakischen Urbevölkerung und der zwischen 1853 und 1988 entstandenen Gruppe aus Europäern (und anderen Ethnien), die freiwillig oder als Strafgefangene ins Land kamen. Die Besonderheit dieser beiden Gruppen und ihr gemeinsames Schicksal auf ein und demselben Boden begründen ihr Recht, einen eigenen Nationalstaat aufzubauen. Allerdings müssen beide es wollen und sich dazu bereit finden. Denn wie Victor Tutgoro, der Sprecher des FLNKS, betont: „Der spürbar aufkommende kaledonische Nationalismus hat noch nicht zur Herausbildung eines kaledonischen Volks geführt.“

Diese Schwierigkeit hoffen die Verhandlungspartner durch eine Anbindung der künftigen nationalen Identität an die kanakische Kultur zu überwinden. So erklärte ein Mitglied des Politbüros der FLNKS bei der Präsentation des Vertragswerkes, „die kanakische Gesellschaft“ stehe im Mittelpunkt der Bestimmungen. Und tatsächlich stellt der Vertragstext einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen der autochthonen Kultur und der Berufung Neukaledoniens zur Schaffung einer Nation her. In entschieden ethnologischem Ton wird durch zahlreiche Bezugnahmen auf melanesische Gegebenheiten (heilige Stätten, Tabu-Orte, Territorien von Stammeshäuptlingen, traditionelle Wege) das Projekt an ein Fortbestehen der kanakischen Traditionen gebunden. Tatsächlich ist die melanesische Welt durch eine Vielzahl von Gebräuchen charakterisiert, die den Weißen meistens unbekannt sind. Der Gebrauch von lokalen Sprachen, die Komplexität der Beziehungen zwischen Familiengruppen oder die Prägung der einzelnen durch ihren traditionellen Status, all das bildet in Nouméa ebenso wie im Landesinneren die Grundlage einer ganz eigenen Lebensweise. Dabei sind diese Praktiken keineswegs starr oder rückständig, denn sie haben sich vor wie nach der Kolonialisierung unaufhörlich erneuert und verwandelt.

Seit dem 19. Jahrhundert hat die kanakische Gesellschaft Erfahrungen mit der europäischen Zivilisation gesammelt. Die Kanaken räumen gern ein, daß die französische Sprache, das Christentum, die politischen Parteien, das Verhältnis zum Staat, die Schule oder die neuen Konsumgüter eine Menge Umwälzung und Veränderung bedeuteten, aber auch die Möglichkeiten des Denkens und Handelns erweitert haben. Die sogenannten „traditionellen“ Praktiken konnten dabei sowohl verdrängt als auch ergänzt werden. Oder wie es Alfred Picanon in dem Film „Emma, ein Kanakenstamm heute“10 formuliert: „Das kanakische Volk steht mitten im Fluß und hat Mühe, das andere Ufer zu erreichen, aber umkehren kann es auch nicht.“

So ist die Welt der Kanaken nicht nur sehr gegenwärtig, sie hat sich auch erweitert: In der Politik, der Wirtschaft, ja selbst in der Religion schließt sie nun Strukturen ein (Parteien, Unternehmen, Verwaltungen, Kirchen), deren Autorität ständig gewachsen ist. Kanakische Abgeordnete, Angestellte, Lehrer, Priester, Pastoren, Verantwortliche in der Verwaltung, Politiker oder Gewerkschafter können nun auf Entscheidungen Einfluß nehmen, die zur Zeit ihrer Eltern nur die traditionellen „Notabeln“ zu treffen befugt waren. Die Stammesoberhäupter oder die Herren über Grund und Boden – jene, die ihn als erste in Besitz nahmen und deshalb „Hüter“ eines Territoriums sind – widersetzen sich bisweilen der Macht, die andere Kanaken im Namen privater oder öffentlicher Institutionen ausüben.

Der Einfluß der traditionellen Machthaber ist immer noch stark, wenn es sich um innere Angelegenheiten der kanakischen Welt handelt (Bündnisse, Landzuweisungen, Häuptlingsnachfolge), auf umfassendere politische und wirtschaftliche Bereiche läßt er sich kaum ausdehnen. Wenn in Fragen des Allgemeinwohls ein Kompromiß geschlossen wird, dann spielt vor allem die symbolische Dimension der traditionellen Macht eine wichtige Rolle. So hat kürzlich die allmächtige kanadische Firma Falconbridge die Erlaubnis, das Bergmassiv von Koniambo auszubeuten, gegen eine Art Muschelgeld aus den Händen des Clans erhalten, der traditionell Eigentümer des Landes war. Doch gleichzeitig hat der französische Staat eine Ausgleichszahlung von einer Milliarde Franc an die Firma Eramet, die juristische Eigentümerin, geleistet.

Kanakische Kultur im Umbruch

DIESE Dichotomie zwischen traditioneller symbolischer Autorität und tatsächlicher ökonomischer und politischer Macht wurde in den Verträgen von Nouméa durch das Projekt der Schaffung eines Senats der traditionellen Machthaber sanktioniert. Diese Versammlung soll nur beratende Funktion haben und sich ausschließlich auf Fragen der kanakischen Identität beschränken. Die Verantwortlichen aus den Reihen der Unabhängigkeitsbefürworter – von denen einige immerhin hohe traditionelle Rechtsstellungen innehaben – wollen bei politischen Entscheidungen völlige Freiheit gewahrt wissen. Trotzdem räumen sie der kanakischen Kultur, die Jean-Marie Tjibaou zum Motor seines politischen Handelns gemacht hatte11 , einen zentralen Platz ein. In diesem Zusammenhang war die Einweihung des nach Tjibaou benannten Kulturzentrums am 4. Mai 1998 ein zukunftsweisendes Ereignis. Mit der Einbeziehung der höchsten Verantwortlichen des französischen Staates in eine traditionelle Zeremonie am zehnten Jahrestag des Massakers in der Grotte von Ouvéa 12 wurde eine enge Verbindung zwischen der Anerkennung der kanakischen Kultur und der jüngsten politischen Geschichte Neukaledoniens hergestellt.

Gerade jetzt, da die kanakische Kultur zum unverzichtbaren Bezugspunkt erklärt wird, zeigen ihre aktuellen Formen, daß sie im grundsätzlichen Wandel begriffen ist. Die Jugend erfindet musikalische Formen, während gleichzeitig ein kanakisches Künstlermilieu entsteht. Diese Erneuerung der Kreativität, die seit Jahren durch die „Agence de développement de la culture kanak“ (ADCK) angeregt wird, schlägt Brücken zu anderen Bevölkerungsgruppen, die ebenfalls eine sehr lebendige künstlerische Tradition besitzen. Ausstellungen, Theateraufführungen, verlegerische Aktivitäten zeugen von einer ungewöhnlichen kulturellen Blüte. Entschlossen der modernen Kunst zugewandt, bietet das Kulturzentrum Tjibaou Neukaledonien das unerläßliche Instrument einer kulturellen Renaissance, die bereits in allen Ländern des Pazifiks wahrnehmbar ist. Ihre Originalität besteht darin, daß sie nicht nur die kanakische Kultur in ihren vergangenen und gegenwärtigen Formen, sondern gleichzeitig auch die städtische Kultur Kaledoniens umfaßt, deren Träger eine Jugend ist, die alle ethnischen Trennungen überwindet. Diese Entwicklung im Bereich der Künste auf dem Umweg über einen zunehmend anspruchsvolleren interkulturellen Dialog differenziert das in den Nachbarländern verbreitete Image eines Kaledoniens mit ausschließlich kanakischer Vergangenheit und Zukunft.

Dennoch besteht wirtschaftlich und politisch nach wie vor ein starkes Gefälle zwischen Europäern und Kanaken. Und die Gegensätze zwischen Nord und Süd, RPCR und FLNKS und zwischen hohen und niedrigen Einkommen prägen den Archipel, auch wenn innere Gegenläufigkeiten bestehen, die Anlaß zur Hoffnung geben. Die Südprovinz zählt 25 Prozent Kanaken und 18 Prozent Ozeanier, die zunehmend Raum in Nouméa erobern. In der Nordprovinz hat sich eine beträchtliche Anzahl von europäischstämmigen Bewohnern dem Einfluß des RPCR entzogen, um im Interesse aller tätig zu werden. In jedem der beiden geographischen und politischen Lager gibt es „trojanische Pferde“, die für Überraschungen sorgen und eine andere Lösung als die Zweiteilung des Landes bringen könnten.

Die Verträge von Nouméa eröffnen die Perspektive demokratisch geteilter Rechte und Verantwortlichkeiten. Doch dieses Ziel wird nur erreicht werden, wenn die Bevölkerung sich selbst um die Herstellung des Gleichgewichts bemüht. Die Aufhebung der Verfassung, wie das Abkommen sie vorsieht, durchbricht das übliche Szenario der französischen Entkolonialisierung. An die Stelle einer mörderischen Auseinandersetzung, auf die ein wenig ruhmreicher Abgang folgt, tritt die Vorstellung von einem gemeinsam vorbereiteten Übergang in eine neue Souveränität – eine Lösung, die Geschichte und Schule machen könnte.

dt. Sigrid Vagt

* Anthropologe und Studienleiter an der EHESS bzw. Mitglied des Komitees zur Gestaltung der Zukunft Neukaledoniens und Soziologe.

Fußnoten: 1 Nach jahrelangen Aktionen gewaltfreien Widerstands der kanakischen Bevölkerung gegen ihre Diskriminierung hatte die französische Regierung im September 1987 ein Referendum über die Unabhängigkeit Neukaledoniens durchgeführt, dessen Modalitäten jedoch heftig umstritten waren. Nachdem der FLNKS zum Boykott aufgerufen hatte, wurde das Ergebnis vor allem durch die auf der Insel lebenden Franzosen bestimmt: Bei einer Wahlbeteiligung von 59 Prozent wurden über 98 Prozent der Stimmen für den weiteren Verbleib bei Frankreich abgegeben. In der Folge kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Kanaken und französischer Staatsmacht. 2 Ein Referendum über die Selbstbestimmung soll im Lauf der vierten – fünfjährigen – Legislaturperiode des Parlaments (Congrès territorial) abgehalten werden. Sollten die Gegner der Selbstbestimmung gewinnen, findet zwei Jahre später eine neue Befragung statt. Danach können auf Verlangen eines Drittels der Kongreßmitglieder weitere Befragungen durchgeführt werden. 3 Der FLNKS hat sich zwischen April 1996 und Dezember 1997 jeder Wiederaufnahme von Diskussionen über die Zukunft Neukaledoniens widersetzt, solange die Gesellschaft „Le Nickel“ – deren Hauptaktionär der Staat ist – sich weigerte, der Nordprovinz ein Bergmassiv zu überlassen, das die von den Unabhängigkeitsbefürwortern gewünschte künftige Nickelgewinnungsanlage mit Erz versorgen sollte. Neukaledonien besitzt ein Drittel der Nickelvorkommen der Welt. 4 Le quotidien, die Zeitung, die er 1995 herausgebracht hatte, mußte letztes Jahr ihr Erscheinen einstellen, weil sie, wie andere vor ihr, durch dem RPCR nahestehende Anzeigenkunden boykottiert wurde. 5 Vgl. Dorothée Doussy, „Les squats de Nouméa. Des occupations spontanées à la conquête symbolique de la ville en Nouvelle-Calédonie“, Journal de la société des océanistes, Paris 1996. 6 Vgl. „La stratégie brouillée des indépendantistes en Nouvelle-Calédonie“, Le Monde diplomatique, Februar 1996. 7 Die Sofinor ist eine Holding, die die verschiedenen Geschäftsbereiche umfaßt, in denen die Unabhängigkeitsbefürworter investieren konnten, nachdem sie 1990 die Société minière Sud Pacifique (SMSP) von Jacques Lafleur übernommen hatten. In nur acht Jahren haben sie eine führende Stellung in den Sektoren Tourismus, Bergbau und Landwirtschaft errungen. 8 Vgl. Jean Freyss, „Economie assistée et changement social en Nouvelle-Calédonie“, Paris (PUF- IEDES) 1995. 9 Vgl. „Recensement de la population de Nouvelle-Calédonie“, ITSEE, 1996. 10 Ein Film von Christine Demmer, Regie Emilio Pacoull, La Sept/ Arte – Gaumont Télévision – RFO, 1998. 11 Vgl. Jean-Marie Tjibaou, „La Présence kanak“, Paris (Odile Jacob) 1996. Tjibaou, Vorsitzender des FLNKS, wurde 1989 ermordet. 12 Bei der gewaltsamen Befreiung französischer Geiseln aus der Hand kanakischer Separatisten werden am 22. April in einer schwer zugänglichen Grotte auf der Insel Ouvéa 25 Kanaken erschossen.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von ALBAN BENSA und ERIC WITTERSHEIM